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(c) Pester Lloyd / 06 - 2013   OSTEUROPA 04.02.2013

 

Atomisiertes Referendum

Politstreit um neue Atomkraftwerke in Bulgarien - neue AKWs in ganz Osteuropa

Eine Volksbefragung in Bulgarien über die Zukunft der Atomkraft wird im Nachhinein zur Farce. Eine absurd niedrige Wahlbeteiligung stellt deren Legitimation in Frage und hintergründig wird die Abstimmung und deren Ergebnis für den Wahlkampf instrumentalisiert. Ein Blick über den Tellerrand Bulgariens zeigt, dass das Land voll im Trend liegt: Denn das trifft auch für Atomkraftwerke in Osteuropa zu.

Die ewige Investruine, das AKW Belene in Bulgarien. Ebenso langwierig: der Protest von Aktivisten dagegen. Das Volk lockt die Thematik kaum hinter dem Ofen hervor. Das erste wirkliche Referendum in Bulgarien seit Menschengedenken verkam so zum politischen Spielzeug.

Die erste Volksbefragung in Bulgarien seit der Wende 1989 drehte sich um das Thema der Kernkraftwerke. Am letzten Januarwochenende wurde das Volk befragt, ob Bulgarien durch den Bau eines neuen Atomkraftwerkes die Atomenergie entwickeln soll. Dabei stimmten ca. 60% der Wähler mit „Ja“, während sich knapp 40% dagegen aussprachen. Die Wahlbeteiligung lag bei nur knapp über 20 Prozent, womit ein bindendes Ergebnis hinfällig ist. Eine verpflichtende Umsetzung des Ergebnisses hätte eine Wahlbeteiligung von mindestens 60% vorausgesetzt, was meilenweit verfehlt wurde. Durch das Knacken der 20%-Hürde muss das Thema aber nun erneut im Parlament thematisiert werden. Die Volksbefragung war durch eine Unterschriftensammlung, initiiert von den oppositionellen sozialistischen Partei (BSP), ermöglicht worden.

Regierungspartei GERB vs. Oppositionspartei BSP

Trotz der allgemeinen Formulierung der Frage, ging es bei der Volksbefragung eigentlich um das Kernkraftwerk Belene an der Donaugrenze zu Rumänien, dessen Bau noch unter sozialistischer Herrschaft im Jahre 1987 begonnen wurde. Der Fall des Eisernen Vorhangs brachte die Arbeiten jedoch zum Stillstand. Die aktuelle Frage nach dem Weiterbau kam dabei nicht zum ersten Mal auf den Tisch. Fakt ist, dass sich die Minderheitsregierung der GERB-Partei um Ministerpräsident Bojko Borissow gegen diese Idee stellt. Deren Hauptargument ist, dass sich die Baukosten statt der ursprünglich prognostizierten vier Milliarden Euro nun auf zehn Milliarden belaufen würden - eine Zahl, die das ärmste EU-Land nur schwerlich stemmen kann und sollte. Der russische Staatskonzern Rosatom und die BSP widersprechen diesen Angaben natürlich.

Die Interpretation der Volksbefragung könnte gegensätzlicher kaum sein. So wertete BSP-Chef Sergei Stanischew das Ergebnis als Sieg und die bezeichnete Unterstützung der bulgarischen Bürger als „eindeutig“. Das ca. 80% der Wahlberechtigten zu Hause blieben und somit das 60%-Ergebnis pro Entwicklung der Atomenergie faktisch nur die Meinung von 12 % aller Wahlberechtigten repräsentiert, scheint hier völlig egal. Auch die Minderheitsregierungspartei GERB wertete das Ergebnis als Sieg und vertrat dabei ebenfalls eine interessante Vorstellung von Demokratie. Getreu dem Motto „keine Antwort heißt nein“ erklärte Innenminister Zwetan Zwetanow: „80 Prozent der Bulgaren sind nicht zur Wahl gegangen, was zu bedeuten hat, dass sie dagegen sind.“

Fakt ist, dass das Thema Kernkraftwerk Belene wieder auf die Agenda des Parlaments kommen wird. Wie Ministerpräsident Borissow bereits verkündete, wird sich seine Partei dann erneut gegen das Projekt aussprechen. Das heißt allerdings nicht, dass GERB generell gegen Atomenergie ist. So favorisiert Borissow statt den Weiterbau von Belene vielmehr eine Erweiterung des einzigen bestehenden Kernkraftwerkes Kosloduj, wo ein neuer 1000-Megawatt-Reaktor entstehen soll.

