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(c) Pester Lloyd / 09 - 2013   GESELLSCHAFT 28.02.2013

 

Das "Zigeunerproblem" ist das Europaproblem

Teures Alibi: zum Stand der "Romastrategie" in Ungarn und der EU

Im Rahmen der Konferenz „Minderheitenfragen in Ungarn und den Nachbarländern“, die in der vergangenen Woche vom Donau-Institut der Andrássy Universität Budapest ausgerichtet wurde, kam auch die Situation der Roma in Ungarn und Europa zur Sprache. Die dort aufgeworfenen Fragen bewegten uns zu nachfolgenden Thesen, die erklären sollen, warum - trotz einiger positiver Ansätze -, die sogenannte Romastrategie - national wie EU-weit - wirkunglos bleibt. Wie kann man es besser machen?

Ein Lächeln, das später meistens in Verzweiflung endet. Ein Roma-Mädchen in Ungarn.

Integration? Koexistenz? Assimilisation?

Nur 21% der Roma, die in Ungarn leben, haben Arbeit, gegenüber 51% der Mehrheitsbevölkerung. Sie leben in der Mehrzahl in extremer Armut, was nicht selten zu kriminellen Handlungen, aber auch zu schlechter Gesundheit, mangelnder Bildung und Bildungsbereitschaft und geringerem Zugang zu Ämtern, öffentlichen Leistungen und Rechten führt. Die weit verbreitete - und allgemein akzeptierte - Ghettoisierung lässt Parallelwelten entstehen, die eine "Integration" unmöglich machen. Realistischerweise müsste daher eine Art Koexistenz im Rahmen von zu gewährleistenden Mindeststandards angestrebt werden, denn zu mehr wird es - mittelfristig - nicht reichen, wobei auch die Frage ist, ob mit "Integration", gerade im Falle Ungarns, Tschechien, Slowakei, nicht mehr das Wort "Assimilsation", also die Aufhebung jeder ethnischen Eigenheit, gemeint und das eigentliche Ziel ist.

Minderheit und Mehrheit scheitern an sich selbst zuerst

Der Zustand der Volksgruppe, die in Ungarn rund 7% der Gesamtbevölkerung ausmacht, liegt nicht nur an der mangelnden Selbstorganisation und der - wegen obiger Gründe - fehlenden Fähigkeit der Betroffenen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sondern auch daran, dass ein Großteil der "weißen" Mehrheit die Roma ihres Landes weder als ihrer Nation, noch der menschlichen Rasse zugehörig betrachtet. Die Kategorisierung als "Bestien", die kein Recht auf Menschenrechte hätten, seitens eines Fidesz-Propagandisten, war nur die Spitze des Eisberges gewachsener Intoleranz. Rassismus von Seiten der Roma, ist nur eine logische Kehrseite dieser Medaille. Dass beide Seiten am jeweils Anderen und an sich selbst scheitern und dass das grundsätzliche Verständnis für die Lage und Bedürfnisse des anderen geschaffen werden müssen, ist eine Prämisse, die nicht gegeben ist, ohne die es aber nicht vorwärts gehen kann. Den Anderen auch als anders zu akzeptieren, scheint eine der schwersten Übungen menschlicher Zivilisation zu sein.

Jobbik sattelt auf Vorurteile auf, Regierung taktiert

Dass "Zigeunerkriminalität" als solche nicht existiert, sondern ein soziales Problem, also "Armutskriminalität" ist, Roma daher nicht als Kriminelle geboren werden, ist - auch - in Ungarn nicht vermittelbar. 78% der ungarischen Bevölkerung unabhängig der sozialen und parteilichen Zugehörigkeit glauben an eine rassische Veranlagung zum Verbrecher. Darauf sattelt vor allem die Neonazi-Partei Jobbik auf, die mit militanten Aufmärschen und Forderungen nach Lagern, Todessstrafe, Kindesentzug und Zwangssterilisation, Hass und Angst verbreitet und massenkompatibel geworden ist. Die Mordserie 2008/09 mit sechst Toten fand im direkten Kielwasser solcher Aufmärsche statt. Die Regierung folgt vielen der Jobbik-Themen durch Law-and-Order-Politik, auch aus wahltaktischem Kalkül, auch wenn man jede ideologische Nähe vehement, wenn auch stets gleichlautend und ohne praktische Folgen bestreitet.

