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(c) Pester Lloyd / 10 - 2013   BUDAPEST 08.03.2013

 

Urbi et Orbán

Regierung von Ungarn übernimmt Schulden von Budapest und die Stadt gleich mit

Am Freitag unterzeichneten der ungarische Ministerpräsident, Viktor Orbán und der Budapester Oberbürgermeister, István Tarlós, einen Vertrag, der unter anderem die Übernahme von 60% der Schulden der Hauptstadt durch den Staatshaushalt zum Inhalt hat. Auch die Sanierung der öffentlichen Verkehrsbetriebe BKV sowie diverse Stadtentwicklungsprojekte werden in dem Plan "Budapest 21" festgehalten. Doch der hat einen sehr hohen Preis.

Er versucht, Haltung zu bewahren, aber mit dem Handschlag ist die relative Entmachtung des Budapesters OB´s Tarlós besiegelt. Links Premier Orbán, nun auch Stadtkämmerer von Budapest. Foto: MTI

Zentralisierung der Finanzen = Zentralisierung der Macht

Mit der Übernahme von rund 104 Milliarden Forint, ca. 350 Mio. EUR direkt bei der Stadt Budapest angesiedelter Verbindlichkeiten findet die Zentralisierungspolitik der Orbán-Regierung einen neuen Höhepunkt, gleichzeitig, so OB Tarlós wird "eine Legende begraben", wonach er und Orbán nicht miteinander könnten. Zuvor hatte die Zentralregierung bereits die Schulden der Komitate sowie - gestaffelt nach wirtschaftlicher Dynamik - 40-60% der Verbindlichkeiten von über 3.000 Kommunen übernommen. Dieser Befreiungsschlag, der "die Kommunen in eine neue, freie Zukunft" führen soll, wie die Regierungs-PR nicht müde wird, zu feiern, hat freilich seinen Preis.

Zunächst werden die Schulden nicht bezahlt, sondern lediglich in ein Seitenbudget des Staatshaushaltes geschoben, das nicht in die offizielle Bilanz des Staatshaushaltes aufscheint, sondern weiter unter "Kommunen" läuft, sonst würde es sämtliche Defizitgrenzen sprengen. Die Anleihen und Kredite von Budapest, den Komitaten und der Kommunen werden hier genauso refinanziert, wie die Schulden des Zentralhaushaltes, durch die Bündelung jedoch profitiert man in Summe von besseren Konditionen, als wenn jeder Dorfkämmerer einzeln bei der Hausbank vorsprechen muss. Der Nachteil: wankt das Refinanzierungssystem Ungarns wegen steigender Zinsaufschläge oder einem stark fallenden Forint, z.B. wegen neuerlicher Verbalausflüge von Zentralbankchef György "Matman" Matolcsy, wankt das gesamte System und der Schuldenberg, der über der Regierung zusammenbrechen kann, ist noch größer als er zuvor schon war.

Allerdings ist sich die Regierung bewusst gewesen, dass ein Zahlungsausfall, z.B. in Esztergom oder Pécs oder vielleicht Hódmezövásárhely von den internationalen Märkten als "partieller Staatsbankrott" gewertet worden wäre, da ist es schon besser, man kontrolliert die Dinge gleich selbst. Letztlich ändern sich also nicht die Schulden, sondern nur deren Verwalter und die Haftung wird auf alle Steuerbürger ausgedehnt.

Duchregieren mit 175 Regierungskommissaren

Dass sich aber der Staat finanziell um die Hauptstadt kümmert ist, z.B. mit Blick auf so notleidende Hauptstädte wie Berlin ein Beispiel, das man immerhin auch dort in Betracht ziehen könnte. Nicht so beispielhaft ist hingegen die andere Seite des "Deals", der, wir zitieren wieder die offizielle PR, den Kommunen "Flügeln verleihen" soll. Denn mit den Schulden übernahm Orbáns Regierung und Partei auch sämtliche Institutionen der Komitate und all jene von Interesse bei den Kommunen, ob
Krankenhäuser, Bibliotheken, Landestheater, Kulturhäuser, über 1.500 Schulen, Stadtwerke, ja sogar Sportvereine und Kindertagesstätten sowie auch die Hoheit über kommunale Beteiligungen an Unternehmen. Das Ziel dahinter ist mit dem Stichwort: durchregieren überschrieben.

Ein
Netzwerk von 175 neu eingerichteten, im ganzen Land platzierten Regierungsbüros, mit entsprechend orientiertem Personal besetzt, soll das Geschehen im Lande auf dem kurzen Dienstweg lenken. Den Bürgermeistern oder Stadtversammlungen wird - stimmt die Parteizugehörigkeit - die Verwaltung von Einrichtungen überlassen, die keine besondere Wichtigkeit genießen, wobei sich die Regierung selbst dort ein Rückrufrecht behält. Ansonsten können die Regierungskommissare, ausgestattet mit Mitteln und Einfluss, bei der jede Räterepublik erblasst, auf dem Lande schalten und walten wie sie wollen, sie haben die Personal- und Verwaltungshoheit und sie bestimmen, in Absprache mit Budapest, welche Institutionen sterben, welche leben dürfen und wie. Man kann sich ungfähr ausrechnen, wie es einer nicht von Fidesz-Leuten regierten Gemeinde oder gar Stadt zukünftig ergeht. Schaut man nach Esztergom, sieht man, wie es selbst Fidesz-regierten Städten ergehen kann...