Alles nur Wahlkampf

Letzten Endes scheint die Volksabstimmung eindeutig ein Politikum, denn im Sommer dieses Jahres sind Parlamentswahlen. Während sich die Regierung mit dem Kostenargument durch finanzielle Vernunft profilieren möchte, sieht BSP im Weiterbau von Belene positive Effekte. So würden die dort geplanten zwei 1000-Megawatt-Reaktoren den Strompreis eher senken und auch für mehr neue Jobs sorgen, als dies bei einer Erweiterung des Kernkraftwerkes Kosloduj der Fall wäre. Interessant ist hier, dass BSP enge Kontakte zum russischen Staatskonzern Rosatom nachgesagt werden. Dessen Tochterfirma Atomstroyexport wurde 2006 von der damaligen Regierung, die von der BSP angeführt wurde, mit dem Fertigbau von Belene beauftragt.

Kernenergie in Osteuropa auf dem Vormarsch

Generell bestätigt sich mit der Atomenergie-Initiative Bulgariens der Trend in Osteuropa. Insbesondere die Zahlen aus Russland sind natürlich beeindruckend, wo aktuell 33 Atomreaktoren in Betrieb, 11 im Bau und 14 in konkreter Planung sind. Außerdem gibt es Absichtserklärungen für die Errichtung von 30 weiteren Reaktoren. Im April 2009 hatte Wladimir Putin die Atomkraftoffensive weiter stark befürwortet. Auch in der Slowakei und der Ukraine befinden sich derzeit jeweils zwei Atomreaktoren in der Bauphase. In Rumänien, Slowenien, Tschechien und Ungarn befinden sind neue Reaktoren in konkreter Planung. Tschechien hat dabei beispielsweise das Ziel bis 2030 50% der Stromproduktion aus Atomenergie zu erzielen.

 

Auch Ungarn setzt voll auf die „saubere Energie“. Obwohl das einzige Atomkraftwerk in Paks rund 45% des Stroms im Lande erzeugt, sollen zwei Blöcke modernisiert und zwei neue hinzu gebaut werden. Das Argument aus Budapest: durch den Atomausstieg Deutschlands entsteht eine Exportlücke, Ungarn könnte zum "regionalen Player" aufsteigen (aktuelle Entwicklungen dazu hier). Andere Energiequellen, vorneweg erneuerbare Energien, bleiben damit natürlich auf der Strecke. Schlussendlich noch Polen, ein Land, welches über keine Kernkraftwerke verfügt – noch. Denn im Jahr 2022 bzw. 2023 sollen die ersten beiden Atomkraftwerke mit insgesamt sechs Reaktoren in Betrieb genommen werden.

Uralte Meiler werden zwar abgeschaltet, was der Bevölkerung als Sicherheits verkauft wird, aber nur dort, wo gleichzeitig neue entstehen. Die Fragen nach Atommüllentsorgung (und deren wirklichen Kosten), nicht nur möglichem, sondern einfach nicht auszuschließendem technischen oder menschlichen Versagen sowie die Gefahr von Naturgewalten wie Erdbeben werden beschwichtigt. Die Atomlobby und die ihr angeschlossene Politik beruhigt mit den immer gleiche Argumenten, vor allem dem mit billigem Strom – bis es wieder knallt. Rein rechnerisch gibt es ja ohnehin nur alle 1000 Jahre einen Super-GAU: 1979 Harrisburg, 1986 Tschernobyl, 2011 Fukushima...

Christopher Schulz

 

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