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(c) Pester Lloyd / 05 - 2013   GESELLSCHAFT 30.01.2013

 

Jeder steckt mit drin...

Die "Zigeunerfrage" in Ungarn - zwei Antwortversuche aus der Kulturszene

Auf der Suche nach differenzierter Betrachtung der komplexen und emotional aufgeladenen Thematik, wurden wir auf zwei Interpretationen innerhalb der Kulturszene Budapests fündig, die sich mit den Schwierigkeiten von Integration und Ausgrenzung der größten Minderheit in Ungarn befassen und die Fragen nach Schuld und Verantwortung der gesamten Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken

"Der Großteil der Zigeuner ist zum Zusammenleben nicht geeignet. Nicht geeignet, unter Menschen zu leben. Diese Zigeuner sind Tiere, und benehmen sich wie Tiere." - Das Statement des für seine Hasspredigten bereits bekannten Publizisten Zsolt Bayer Anfang des neuen Jahres sorgte in den letzten Wochen sowohl im In-, mehr jedoch im Ausland für Entsetzen. Doch die Regierung schweigt nicht nur, sondern entschuldigte und rechtfertigte die Äußerungen noch, weil sei die Meinung der Mehrheit spiegeln.

Szenenfoto aus: "Cigányok" am Attila-József-Theater in Budapest

Die Zigeuner wollen, sollen und dürfen nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazugehören. Die Frage ist aber auch: Können sie? (siehe dazu auch das aktuelle Armuts-Manifest von Bürgerrechtlern) Auf der Suche nach differenzierter Betrachtung der komplexen und emotional aufgeladenen Thematik, wurden wir auf zwei Interpretationen innerhalb der Kulturszene Budapests fündig, die sich mit den Schwierigkeiten von Integration und Ausgrenzung der größten Minderheit in Ungarn befassen und die Fragen nach Schuld und Verantwortung der gesamten Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken: zum einen der Film "Csak a szél" von Bence Fliegauf sowie das Theaterstück "Cigányok" von Kisztián Grecsó.

"Cigányok"- der Titel des Theaterstücks macht bereits klar, worum es gehen soll. Das Drama der bekannten Größe der ungarischen Kulturszene Krisztián Grecsó, welches man noch am 12. und 27. Februar im Budapester Katona József Theater anschauen kann, zeichnet ein schonungsloses Bild der Realität, gespickt mit tiefschwarzem Humor und tiefgründiger Gesellschaftskritik. Es orientiert sich an den Ereignissen der Roma-Mordserie in Ungarn 2008/09, dem zentralen Ereignis der Zuspitzung der Roma-Problematik, bei der sechs Angehörige der Roma-Minderheit brutal hingerichtet wurden.

Der erste Teil des Theaterstücks zeigt ein friedliches Zusammenwohnen zwischen Ungarn und Zigeunern auf dem Land. Dörfliche Alltagsprobleme nehmen das Bühnenbild ein. Eine fidele Trinkrunde in Dorf- Idylle wird illustriert, der Buchhalter ist schon fast besinnungslos, der Wirt wird von seiner Tochter ins Bett begleitet, während die Zigeuner munter musizieren. Am nächsten Morgen taucht der beste Zigeunergeiger der Ortschaft, Gyula, samt Frau und Kind auf und versucht das rivalisierende Bandoberhaupt, Dani, für eine Hochzeit mit seiner schönen Tochter Szidi gewinnen. Dani heiratet Szidi, obwohl sein Herz für die ungarische Bardame Dajna schlägt, mit der er seine Ehefrau prompt betrügt. Zu seinem Glück gerät der Ehebruch jäh in den Hintergrund des Geschehens, denn Gyula wird von einer maskierten Person ermordet.

 

Erst hier beginnt der zweite Teil der wahrhaftig tragischen Geschichte. Der Mörder soll gefunden werden. Alle Beteiligten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, vom Feuerwehrmann, Arzt, Dorfbewohner, Kneipenwirt, Polizist bis zum Journalist und nicht zuletzt der trauernden Zigeunerfamilie werden unter die Lupe genommen und in ihrem wahren Licht präsentiert. Es werden die Abgründe der Gesellschaft verdeutlicht, welche von Vorurteilen, Misstrauen und Missgunst geprägt ist. Jeder ist mit sich, der Wahrung des guten Rufs und dem größtmöglichen Eigennutzen beschäftigt. Es geht hierbei keineswegs darum, dass jemand zur Rechenschaft gezogen, beschuldigt oder angekreidet wird. Alle stecken mitten im Schlamassel. Das Stück zeigt auf, wie die Verkettung von fatalen Fehlentscheidungen und Missverständnissen die Situation beeinträchtigt. Ein Happy End gibt es nicht.

Eine andere Perspektive bietet der mit dem Friedenspreis der Berlinale und einem Silbernen Bären ausgezeichnete Film "Csak a szél". Das 2012 herausgekommene Filmdrama des ungarischen Regisseurs Bence Fliegauf wurde ebenfalls von der rassistisch motvierten Mordserie an ungarischen Roma vor einigen Jahren inspiriert. Allerdings setzt Fliegauf einen völlig anderen Schwerpunkt als Grecsó. Die Stärke des Filmes liegt nicht im Dialog zwischen den unterschiedlichen Konfliktparteien, er lässt den Polizisten nicht mit dem Zigeuner in einem Streit eskalieren. Stattdessen ist der Zuschauer dicht dran - er klebt einen ganzen Tag vor der Hinrichtung mit der nervös schwenkenden Kamera an den einzelnen Familienmitgliedern, fühlt sich gemeinsam mit ihnen bedroht, verängstigt, ausgegrenzt. Man steht morgens mit der Mutter in der kaputten Wohnung auf, füttert mit ihr den kranken Vater, begleitet die Tochter in den Schulalltag voll von Demütigungen, rennt mit dem Sohn durch den Wald auf der Suche nach Diebesgut. Viel erdrückender als die sichtbare Gewalt der Esklation erscheint hier die unsichtbare Gewalt des Alltags.

Eins machen sowohl Grecsós als auch Fliegaufs Darstellung ganz deutlich klar: Es gibt keinen Schuldigen, die Attentäter werden nicht gezeigt. Es werden nur überforderte Akteure, die vom jeweils Fremden abgestoßen sind, in den Blickpunkt gerückt. Jeder steckt mit drin.

Saskia Bücker und Zsófia Schmidt

Hintergründe zum Film "Csak a szél":
http://www.pesterlloyd.net/fliegaufdaten.pdf

Der Film als Feigenblatt für eine misslungene Romastrategie

Über die Romamorde 2008/09:
http://www.pesterlloyd.net/2010_32/32romamorde/32romamorde.html

Gespräch mit Antiziganismusforscher Markus End über den Romahass:
http://www.pesterlloyd.net/2009_52/52antiziganismus/52antiziganismus.html

Über den Fall "Bayer":
http://www.pesterlloyd.net/html/1303absolutionbayer.html

 

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