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(c) Pester Lloyd / 04 - 2013   POLITIK / BILDUNG 22.01.2013

 

"Aktion Klebelsberg"
oder die Schule des Lebens

Staatskontrolle über Schulen in Ungarn: großes Chaos und kleiner Widerstand

Mit der kurzfristig erfolgten Verstaatlichung von zunächst 1.300 Schulen aus Kommunalträgerschaft per 1. Januar fühlen sich Schüler, Lehrer, Eltern und Kommunen von der Regierung überrumpelt. Die ist mit ihrer selbst erweiterten Macht selbst überfordert und richtet an den Schulen blankes Chaos an: hinsichtlich Weisungs- und Arbeitsrecht, Unterrichtsgestaltung und Zuständigkeiten. Dass so nebenbei die Zukunft der jungen Leute gefährdet wird, macht den Betroffenen Angst und zaghaft wächst  Widerstand...

Themenseite: Bildungsreform und Studentenproteste

“Wir hatten einen Traum... ein Diplom” war die Losung der Schüler bei den vorweihnachtlichen Protesten gegen die Hochschulreform. Nun werden die Mittelschulen und Gymnasien selbst “reformiert”, was die Fragen und das Chaos nicht verkleinert hat...

Das Klebelsberg Institut, benannt nach Graf Kuno Klebelsberg, einem Minister und Bildungsreformer der Zwischenkriegszeit, der mit der Kommunalisierung von Bildung und der sozialen Durchlässigkeit mit Hilfe von Stipendien genau das Gegenteil von dem anstrebte, was die Fidesz-Regierung heute betreibt, ist derzeit in aller Munde. Denn das Klebelsberg Institut, ein Tarnname, denn es ist eine reine Regierungsagentur, ist von einem Tag auf den anderen, es war der 1.1. 2013, zur mächtigsten Schulbehörde des Landes aufgestiegen. Die Übernahme ist Teil der sogenannten "Kommunalreform", die nichts weiter darstellt, als eine absolute Konzentration der Macht der Zentralregierung bis hinunter in das letzte Dorf.

Kompletter Durchgriff bis ins Thermalbad

Der Minister für die öffentliche Verwaltung, Tibor Navracsics, freute sich gerade über die "neue Effizienz" dieser durchgreifenden Strukturreform. Könne man doch nun "direkt überall den Regierungswillen umsetzen", denn zuvor konnte man schließlich nicht davon ausgehen, "dass ein oppositioneller Bürgermeister" das tut. Jetzt sei aber klar, "dass der nur für Kommunalangelegenheiten zuständig ist.", sprich er darf das jährliche Dorffest eröffnen, mehr aber nicht. Mit einem Teil der Schulden übernahm die Regierung in mehreren Schritten auch die Trägerschaft und somit die Hoheit über die Einrichtungen der Komitate und der Kommunen. Ob Krankenhäuser, Theater, Bibliotheken, Fach- und Hochschulen, ja sogar Schwimm- und Thermalbäder, auch die Wasserwirtschaft und andere Kommunalbetriebe gelangten so unter Kuratel der Zentralregierung, exekutiert durch 175 neue Regierungsbüros mit jeweils einem Regierungstreuen an der Spitze, darunter nicht wenige vom Volk abgewählte Bürgermeister und auch Mandatare aus dem Parlament, mit dem direkten Draht zur Macht.

Informationen häppchenweise: Hautpsache mehr "Heimatkunde"

Nun kommen auch die Schulen hinzu. Welche Konsequenzen hat das für Lehrer, Schüler, Eltern? Bei einem Besuch auf der Bildungsmesse "Educatio" am Wochenende hoffen wir auf tiefere Einsichten. Natürlich ist Rózsa Hoffmann, Staatssekretärin für Bildung, und eine der meistgehassten Politiker dieser Regierung (übrigens auch in den Regierungsparteien selbst) anwesend und gibt Journalisten und Schulleitern ein paar Häppchen: größere Aufmerksamkeit der Heimatkunde bitte, die Wichtigkeit des "Unterrichtungs von Moral und Ethik" (welcher, sagte sie nicht) sowie täglicher Sportunterricht. Sekundiert wird sie von der mächtigsten Schuldirektorin des Landes, der Klebelsberg-Chefin Aranka Pintér Marekné (Foto). Die
verordnete den Lehrern und Direktoren zum Auftakt der neuen Epoche gleich einmal einen Maulkorb.

