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(c) Pester Lloyd / 05 - 2013   POLITIK 01.02.2013

 

Richter im luftleeren Raum

Finaler Angriff auf das Verfassungsgericht in Ungarn

Die ungarische Regierung plant weitere drastische Maßnahmen, die Funktion und Wirkung des Verfassungsgerichtes schwer beschränken. Es ist ein weiterer Racheakt für unbotmäßige Urteile. Im Frühjahr soll ein neues Gesetz verabschiedet werden, das dem Verfassungsgericht für seine Urteile die Hinzuziehung von Sprüchen seit der Wende weitgehend untersagt. Damit werden 22 Jahre Rechtspraxis ausgelöscht, das VfG zu einer Stelle für konstitutionelle Orthograhpie degradiert.

Stühle unterm Allerwertesten weggezogen, das ungarische Verfassungsgericht

Die Folge: das Gericht könnte sich bei verfassungsrechtlichen Prüfungen nicht mehr auf Präzedenzfälle oder Grundsatzurteile, also gelebte und bewährte Rechtspraxis berufen, selbst wenn die verfassungsrechtlichen Bestimmungen von damals, auf denen diese Urteile aufbauen, mit dem heutigen Verfassungstext nicht kollidieren. Urteile wären dann nur noch anhand des Wortlautes der Verfassung von 2011 und seiner angeschlossenen Kardinalsgesetze möglich, was die Richter sozusagen im luftleeren Raum agieren ließe, da sie nur noch auf die Verfassung selbst Bezug nehmen könnten. Genau das ist auch das Ziel.

Vor allem aber würde das neue Gesetz Verfassungsklagen und -beschwerden schon auf dem Weg ins Gericht be- und verhindern, beziehen sich die meisten dieser Anträge ja notwendigerweise auf Präzedenzen, um davon abhaltende Vorgänge zu ahnden. Bei Lichte kann das Gericht dann Gesetze nur noch mit dem Wortlaut der neuen Verfassung abgleichen und der Regierung mit ihren Urteilen Hinweise geben, wie sie ihre neuen Grausamkeiten zu formulieren und zu implementieren hat, damit alles geschmeidig klingt und formal sauber läuft. Das VfG als Lektorat der Regierung.

Vom “lebendigen Recht” zum “toten Papier”

Als kleinen "Ausgleich" für diesen finalen Todesstoss für die Rechtskontinuiät und den Rechtszugang im Lande, hat sich die Regierung dazu durchgerungen, dem Generalstaatsanwalt sowie dem Chef der Kurie das Initiativrecht für Verfassungsklagen zuzusprechen, das bisher ausschließlich bei der Regierung, dem Präsidenten, einem Viertel der Parlamentsabgeordneten, dem Ombudsmann für Grundrechte oder dem Verfassungsgericht selbst liegt. Dieses "Zugeständnis" ist aber in doppelter Hinsicht wertlos, da sich die potentiellen Initiatoren dabei nun nicht mehr auf "lebendiges Recht", sondern sozusagen nur auf "totes Papier" berufen können - und beide sind von der Regierung bestallte und ihr nahestehende Personen.

Der stellvertretende Fidesz-Vorsitzende, Lajos Kósa, begründet das tiefgreifende Vorhaben frei heraus als direkte Reaktion auf die jüngsten Verhinderungen von Fidesz-Gesetzesinitiativen. Die Wählerregistrierung wäre von zentraler Bedeutung für die Regierung gewesen, so Kósa. Bereits der Justizminister kündigte die Einführung ja bis 2018 an, wobei man alle "verfassungsrechtlichen Hürden" dahin beseitigen wolle. Dennoch behauptet der Fidesz-Funktionär, die geplante Kastration des VfG würde zu mehr "Transparenz" führen und letztlich die "Demokratie stärken", beides zwei abgegriffene Phrasen des Propagandismus. Außerdem sei die Regierung dazu verpflichtet, das Verfassungsgericht erneut zu überprüfen und gefällte Entscheidungen, die unter der früheren Verfassung gemacht worden seien, im Lichte des neuen Grundgesetzes zu betrachten. Übersetzt: Urteile des Verfassungsgerichtes spielen für die Regierungspolitik keine Rolle mehr.

Offene Verhöhnung des Rechtsstaates

 

Dass Orbán Urteile des Verfassungsgerichtes, die ihm politisch nicht passen, nicht nur mit formalen Umgehungen, Formulierungstricks oder "Kompromissen" beantwortet, sondern mit Angriffen auf die Struktur und die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichtes - als letztem und oberstem Demokratiewächter - selbst, hat er mehr als einmal bewiesen (alle Links dau unter dem Text). Zunächst stockte er die Zahl der Richter auf, um das Verhältnis zwischen relativ regierungsnahen und unabhängigen Robenträgern zu verschieben, was bisher erste teilweise gelang, aber mit der Zeit immer günstiger für Orbáns Zwecke wirken wird. Sodann sorgte er mit seiner 2/3-Mehrheit dafür, dass das Verfassungsgericht keine Entscheidungen mehr fällen darf, "die das Budget" tangieren, wofür ein Urteil zur Besteuerung von Abfindungen im öffentlichen Dienst benutzt und mit dem "Gerechtigkeitssinn des Volkes", der über die Rechtsprechung zu stellen ist (so Fraktionschef Lázár damals wörtlich) begründet wurde.

