Ost-West-Drehscheibe
Pester Lloyd Stellenmarkt

Das Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 05 - 2013   POLITIK 01.02.2013

 

Vorgeführt

Ungarn hat die EU ausgespielt: Orbán in Brüssel

Die mit einiger Spannung erwartete Brüsselreise des ungarischen Ministerpräsidenten verlief ganz nach Plan, mit viel Raum für Gespräche und Selbstdarstellung. Im Zentrum stand das Topthema Defizitverfahren (EDP), das schon aus "moralischen Gründen" eingestellt gehört, aus budgetären sowieso, findet Ungarn. Orbán testete in Brüssel wieder einmal die Grenzen seiner Überzeugungskraft, umschiffte Konfrontationen geschickt und das Resümeé ist aus seiner Sicht durchaus passabel. Er führt seinem Volk die EU regelrecht vor...

Orbán kam mit breiter Brust nach Brüssel, hatte ihm doch der Europarat gerade in Medien- wie Justizfragen "befriedigende Antworten" bescheinigt. Überhaupt, so der allgemeine Duktus in Budapest, sollte die EU mehr von Ungarn lernen, denn vieles, was hier geschieht, würde über kurz oder lang auch auf "den Rest" Europas zukommen. Es ist zu fürchten, dass Budapest damit Recht haben wird.

Hatte alles längst zu Recht gerückt, außer die Fahne. Orbán in Brüssel bei Barroso...

Am Mittwoch verkündete Viktor Orbán in Brüssel, ganz lehrmeisterlich im Rahmen eines Vortrages am Breughel Institut (wo er eine Lektion in Sachen "Wie kann man den Euroraum retten" zum Besten gegeben hatte), dass die Europäische Kommission das Defizitverfahren gegen Ungarn, welches seit dem EU-Beitritt des Landes im Jahre 2004 in Kraft ist, aufheben sollte, da die wirtschaftlichen Leistungen des Landes in den letzten drie Jahren eine wirkliche "Erfolgsgeschichte" seien, die Aufhebung sei ein moralisches" Gebot fairer Behandlung. (Ungarn fühlt sich stets und überall von "Doppelstandards" umzingelt, beim EDP wird gern Spanien angeführt, was hier widerlegt wurde)

Orbáns Meinung nach ist die Euro- und EU-Krise vor allem eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit, der europäische Anteil in der Weltwirtschaft sei stetig gesunken. Eine grundsätzliche Veränderung des Wirtschaftssystems ist von Nöten, das aus einer "Wohlfahrtsgesellschaft eine Arbeitergesellschaft formt", eine der zentralen Orbánschen Thesen, die er immer wiederholt, eine Theorie, die in der eigenen Praxis zu Hause durch eine Art Neofeudalismus wiederlegt. Auch wenn die Gruppe derer, die an der neuen "Wohlfahrt" teilhaben kann, kleiner geworden ist, auf dem Gebiet der "Arbeitsgesellschaft" ging bisher nichts vorwärts. Beim Abbau der “Wohlfahrt” kommt man hingegen ganz prächtig voran, dazu sei dies verlinkt. Aber egal: Ungarn habe den Umschwung bewältigt und gehört zu den fünf Staaten, die ihre Verschuldung verringern können und deren Haushaltsdefizit gleichzeitig unter 3% geblieben ist, im dritten Jahr in Folge wohlgemerkt. Die EU sieht das anders, ihre fehlen die strukturellen Maßnahmen, die Nachhaltigkeit und Zuverlässigkeit. Auch wenn die Schuldenreduzierung als solche anerkannt wird, man hat doch gesehen, dass tiefe Griffe in die Trickkiste dazu nötig waren.

"Ungarn ist bemüht seine Wettbewerbsfähigkeit auszubauen, das Wirtschaftswachstum wird dieses Jahr einsetzen und in den Jahren 2014 und 2015 rapide wachsen", so Orbán. Auch das sehen Experten etwas bescheidener, 2013 sagen sie eine rote Null beim BIP-Wachstum voraus, weiter mögen seriöse Ökonomen noch gar nicht blicken wollen. Ein weiteres Thema in Brüssel war die Frage nach der Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank. Dazu haben wir alles Wichtige zwischen "konservativer und kreativer Strategie" sowie zur Kandidatenfrage in diesem aktuellen Beitrag für Sie aufbereitet.