Alles wird nun geregelt durch einen neuen "landesweiten, obligatorischen Lehrplan" und neue Lehrbücher. Wennschon, dennschon. Von dem neuen Rahmenlehrplan war schon bruchstückhaft zu hören, darin finden sich neuerdings auch die Herren Wass und Nyirö im literarischen Kanon, zwei Politfolkloristen mit offen völkisch, antisemitischem Einschlag. Letzterer war Abgeordneter der faschistischen Pfeilkreuzlerpartei im besetzten Siebenbürgen der 40er Jahre und damit politisch Verantwortlich für Massaker und Deportationen, die von dieser Partei auch schon ohne die deutschen Nazis betrieben wurden. Der Mann soll heute ein Vorbild für Heimatliebe und "Kulturtreue" sein, findet nicht nur die Ministerin, sondern auch der Parlamentspräsident, der öffentlich seiner Asche huldigte. Imre Kertész, den "fremdherzigen" Literaturnobelpreisträger hat man auf die Liste der literarisch Ausgezeichneten gesetzt, das soll genügen. Sein Werk ließ man unter den Tisch fallen, ist ja schließlich kein richtiger Ungar...

Alles wird besser, aber nichts wird gut

Mit der zentralen Steuerung soll an den Schulen alles besser werden, inhaltlich wie organisatorisch, das Klebelsberg Institut soll "die Schulleiter entlasten" und ihnen mehr Raum für ihre eigentliche Berufung als Pädagogen lassen, anstatt sich mit administrativem Kram aufzuhalten - so meldet es Staatssekretärin Hoffman, die nicht nur die Sympathiewerte mit der späten Margot Honecker teilt. Und die Fragen, die alle haben, beantwortet sie auch nicht: kein Wort zu den stornierten Lehrergehaltserhöhungen, den damit zusammenhängenden eigenartigen "Karriereschemen", kein Wort zu Arbeitszeiten, der Lage an den Sonderschulen und keinerlei Hinweis auf die Kompetenzverteilung zwischen Klebelsberg Institut und den regionalen Schulverwaltungen, die ja immer noch existieren.

Auf einer Pressekonferenz im Anschluss an die Monologe der ministeriellen Bildungsmächtigen, die dazu dienen sollten, "Fehlinformationen" auszuräumen, kommen vereinzelt kritische Fragen auf, natürlich von Provokateuren. So fragt eine Gymnasiastenvertreterin kess, wann denn die neuen Schulbücher fertig sein werden. Das ist schon unerhört, irgendwie. Eine Roma-Lehrerin äußert die Befürchtung, dass sozial benachteiligte Kinder bei der ganzen "Großreform" einfach unter die Räder kommen könnten, denn bei dem ganzen “nationalrevolutionären” Gerede und der Ausbildung der "neuen Menschen”, so ist ihr Eindruck, vergisst man einfach die Kinder in schwierigen Lebenssituationen.

"Die Schulleiter wissen nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist"

