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(c) Pester Lloyd / 05 - 2013   WIRTSCHAFT 30.01.2013

 

Milliarden in Orbáns Vorzimmer

Zwischen Politik und Verteilungskampf: Ungarn und die EU-Gelder

Der Leiter des Amtes des Ministerpräsidenten, Staatssekretär János Lázár, hat am Dienstag Vorabmeldungen bestätigt, wonach die Nationale Entwicklungsagentur NFÜ, die bisher zentral für die Vergabe und Überwachung von EU-finanzierten Projekten in Ungarn zuständig war, aufgelöst und ihre Kompetenzen ab 2014 den einzelnen Ministerien übergeben werden, während die oberste Aufsicht bei ihm und damit unmittelbar beim Premier liegen wird.

76% Fehlleitung unter der Bajnai-Regierung?

Dabei machte er auch Angaben über den Stand der Abrufung der Mittel aus den EU-Fonds der Budget-Periode 2007-2013. Nach Lázárs Worten ist die Vergabe von EU-Geldern in den "letzten Jahren deutlich transparenter" geworden. Der Anteil "irregulärer" Vergaben lag 2010 angeblich bei 18%, 2011 nur noch bei 6%, während sie 2009, also unter der Vorgängerregierung von Gordon Bajnai, wie ausdrücklich betont wurde, 76% ausgemacht haben sollen. Eine genauere Aufschlüsselung an Beispielen oder Gerichtsakten nahm Lázár jedoch nicht vor, zumal die Vergabepraxis nach der Auskunft von Praktikern keineswegs so transparent gestaltet ist, wie behauptet. Dass es massivste Fehlleitungen gegeben hat und gibt, die EU-Milliarden als Beute im politischen Verteilungskampf angesehen werden, ist nicht nur ungarisches Allgemeinwissen, die Zahl für 2009 oder (wahrscheinlicher) jene für 2011 scheint aber dennoch eine rein politische zu sein, immerhin erwächst Bajnai zu einem ernst zu nehmenden Herausforderer von Premier Orbán.

85% abgerufen, aber erst 34% ausbezahlt...

Lázár bilanzierte weiter, dass bis Ende 2012 bereits 85% der EU-Mittel bis 2013 abgerufen wurden (jedoch noch nicht alle ausbezahlt), weitere 10% sind ausgeschrieben. Mit der Auszahlung von 1.040 Mrd. Forint (heute rund 3,5 Mrd. EUR) gab es im Jahre 2012 einen 8-Jahres-Rekord. In diesem Jahr sollen nochmals rund 1.500 Milliarden Forint (rund 5 Mrd. EUR) EU-Mittel abgerufen werden, "um die Wirtschaft zu stimulieren". Die 85 Prozent entsprechen einem Gesamtbetrag von 8.200 Milliarden Forint (heute rund 27,6 Mrd. EUR), Ungarn sei damit in einer "führenden Position" im regionalen Vergleich. Konkrete Verträge gibt es bisher jedoch nur für "65-70% Prozent", womit man sich "im Mittelfeld" bewege. Die 30%ige "Ausfallrate" liege im Durchschnitt, dennoch bemühe sich die Regierung um eine "substantielle Verbesserung". Diese Zahlen widersprechen deutlich den offiziellen Mitteilungen der EU, die bisher von einer Auszahlungsquote von 34% (per Juni 2012) spricht, eine Zahl, die damals auch von Enikö Földi, Vizestaatssekretärin im Ministerium für Nationale Entwicklung bestätigt wurde.

Staat will bei Kofinanzierung einspringen
- Vergaben ab 2014 nur mit "Arbeitsplatzquote"

"Gestrandete Projekte", so der Staatssekretär seien meist durch "Schwierigkeiten bei der Selbsteteiligung" verursacht, Begünstigte von EU-Fördergeldern müssen selbst rund 15% der Gesamtsumme selbst aufbringen. Deshalb wolle die Regierung in diesem Jahr rund 50 Mrd. Forint (ca. 170 Mio. EUR) bereitstellen, um solche Kofinanzierungen zu unterstützen, im letzten Jahr waren es 30 Mrd. Bis 15. Februar soll das Entwicklungsministerium eine "Liste von gescheiterten oder gefährdeten Projekten" vorlegen. Falls nötig, würde der Staat "dann als Kofinanzierer einspringen und das Projekt später dem Originalbewerber zum Management übergeben". Das sei nötig, um sicherzustellen, dass kein Geld in Brüssel liegen bleibt.