In späteren Gesprächen mit Kommissions-Präsident Barroso war dann das Defizitverfahren an der Reihe. Orbán legte Barroso nahe, dass die Aufhebung des EDP für Ungarn keine politische oder wirtschaftliche Frage wäre, sondern eine Moralische. "Die Ungarn haben alles dafür getan, dass unsere Heimat aus dem Defizitverfahren gehoben wird", so der Ministerpräsident. Nachdem das Land sein Haushaltsdefizit unter den als Ziel gesetzen 3%  in den vergangenen 2 Jahren gehalten hat, was auch 2013 so bleiben wird, habe Ungarn die Aufhebung des EDV mehr als verdient. Politisch ist die Aufhebung vom EVP-dominierten Rat der Regierungschefs (sprich: Merkel) gewünscht, die Kommission muss nur noch die "richtige" Empfehlung abgeben, die Experten darin sträuben sich aus fachlichen Gründen, doch die Politiker dürften bis April, wenn die finale Empfehlung zu geben ist, die Oberhand bekommen.

Barroso begrüßt an dieser Stelle die erreichte Haushaltkonsolidierung Ungarns, weist aber darauf hin, dass die besonderes Augenmerk auf die Qualität der Änderungen gelegt werden muss. Das Engagement der Ministerpräsident hinsichtlich des Defizits, welches weiterhin unter 3% bleiben soll, ist, so Barroso, bewundernswert. Bei anderen Streitpunkten umgehen Orbán und Barroso derzeit die direkte Konfrontation, bezüglich des obligatorischen Ruhestandes von Richtern, hat sich Ungarn an den Europäischen Gerichtshof gewendet, um seinen "Kompromiss" nach den Urteilen des eigenen VfG sowie des EuGh überprüfen zu lassen, nach dem Mediengesetz und gar seiner Wirkung schreit längst kein Hahn mehr, die neu eingeleiteten Verfahren wegen Sondersteuern bzw. der Telefonsteuer sind rein technische Fachfragen. Alles Routine.

Während seines Brüsselaufenthaltes traf sich der ungarische Ministerpräsident auch mit Herman van Rompuy, dem Präsidenten des Europäischen Rates. Noch vor dem Gipfeltreffen aller Staats- und Regierungschefs der EU nächste Woche, wurde bereits die Position der Ungarn im Finanzrahmen 2014-2020 besprochen, u.a. auch mit Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlamentes und einem der wenigen konsequenten Kritiker des Orbánschen Demokratieabbaus. Alle Details zu Ungarn und den EU-Milliarden sowie der Angst vor Einbußen ab 2014 entnehmen Sie bitte diesem aktuellen Beitrag.

 

Die Gespräche und Debatten liefen, nach außen, für Orbán reibungsfrei und ergeben vor allem für das Wahlvolk im Inland (dafür machte Orbán diese Reise) ein durchaus positives Bild von Ungarns Standing in der EU. Es gibt keinen Grundsatzstreit mehr, Orbán hat sich durchgesetzt und zeigt jetzt den anderen sogar Lösungen auf. Und: er demonstrierte, wie man die EU gegen sich selbst ausspielt, führt sie mittlerweile vor. Er kennt nun die Regeln und Grenzen und spielt mit dem "Verein" nach Belieben. Barroso hatte ein paar aufmunternde Worte parat, Orbán genießt die Anerkennung, wie ein Honigkuchenpferd strahlt er in die Kameras. Derweil setzte man in der Heimat zum finalen Todesstoß auf die Verfassungsgerichtsbarkeit an.

Der Oppositionsführer Attila Mesterházy von der MSZP gewinnt, so sagt er anhand der Schilderungen Orbáns zur Wirtschaft, zusehends den Eindruck, dass Orbán in einem ganz anderen Land leben muss, aber bestimmt nicht in Ungarn. Mesterházy irrt. Orbán lebt im gleichen Land, nur in einer anderen Welt. Und wenn dies auch eine Traumwelt ist, hat sich doch die Mehrheit entschlossen, mitzuträumen. Der Vorteil von Träumen ist, dass jeder seinen eigenen haben kann. Im Tiefschlaf. Bis zum bösen Erwachen.

zs.sch. / red.

 

Möchten Sie den Pester Lloyd unterstützen?