Rund um das Erzsébet-Gymnasium in Budapest hat sich ein Widerstandsnest von Lehrern einiger Schulen, vor allem Gymnasien gebildet und eine Petition fabriziert, die direkt gegen die Verstaatlichung der Schulen antritt. Die stellvertretende Schulleiterin, Péterffy Mátyás, versucht das Chaos zu erklären: "Es fehlt eindeutig an Informationen. Viele Schulleiter kennen sich mit der neuen Gesetzgebung nicht aus, manche wissen nicht einmal, wer der zuständie Bezirksverantwortliche des Klebelsberg Instituts ist. Was macht man heute, wenn eine Kollegin durch Schwangerschaft ausfällt? Wie geht man jetzt vor? Es gibt keine klare Handlungskompetenzaufteilung, und auch kein Buch mit Szenarien, an wen man sich als Schulleiter wenden soll. Früher konnte ein Schulleiter innerhalb seiner Einrichtung schnell eigenständig entscheiden. In den letzten Jahren gab es aber ständig Gesetzesänderungen, wodurch viele Schulleiter eingeschüchtert sind, weil sie nicht wissen wo vorn und hinten ist. Wir haben durch Gespräche mit anderen Lehrern und Institutionen gemerkt, dass wir mit unserer Ansicht nicht alleine sind. Deshalb haben wir uns entschlossen mit der Petition einen Anstoß zu geben."

"Uns Lehrern bleibt gerade keine Zeit für die Politik"

Die Schulleiterin eines Gymnasiums in Százhalombatta, einer Industriestadt etwa 50 Kilometer von Budapest entfernt, teilt diese Kritik, hat aber naheliegende Bedenken und Ängste: "Am liebsten würde ich mich sofort engagieren, aber dieses ganze politische Klima wirkt sich auch auf den Schulalltag aus. Als Schulleiterin habe ich eine Verantwortung gegenüber den Schülern. Wenn wir beispielsweise streiken würden, müssten wir trotzdem gewährleisten, dass die jüngeren Schüler eine Betreuung bekommen. Wo sollen sie denn morgens bleiben, wenn die Schule geschlossen ist? Außerdem habe ich keine Zeit, mich neben dem alltäglichen Stress noch um politische Belange zu kümmern. Die Schulbezirke geben uns unglaublich viele Aufgaben, das Halbjahr neigt sich dem Ende zu und wir konzentrieren uns auf die Prüfungsphase. Uns Lehrern bleibt gerade keine Zeit für die Politik. - Trotzdem freue ich mich über das Engagement der Erzsébetschule."

"Die Regierung wird jetzt vorsichtiger, es stehen Wahlen an..."

Ihr Mann, Schulleiter einer Berufsschule, ergänzt: "Man darf sich nicht täuschen lassen. Diese sogenannten Reformen dienen nur der Machtsicherung der FIDESZ-Partei. Aber die Politik ist in den letzten Monaten vorsichtiger geworden. Nachdem es letztes Jahr Skandale an Schulen gab, wo Schulleiter einfach gegen Fideszleute ausgetauscht wurden, hat die Regierung jetzt insbesondere mit Hinblick auf die Wahlen gemerkt, dass man sich nicht alles erlauben kann. Man wird vorsichtiger und lässt sich auf Verhandlungen ein."

So wie bei den Studentenvertretern, versucht sich die Politik auch bei den Lehrergewerkschaften im Prinzip "Teile und herrsche"... Während man mit drei Gewerkschaften eine vorläufige Einigung, viele sprechen von einem faulen Kompromiss, hinsichtlich der arbeitsrechtelichen Fragen erzielte, ruft die PDSZ, eine linksgerichtete und mit 3.500 Mitgliedern die kleinste der vier Lehrergewerkschaften zum Streik auf und steht nun auf verlorenem Posten.

Eltern sind gar nicht als Partner vorgesehen

 

Auch verschiedene Elterngemeinschaften, wie das Forum der landesweiten Elternorganisation der Vermittlung, die Elternvereinigung hörbeeinträchtigter Kinder und die Elternvereinigung für die Kinder, haben sich zusammengeschlossen. Die Eltern sind ebefalls zutiefst verunsichert über den Sinn einer Verstaatlichung der Schulen. Sie bemängeln die mangelnde Einbindung, die Konsultation, auf die sich diese Regierung doch sonst immer so viel einredet. In Wirklichkeit werden die Eltern gar nicht als Partner registriert: sie würden, so das Versprechen der Regierung "von den Veränderungen gar nichts mitbekommen."