Das ab 2014 einzuführende "neue System" soll die Vergabe erleichtern und die Transparenz erhöhen. Die Koordination dafür unterliege dem Amt des Ministerpräsidenten, also ihm. Eine "zentrale neue Regelung" wird es u.a. sein, dass "mindestens 60% der Förderung für die ökonomische Stimulierung" investiert werden müsse und nur "der Rest für den Aufbau der Infrastruktur" verwendet werden darf. Wie eine solche Regelung, z.B. im Straßenbau mit Leben erfüllt werden soll, blieb offen. Lázár will so "die Schaffung von Jobs" in "den Vordergrund für alle Beteiligten" stellen.

Warum eine so hohe Absorbtionsrate von EU-Mitteln, 2012 immerhin in der Höhe von 3,5% des BIP, jedoch kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Ungarn anstößt, beantwortete Lázár mit seinen Ausführungen nicht.

Hälfte der Mittelständler sieht keine Chance auf EU-Gelder

Im September veröffentlichte die K&H Bank eine Umfrage unter 500 Chefs kleiner und mittelständischer Unternehmen zum Zugang zu EU-Fördermitteln. Die Ergebnisse strafen Lázár in vielen Bereichen lügen, denn 39% der befragten Manager finden, dass sich der Zugang zu den EU-Töpfen in der letzten Zeit erschwert oder deutlich erschwert hat, Anfang des Jahres fanden das "nur" 32%. Dabei ist auch bei den Managern eine wachsende Spaltung erkennbar, während die etwas größeren mittelständischen Betriebe die Lage etwas besser einschätzen als zuvor, hat sie sich für 40% der kleinen Betriebe und "Mikrounternehmen" (unter 5 Angestellte) für 40% deutlich verschlechtert. Weniger als die Hälfte aller Manager glaubt nicht, dass sie im nächsten Jahr "irgendeine Chance" haben, über Ausschreibungen an EU-Mittel heranzukommen, dabei sollte es gerade der kleine Mittelstand Ungarns "neues ökonomisches Rückgrat" bilden.

Premier Orbán (links) und sein vom Kettenhund
zum Flügeladjudant domestizierter Ex-Fraktionschef und heutiger Amtsleiter Lázár, im Nebenberuf Bürgemeister von Hódmezövásárhely.

Staatliche Stellen absorbieren größten Teil der EU-Mittel

Die Daten der Umfrage nahmen auch Vertreter des sogenannten Nationalen Wirtschafts- und Sozialrates (NGTT) auf, dem von der Regierung installierten Nachfolgegremium der abgeschafften Sozialpartnerschaft. Dabei kritisierten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite gleichermaßen, dass es vor allem die Umständlich- bzw. Unmöglichkeiten der erforderlichen Kofinanzierung ist, die vielen kleineren Unternehmen den Zugang zu EU-Mitteln verstellt. Da kleinere Betriebe in Ungarn fast nicht an Fremdkapital zu bezahlbaren Zinsen kommen, bleiben sie von vornherein von den meisten EU-Projekten ausgesperrt. Kommt der Staat in diesen Fällen, wie von Lázár angekündigt, nun "zu Hilfe", wäre man noch stärker von parteinahen Strukturen abhängig als zuvor.

Der ohnehin schon ungerechte Vorteil staatlicher Unternehmen und Strukturen, sich durch mehr bürokratische Manpower Vorsprünge bei der Informationsbeschaffung und den Beantragungsprodzeduren zu verschaffen, wird so vertieft. Hier ergeht auch die Aufforderung an die EU, bestimmte Fördersegmente nur der privaten Wirtschaft zukommen zu lassen, um die landeseigene Filzstruktur ausschalten zu können. Oft sei schon am Absender kenntlich, dass die beantragende Struktur ohne externe Subunternehmer gar nicht in der Lage wäre, das Förderprojekt auszuführen. Zu diesem passt auch die Beschwerde des Europäischen Rechnungshofes, dass der Staat größter Einzelbegünstigter bei den Agrarsubventionen ist, danach folgen zunächst etliche kommunale Strukturen, sodann erst die ersten Landwirtschaftsbetriebe, von denen jedoch viele wiederum Fidesz-Funktionären zuzuordnen sind. Mehr zum Thema Land-Grabbing.

