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(c) Pester Lloyd / 08 - 2013   POLITIK 20.02.2013

 

Kardinalsfragen

Oppositionspartei "Gemeinsam 2014" stellt erste Teile des Wirtschaftsprogrammes für Ungarn vor

Der ehemalige Ministerpräsident Gordon Bajnai und sein damaliger Finanzminister Péter Oszkó haben erste Eckpunkte ihres Wirtschaftsprogrammes als Teil der Wahlkampagne von "Gemeinsam 2014" vorgestellt. Neben den Themen Arbeitsplatzschaffung, Einkommen, Steuersystem, Investitionen, öffentliche und private Schulden steht vor allem die Wiedererlangung von Vertrauen im Mittelpunkt. Doch die Kardinalsfrage bleibt offen: wie will man das in dem von der Verfassung verbarrikadierten Land umsetzen?

Bajnai und Oszkó 2009. Schaffen sie es nochmal an die Staatsspitze?

Die Analyse des Status quo, die naturgemäß stets zu einem vernichtenden Zeugnis für die Orbán-Regierung führte, war bisher die Hauptübung, wenn sich die führenden Köpfe der Bajnai-Stiftung "Heimat und Fortschritt" öffentlich zu Wort meldeten. Nun, am Montag, hat Ex-Finanzminister Oszkó, im Hauptberuf Wirtschaftsprüfer, sich auch zu konkreten Plänen geäußert, nachdem Bajnai am Wochenende nochmals eine Generalabrechnung vornahm:

Ungarn liegt auch im regionalen Schnitt weit zurück, der Bezug auf Euro-Krise und "sozialistisches" Erbe sei längst nicht mehr als eine Ausrede, eine Phrase, die vom Versagen der Orbán-Regierung ablenken soll. Orbán habe das Land politisch isoliert, die mangelnde Kompetenz in Wirtschaftsfragen das Vertrauen von Bevölkerung und Wirtschaftstreibenden im In- und Ausland erschüttert. Das Wirtschaftswachstum ist entgegen allen Trends rückläufig, das Budget unberechenbar, das Rentensystem auf Pump errichtet und nicht aufrecht zu erhalten, die Arbeitslosigkeit steigt, die Menschen verlassen in Massen das Land, 500.000 sollen - nach Daten des Wirtschaftsministerium - seit 2010 Ungarn den Rücken gekehrt haben, Arbeit hat sich verteuert, die Investionen gehen zurück und so auch die Industrieproduktion. Bajnai bezichtigte bereits in früheren Reden, dem Mittelstand, auf den alle so viel Hoffnung setzen, regelrecht das Rückgrat gebrochen zu haben.

Bajnai vertritt dabei den Standpunkt, dass die heutige Regierung die Probleme, vor denen Ungarn 2010 stand "korrekt identifizert hat", aber "zu allen die falsche Antwort" gegeben habe. Auch in diesem Jahr sei ein fundamentales, also nicht nur ein statistisches Wachstum undenkbar, die von der Politik gestellten Rahmenbedingungen gäben dieses einfach nicht her. All das hat in erster Linie auch soziale Auswirkungen, zumal die Einkommensschere extrem auseinandergegangen ist. Die Mindestlohnempfänger würden heute real 7,7% weniger Einkommen haben als unter der vorherigen Regierung, da nutzt die schönste Mindestlohnanhebung nichts, wenn diese nicht bei den Betroffenen ankommt.

Es brauche daher ein intelligentes politisches Management, nur das könne Investorenvertrauen wieder herstellen und so letztlich den Wirtschafts- und Arbeitsmotor wirklich in Gang bringen. Dazu will eine Regierung Bajnai ab 2014 einen Wachstumspakt auch mit den Banken schließen, denn es reiche nicht, sie abzuschöpfen und über die Zukunft im Unklaren zu lassen. Für Investoren soll es Anreize geben,  Sozialpolitik soll gerecht und rechtsstaatlich geschehen, Leistungen aus Versicherungen (Rente, Arbeitslosengeld, Gesundheitswesen) müssten garantiert werden, was sie heute nicht sind, sondern - wie im Falle der nurmehr 3monatig gezahlten Arbeitslosengelder - willkürlich verändert werden.

Einige konkrete Maßnahmen aus dem sehr umfangreichen Programm, an dem 30 Ökonomen monatelang gearbeitet haben, so Bajnai,  werden sein:

- ein gerechtes Steuersystem: Abschaffung der Flat tax (16% auf alle Einkommen) und Einführung eines Freibetrages für Mindestlohnempfänger, der bis zum Erreichen des Durchschnittslohnes schrittweise verringert wird sowie eines mehrstufigen Steuersystems, mit höheren Steuersätzen ab 400.000 Forint Monatsbrutto. Den Fehler einer übertriebenen Progression wie vor 2010 will man aber nicht mehr wiederholen, so soll der Spitzensteuersatz nicht das 1,5fache der durchschnittlichen Steuerquote übersteigen, danach würden rund 8-10% der Einkommensbezieher in die höchste Klasse fallen, was die Freibeträge weitgehend gegenfinanziert
- ein verlässliches und effizientes Steuersystem: Steuerarten, die weniger als 20 Mrd. Forint pro Jahr einspielen sind abzuschaffen (Verwaltungsaufwand), Steueränderungen dürfen nicht mehr früher als 60 Tage nach Beschluss in Kraft treten, Steueränderungen werden nur noch einmal im Jahr durchgeführt
- der Haushaltsrat bekommt seine alte Unabhängigkeit zurück
- Familienfreibeträge nur noch für Familien bis zu einer Einkommensobergrenze

Lob hatte Oszkó für die Senkung der arbeitgeberseitigen Lohnnebenkosten, wie sie im "Arbeitsplatzschutzprogramm" der Regierung niedergelegt sind, jedoch müsse man dies noch mehr auch auf die unteren Einkommen und nicht nur auf bestimmte Gruppen (Karenzmütter, Ältere, Berufsanfänger) fokussieren.

 

Bajnai und Oszkó betonten, dass in den nächsten Wochen das gesamte, umfangreiche Wirtschaftsporgramm veröffentlicht werde und als Diskussiongrundlage dienen soll. Mit Spannung darf die Öffentlichkeit aber vor allem auch auf die politischen Programmpunkte schauen, denn die Art und Weise wie sich "Gemeinsam 2014" die angekündigte "Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaat" vorstellt, - das zentrale Thema eines Regierungswechsels - wird mit darüber entscheiden, ob die wirtschaftlichen Maßnahmen überhaupt umgesetzt werden können, denn fast alles, was Oszkó am Montag erwähnte, einschließlich der Steuersätze, ist heute entweder direkt oder über sog. Kardinalsgesetze Teil der Verfassung und von einer einfachen absoluten Mehrheit im Parlament überhaupt nicht änderbar, ganz abgesehen davon, dass sämtliche Schlüsselstellen und Kontrollinstanzen - ebenfalls durch die Verfassung abgesichert - Burgen gleich von Fidesz-Parteisoldaten gehalten werden.

Wie man dieses zentrale Problem der Regierbarkeit angehen will und ob der Gesamtplan dann beim Wahlvolk auch verstanden und angenommen wird und dieses das Risiko eines erneuten "totalen" Machtwechsels eingehen will oder ob Manipulierbarkeit und Resignation die bestimmenden Stimmungen im Lande bleiben, das werden die "Kardinalsfragen" der nächsten Monate bis hin zur Wahl sein.

red.

Wie rettet man Ungarn? Fragen an Gordon Bajnai

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