Die "Option Ausland" wird immer häufiger erwogen

Die Schüler bekommen dagegen umso mehr mit: eine Gruppe von Schülerinnen aus der 11. Klasse spricht wild durcheinander: "Wir wissen gar nicht richtig, was jetzt genau verändert wird. Man schnappt Dinge aus den Medien auf, aber wieviele Punkte man für welches Studium benötigt, keine Ahnung." -"Ich habe Angst. Wir werden nicht richtig informiert." -"Wenn sich die Möglichkeit ergibt, gehe ich lieber ins Ausland." Eine Mutter ist mit ihrer Tochter aus Szeged zur "Education" gekommen und gibt folgendes Bild ab: "Meine Tochter interessiert sich für genau die Fächer, in denen die Stipendien für das Studium jetzt wegfallen sollen. Den neuen Studentenvertrag mit Bleibezwang würde ich meine Tochter nur unterschreiben lassen, wenn ihr damit ein sicherer Arbeitsplatz garantiert wird. Ansonsten diskutieren wir im Moment oft über die Option Ausland." Den meisten Besuchern ist die"Hochschulreform" ein Begriff. Auch dass es Mitte Dezember Proteste von Studenten und auch Schülern in verschiedenen Teilen des Landes gab, sitzt in den Köpfen. Fragt man allerdings nach den Veränderungen im Schulsystem, sind die meisten irritiert.

“Das lassen wir nicht zu...!” - Eine Schülerin des Erzsébet Gymnasiums in Budapest nimmt die Anti-IWF-Parole der Regierung in Beschlag und hält sie der Regierung vors Gesicht...

Schüler zwischen Kampf und Frust

Doch die Schüler werden aktiver: am Wochenende fand, ganz nach studentischem Vorbild, das erste landesweite Schülerforum am Baross Gábor Kollégium in Budapest statt. Um die einhundert Schüler versammelten sich, man hatte mit mehr gerechnet. Immerhin, nicht nur die Hauptstadt war präsent, auch Schülervertretungen aus Pécs, Szeged und Miskolc sowie Vertreter der zwei Studentenvereinigungen HÖOK und "Hallgatói Hálozat" (HaHa), dazu Hochschullehrer und die Presse nahmen teil. Wird es möglich sein, eine Schülerinteressengemeinschaft zu formieren, die von der Regierung anerkannt wird und ihr etwas entgegenzusetzen hat? Wie stellt man so etwas an?

Am Ende des Tages kommt bei der Versammlung noch wenig heraus, immerhin einen Namen haben die Schüler gefunden: "Középiskolai hálózat", kurz KIHA, in Anlehnung an die studentische und eher aktionistische HaHa, denn die offiziell anerkannte HÖOK kommt langsam in den Verdacht, sich von der Regierung weichklopfen zu lassen... "Wir sind die Zukunft!" ist die zentrale Losung der Schüler und Studenten. Bleibt die Mitbestimmung nur ein Traum?

Es fehlt an Erfahrung, Organisation, Finanzierungsmöglichkeiten und vor allem einem: der Unterstützung durch die Massen und nicht wenig auch an inhaltlicher Orientierung. Doch alles kann man lernen, es ist wie eine Schule des Lebens, denn das besteht auch aus ständigen Kämpfen, Selbstbehauptung und der Suche nach Kompromissen und Wegen. Der Gegner ist das immer perfekter abgestimmte System der Macht. So kann die "Aktions Klebelsberg", also die totale Regierungskontrolle über das Schulsystem, auch etwas Positives anstoßen und den subversiven, den kritischen Geist der Schüler wecken, der sie von der heutigen Ohnmacht vielleicht zur Selbstbestimmung führt.

Saskia Bücker / red.

Mehr zum Thema

Aktuelles über den angekündigten Lehrerstreik:
http://www.pesterlloyd.net/html/1303lehrerstreikdie5te.html

Verlauf der Studentenproteste im Dezember:
http://www.pesterlloyd.net/html/1250updatestudenten.html

Über die Verhandlungen der HÖOK mit dem Ministerium - im Interview mit Dávid Nagy:
http://www.pesterlloyd.net/html/1303interviewnagydavid.html

 

 

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