Experten sehen die "neue Struktur" der Vergabe der EU-Mittel über die Ministerien mit der Oberaufsicht beim Ministerpräsidenten als problematisch und als ein weiterese Zeichen der Machtkonzentration in den Händen einzelner zu Lasten von Fachorganen an, also einer steigenden Politisierung der Geldvergabepraxis in Ungarn.

Bei neuem EU-Budget droht Ungarn 25% Kürzung

Hinsichtlich der neuen Budgetperiode 2014-2020 blüht Ungarn zudem noch ein zähes Ringen um den Status quo. Im Raum stehen Kürzungen der Strukturfonds um bis zu 25% bzw. 8-10 Mrd. EUR für die kommenden sieben Jahre, weil Ungarn, wie auch andere Staaten, die 2004 der EU beitraten, nicht mehr als besonders unterentwickelt gelten und die Gelder lieber noch schwächeren Mitgliedern bzw. Kandidaten zufließen sollen. Ungarn geht dagegen im Verbund mit anderen Verbündeten in einer "Initiative der Freunde Mitteleuropas" vor. Die ersten Verhandlungsrunden zwischen den großen Geldgebern der EU sind jedoch ohnehin gescheitert, nicht unwesentlich für die Verhandlungsposition Ungarns wird auch der Ausgang des Defizitverfahrens und das Handling der IWF-Frage sein. Die neu angedachte Vergabepraxis sollte, wenn es die EU ernst meint mit dem wirtschaftsfördernden Aspekt der Struktur-Milliarden, auch ein Thema von Verhandlungen sein, denn die Lázár-System verspricht alles mögliche, nur kein Mehr an Transparenz.

Doppelstandards bei ausländischen Investoren & "Ostöffnung"

Während man ideologisch die Abhängigkeit von IWF und EU ("neues Moskau", Orbán) bekämpft, vor allem aus wahltaktischem Kalkül, verlangt man dennoch den größtmöglichen Zugang zu den Finanzmitteln, während die KMU in Ungarn weiter unter überbordernder Bürokratie, Mangel an öffentlichen Investitionen, Kreditklemme, einer sprunghaften Steuerpolitik und - genauso wie unter den Vorgängern - unter einer ausufernden Freunderlwirtschaft leiden. Die Regierungsparteien haben, trotz prominent benamster Aktionsprogramme, hier noch nicht ein einziges ihrer Wahlversprechen eingelöst, wie auch die Daten hinsichtlich Investitionen und Arbeitsmarkt belegen.

 

Als zukunftsweisender wird von der gern in epochalen Maßstäben argumentierenden Regierung hingegen die neue "Ostöffnung" betrieben, bei der Ungarn nach "neuen strategischen Partnern" fahndet und diese in hoffnungsvollen Märkten wie der Türkei, Russland oder Indien auch in Diktaturen wie China, Saudi-Arabien, Aserbaidshan und sogar dem Iran findet.

Ansonsten fährt Ungarn hinsichtlich strategischer Investoren eine Doppelstrategie. Während das produzierende Gewerbe hofiert bzw. mit "strategischen Partnerschaften" in die neue "Planwirtschaft" eingebunden wird, wurden Banken, Handel, Energie und Telekom (also all jene, die aus Überlegungen der Marktteilhabe nicht einfach "auslagern" oder "abwandern" können) massiv mit Sondersteuern, der Immobiliensektor mit neuen Regularien belegt, wiederum mit den entsprechenden Auswirkungen auf Investitionen, Kreditvergabe und Stellenzahlen, von dem gewachsenen Misstrauen bei potentiellen Investoren gar nicht zu reden.

cs.sz. / red.

 

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