Keine Vertretung, keine Selbstorganisation

Dass in dieser Gemengelage zwischen politischer Instrumentalisierung, prekärer Notlage und mangelnder Bereitschaft auf beiden Seiten, die Karten für eine "Nationale Romastategie", die eine gemeinsame Anstrengung aller erfordert, also ohne Empathie für das Projekt und das Gegenüber nicht funktioniert, ist offensichtlich. Entsprechend sieht die Bilanz aus. Die in der "Romastrategie", abseits vom Erreichbaren, stur verordnete "Integration" scheitert bereits an der fehlenden gleichen Augenhöhe. Ethnische Minderheiten in Ungarn sind weder im Parlament, noch in den Kommunen, also weder legislativ noch exekutiv repräsentiert. Was als "Selbstverwaltung" verkauft wird, besteht lediglich in der Aufsicht über ein paar Bibliotheken, Kulturhäuser und manchmal auch Schulen, mit den dazugehörigen Geldern, was aber in der Vergangenheit mehr zu Missbrauch denn zum Aufbau einer selbstbewussten Identität oder Vertretung geführt hat.

Der Mangel an Eigenverantwortung und Selbstbewußtsein wird von Law-and-order-Vertretern regelmäßig als Vorwurf geführt. Das Volk wolle gar keine Lösung, sei dazu nicht in der Lage. Abgesehen davon, dass das eine Argumentation ist, die auf die Indianerpolitik Nordamerikas zurückweist, ist es gänzlich unmöglich, einer Gruppe von Menschen Pflichten abzuverlangen, wenn man ihnen die grundlegendsten Rechte verwehrt. Der Aufruf zur Eigenverantwortung bleibt davon jedoch unbenommen.

3 Völker, über 30 Parteien und ein paar Regierungs-Roma

Der Staat verfährt bei den ungarischen Roma nach dem Umbrella-Prinzip, „die Roma“ erfasst man als homogenes Volk, obwohl es in Ungarn schon einmal drei verschiedene Gruppen gibt, die sich durch Geschichte, Kultur und vor allem auch Sprachen unterscheiden. Das spiegelt sich auch in der Parteienlandschaft der Roma wider. Es gibt über 30 Parteien, die die Zersplittertheit unter ihnen deutlich macht. Diese Parteien sind oft kurzlebig und fragmentiert und schaffen es kaum, Wähler für sich zu gewinnen. Schwache organisatorische Fähigkeiten und fehlende Mittel hindern daran und natürlich gibt es auch in diesen Parteien, wie bei den großen, Amtsmissbrauch, persönliche Bereicherung.

Die Regierung hat also schlicht keinen zentralen Ansprechpartner und hat sich dafür ihren eigenen geschaffen. Der Chef der "Nationalen Selbstverwaltung" ist ein Fidesz-Parteimann, der alles, was mit der "Nationalen Strategie" zusammenhängt, nur in den höchsten Tönen lobt, ebenso wie das die regelrecht zur Schau gestellten Roma-Vertreter des Fidesz im nationalen und europäischen Parlament betreiben.

Verantwortung an Brüssel abgegeben

Mit der - während der EU-Präsidentschaft seitens Ungarn - laut in Europa posaunten "Romastrategie" lagerte man die eigentliche Verantwortung an die EU aus, ohne dass sie dort ausreichend wahrgenommen wird. Die Finanzierung von Modellprojekten hängt so oft von den Geldflüssen aus Brüssel ab, ihre Einstellung oder ihr Scheitern wird ebenfalls an Brüssel abgeladen. Es gibt einige Bemühungen, Roma-Eliten in den Staatsdienst zu befördern und Berufsanfängern den Start zu erleichtern. Auch diverse Frauenprogramme, Fortbildungen, Stipendien werden vergeben, nach dem Gießkannenprinzip und "so lange der Vorrat reicht". Allerdings zäumt man hier das Pferd von hinten auf, denn die meisten Roma schaffen es ja nicht einmal bis zu einem Pflichtschulabschluss. Dafür gab und gibt es allerdings noch kein Konzept, dafür eine harte Ablehnungsfront bei Kommunen und "weißen" Eltern, auch den Lehrern. Die schulische Segregation ist so fest verankert wie eh und je.

Die einzige flächendeckende Maßnahme mit Massenwirkung sind die Kommunalen Beschäftigungsprogramme, die sich als "Aufsichtsmaßnahme" zu bewähren scheinen, zumindest in dem Maße, wie es das Law-and-Order-Bedürfnis der Mehrheitsbevölkerung befriedigt. Die Maßnahmen selbst sind perspektivlos, unterbezahlt und unnütz und werden
nicht selten von rassistischen Begleitumständen flankiert, die auch amtlich gestützt sind. Ja, in der Umsetzung greift man sogar auf die "Kooperation" mit Bürgermeistern von Jobbik zurück und findet nichts dabei, da sie ja gewählt sind. Siehe dazu Minister Balog im Interview.