Missliebige Urteile u.a. zur Zwangspensionierung von Richtern wurden mit geradezu höhnischen "Kompromissen" umgangen, das Verbot des VfG, Obdachlose per Gesetz pauschal als Kriminelle einzustufen und ihnen eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen, lieferte Orbán über eine "Nationale Konsultation" der Meinung der Stammtische aus, verbunden mit der geradezu hahnebüchenen Frage an die Bürger, ob "es Ihnen gefällt, wenn unkontrolliert fremde Obdachlose in Ihrer Straße leben". Das ist nicht nur Populismus, das ist Rechtsstaatsverhöhnung auf allerniedrigstem Niveau.

Die EU als konstitutioneller Totalversager

Dass Orbán ein Demokratieverächter ist, dazu ein rachsüchtiger Charakter, der jedes politische Widerwort als Angriff auf seine Person und Vision, sozusagen als Kriegserklärung gegen Ungarn selbst sieht, ist in den fast drei Jahren seines Regierens bewiesen worden und ein Umstand, aus dem vor allem die Bürger des Landes im kommenden Jahr Konsequenzen ziehen können. Dass aber die EU seinem Treiben, der Enteuropäisiserung des Landes, praktisch tatenlos zusieht, mit dem hilflosen Hinweis auf die mangelnden Zugriffsrechte bei bestimmten Themengebiete, zu denen auch das Verfassungsrecht und deren Praxis gehört (nur für all jene, die den Phrasen von der allmächtigen EU immer so gern auf den Leim gehen), ist eine wirkliche Schande, entspringt aber dem politischen Willen der EVP-Kameraderie, die Ungarn als Labor der Entrechtung von Menschen in Krisensituationen mit wachsender Begeisterung zusieht und es legitimisiert.

Die Form ist wichtig, nicht der Geist

Gerade erst hat der Europarat seine vollständige Sinnlosigkeit unter Beweis gestellt, als er seine "Zufriedenheit" mit der Medien- und Justizreform ausdrückte. Ungarn habe sich dazu bereit erklärt, eine kritisierte Regelung zu ändern, wonach der Chef der Richterkammer automatisch auf Lebenszeit im Amt bliebe, wenn kein Nachfolger mit 2/3-Mehrheit gefunden werden kann. Nun, nach langen Konsultationen, wird ihm in diesem Falle sein Stellvertereter kommissarisch nachfolgen. Damit ist für den Europarat schon wieder alles Paletti. Hauptsache der Form ist Genüge getan, der Geist ist nicht so wichtig. Orbán hält sich dabei den Bauch vor Lachen und weiß: er kann tun und lassen was er will. Auch mit dem Verfassungsgericht. Und er wird es auch tun.

Reaktionen: Nazis erteilen Demokraten Demokratieunterricht

Leider hat die gleichgeschaltete Nachrichtenagentur MTI bisher nur Reaktionen der Nazipartei Jobbik und der Gyurcsány-Sekte DK publiziert. Die allgemeine Fassungslosigkeit, ja Lähmung der aktuellen wie ehemaligen Verfassungsrichter und -rechtler findet im Stillen statt. Ex-Premier Gyurcsány sagt, man solle das Verfassungsgericht "in Ruhe" lassen, mit diesem Gesetzesentwurf wolle die Regierung "Rache nehmen", weil das Verfassungsgericht dem Machterhalt der Fidesz-Regierung durch Gesetzblockierungen Steine in den Weg legt. Selbst Vertreter der Jobbik meinen, dass man nicht alle Entscheidungen der vergangenen 20 Jahre wegwerfen solle. Zwar hätte die alte Verfassung "stalinistischen" Charakter, was natürlich Unsinn ist, aber das Gericht habe doch in den 20 Jahren zum Aufbau einer "demokratischen Rechtsordnung" Ungarns beigetragen. Somit seien die Rechtsurteile der vergangenen Jahre "wertvoll und bilden eine Grundlage für die Einsichtnahme". In Ungarn erteilen die Faschisten den Bürgerlichen Demokraten mittlerweile Demokratieunterricht, so weit ist es gekommen...

S.B. / red. / m.s.

Eine kleine Chronologie des Verfassungsrechtes in Ungarn seit 2010

Das VfG zur Wählerregistrierung:
http://www.pesterlloyd.net/html/1301stoppwahlregister.html

Das VfG zur Kriminalisierung von Obdachlosen
http://www.pesterlloyd.net/html/1246verfassungsgericht.html

Das VfG zur Zwangspensionierung von Richtern
http://www.pesterlloyd.net/html/1229verfassungrichterpension.html

Das VfG zur retroaktiven Anwendung von Gesetzen
http://www.pesterlloyd.net/2011_19/19abfindung2/19abfindung2.html

Das VfG verweigert ein Urteil zur Frage der Privaten Rentenbeiträge
http://www.pesterlloyd.net/2011_35/35verfassungsgericht/35verfassungsgericht.html

Das VfG zum Mediengesetz:
http://www.pesterlloyd.net/2011_51/51urteilmediengesetz/51urteilmediengesetz.html

Erhöhung der Richterzahl am VfG
http://www.pesterlloyd.net/2011_23/23verfassungsgericht/23verfassungsgericht.html

Entmachtung des VfG zu "Budgetfragen"
http://www.pesterlloyd.net/2010_43/43verfassungsgericht/43verfassungsgericht.html

Die neue Verfassung - Themenseite
http://www.pesterlloyd.net/2011_16/16verfassungThemenseite/16verfassungthemenseite .html

 

 

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