Auch andere Arme leiden unter neuer Ständepolitik

Bis jetzt zeigt die "Strategie", die das Problem also als Roma-, nicht als Armutsproblem angeht, logischerweise keinen messbaren Erfolg, denn auch für die anderen Armen, die nicht zu den Roma zählen, hat sich die Lage unter der derzeitigen Regierung beim Einkommen (Flat tax, Sozialkürzungen, Verbrauchssteuererhöhungen) und der rechtlichen Stellung (Gesetze gegen Obdachlose) deutlich verschlechtert. Immerhin wurde sichergestellt, dass für alle Gruppen eine Krankenversicherung gewährleistet ist, was zwar toll klingt, allerdings noch längst nicht den ausreichenden Zugang zu ärztlicher Versorgung bedeutet. Das grundlegende Problem der Massenarbeitslosigkeit und damit des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der Roma bleibt aber weiterhin bestehen und hier sind auch keine Maßnahmen erkennbar, die das ändern würden. Im Schnitt hat man in der prekärsten Gruppe mit 3 EUR am Tag auszukommen.

Es fehlt das Monitoring, das Konzept, die Kontrolle, es fehlt das menschliche Minimum

Im Moment ist die nationale Romastrategie ein kostspieliges politisches Alibi und eine reine Projektionsfläche für Jubelmeldungen aus dem Ministerium Balog. Als solche war sie auch gedacht, auf diesen Seiten haben wir immer wieder auf die strukturellen Mängel aufmerksam gemacht: mangelhaftes Konzept, kein stringentes Monitoring und keine direkte Kontrolle seitens der EU was Geldflüsse und Umsetzung betrifft. Es fehlen klare Zielvorgaben, die regional heruntergebrochen werden können, es fehlen Ansprechpartner, also Strukturen zur Selbstbestimmung und -vertretung - und es fehlt bei der Mehrheit der von politischer Seite involvierten jeder Ehrgeiz, ja sogar das notwendige menschliche Minimum, das den "Objekten" der Strategie den Status als "Nächster" einräumen würde.

EU-weit definierte Mindeststandards müssen - auch gegen die Regierungen - durchgesetzt werden können

Was wäre nun die Lösung? Zunächst die Einsicht, dass es "die Lösung nicht gibt". Die nationalen Strategien gehören auf EU-Ebene nicht nur vorgetragen, sondern dort gebündelt, finanziert, durchgeführt und kontrolliert. Die EU-Strategie darf nich einfach die Summe der nationalen Strategien sein, sondern muss selbst das zu erreichende Minimum vorgeben. Das EU-Parlament beschließt daher die Ziele, die eine Erreichung von sozialen und gesellschaftlichen Mindeststandards definieren auf den Gebieten: Pflichtschulen, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt, Selbstverwaltung, rechtliche Gleichstellung (Rechtsrahmen), Gleichberechtigung (auch in der Gemeinschaft selbst). Die EU-Kommission stellt die Mittel bereit und organisiert die Kontrollstruktur, wobei zu gewährleisten ist, dass die Projektleiter vor Ort nicht aus dem gleichen Land kommen, in denen die Projekte umgesetzt werden. Der Rat hält sich besser aus allem heraus, denn dort sitzen wiederum die politisch motivierten nationalen Regierungen, also der institutionalisierte Parteien-Egoismus.

Romaparlamente auf Zeit?

Parallel dazu wäre zu überlegen, ob die Roma in jedem Land ihre eigenen Roma-Parlamente als Minderheitenvertretungen auf Zeit wählen, aus denen eine Art "Regierung" hervorgeht, die als Ansprechpartner für die EU fungieren können. Diese können dann über Projekte verhandeln, die über die Erreichung der Mindeststandards hinausgehen und sich dabei als Interessensvertretung profilieren, die über das Projektende hinausreichen.

Das "Zigeunerproblem" ist das "Europaproblem"

 

Dass zur Umsetzung einer Gesamtstrategie, sollte es die jemals geben, grundlegende strukturelle Veränderungen auch in der EU selbst notwendig werden, die auch einen Machtzuwachs mit mehr Durchgriffsrechten umfassen, was heute politisch - eben wegen nationaler Egoismen und der mannigfaltigen Manipulation des Publikums - kaum durchsetzbar ist, ist offensichtlich und stellt das eigentliche Hindernis dar. Das "Zigeunerproblem" ist also ein "Europaproblem", mithin unser Problem.

Wenn die EU nicht in die Lage versetzt wird, menschliche Mindeststandards, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien, notfalls auch gegen den Willen nationaler Regierungen durchzusetzen, diese Standards also nicht garantieren kann, ist sie keine "Gemeinschaft". Um das aber zu können, muss sie selbst erstmal zu einem Gebilde werden, das Mindeststandards der Demokratie erfüllt, daran wird sie wiederum von den nationalen Regierungen gehindert - und die wissen auch warum. Ein Teufelskreis, der nicht nur die Roma sondern alle Berührungspunkte zwischen "national" und gemeinschaftlich berührt, dessen Bestand aber die europäischen Roma als stärkste Leittragende trifft.

 

Unsere Berichterstattung über aktuelle Ereignisse, HIntergrundberichte, Reportagen und Analysen umfasst mehrere hundert Beiträge. Unter dem Stichwort `Roma` finden Sie alles weitere.

red. / m.b. / m.s.

 

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