EU-Mittel und Belohnungssysteme: Direktzugriff auf jedes Projekt

In diesem Zusammenhang ist es nicht unwesentlich, zu erwähnen, dass ab 2014 sämtliche Vergaben von EU-Fördergeldern, also Milliarden, nicht mehr über die Nationale Entwicklungsagentur abgewickelt werden, sondern über die "zuständigen Ministerien", wobei die
Oberaufsicht direkt beim Amt des Ministerpräsidenten angesiedelt wird. Dies bedeutet, dass - zugespitzt formuliert - zukünftig die Genehmigung für den Bau eines jeden Kindergartens, die Renovierung eines Theaters und sogar die Errichtung eines Brunnens auf dem Dorfplatz von den Beziehungen des Ortsvorstehers zu seinem zuständigen Regierungskommissar und dessen Zugang zum Premierminister abhängen kann. Lehrer können entlassen oder versetzt werden, der Lehrplan ist ohnehin schon ein Produkt des nationalen Dirigismus geworden. Umgekehrt kann das "Kanzleramt" nun umstandslos in die Regionen und Kommunen hineinregieren, schon heute hat man sich, z.B. über die Sportförderung oder den Nationalen Bodenfonds eine Art Belohnungssystem für verdiente Parteifreunde und die Verwandschaft geschaffen, dass mit der "Kommunalreform" in praktisch wasserdichte Formen gegossen wurde.

Ohne den Landesvater geht künftig gar nichts mehr

Für Kommunen in Fidesz-Hand stehen gute Zeiten an und auch die Hauptstadt kann natürlich nun erstmal aufatmen. Ein Effekt, den das Volk die im Hintergrund werkelnden Mechanismen eines klassischen Einparteienstaates, eines Zentralstaates mit einem absolut agierenden, weil kaum kontrollierbaren Herrscher an der Spitze, zunächst ausblenden lässt.

Immerhin hat Budapest jetzt Luft für eine Vielzahl anstehender Projekte. Neben der Metrolinie 4 sind das die Renovierung des Burgbasars, der Umbau des Kossuth Platzes (nach zentralen Regierungsvorgaben), nichz zu vergessen auch das Museumsquartier auf “Weltniveau”, die "Neugestaltung" der Uferpromenanden, wozu auch die lukrativen Anlegerechte und eine Neuverteliung des fetten Tourismuskuchens gehören. Auch ein neues, "state-of-the-art"-Stadion für Fußball hätte Orbán gern, Wünsche, die ihm Tarlós nun erfüllen kann, wenn nicht muss.

Die Auftragsvergaben laufen, weil bei fast allen Projekten massiv EU-Mittel eingesetzt werden, auch hier sämtlich über Orbáns Schreibtisch und den seines zuständigen Flügeladjudanten Lázár. Für Orbán ist dieses Steuerinstrument natürlich auch parteiintern sehr effektiv. Wer nicht spurt, gar eigene Ambitionen zeigt, bekommt den Bannstrahl zu spüren. Gleichzeitig wird "dem Volk" das Gefühl vermittelt, dass ohne den omnipotenten Landesvater eigentlich gar nichts geht. Das mag so manchen von Überlegungen abschrecken, in seinem Heimatdorf einmal einen anderen Kandidaten zu versuchen.

Föderale Strukturen, Selbstverwaltung, die Entwicklung regionaler Dynamik, gebunden an Interessenssphären der Einwohner, all das ist mit der "Kommunalerform" - wiewohl in Ungarn nie sonderlich ausgeprägt - endgültig beerdigt worden. Die Zugehörigkeit zur richtigen Schicht, dem richtigen Stand wird ausschlaggebendes Kriterium. Auch das ist das Merkmal eines Ständestaates und könnte nicht weiter von dem, was mit "Europa der Regionen" umschrieben ist, entfernt sein. Zugeben muss man jedoch, das System ist konsequent und sehr clever angelegt.

Magen mit Flügeln? Auf dem Weg zur Weltmetropole

 

Orbán pries die Vereinbarung, an der man lange gearbeitet habe, um kurz-, mittel- und langfristige Entwicklungen zu ermöglichen. Budapest als Zentrum des Landes, als wirtschaftliche Triebkraft brauche eine gute Entwicklungsbasis, sonst gehe nichts vorwärts. Diese Basis sei nun geschaffen. Auch einige Metaphern ersparte er den Anwesenden bei der Zeremonie nicht, wobei zu hoffen ist, dass Budapest nicht genauso verunglückt wie diese: so sei Budapest nicht nur der Bauch des Landes, der Magen, der sich alles einverleibe, sondern auch ein Vogel. Dieser bekam nun Flügel. Ein Magen mit Flügeln also? Wie auch immer. "Budapest 21" schicke die Stadt endlich ins neue Jahrhundert und mache sie mit den großen Metropolen der Welt wettbewerbsfähig. Wir wissen nicht, ob Orbán dabei eher an New York, Moskau oder Mexico City dachte oder vielleicht auch an das Paris des 17. Jahrhunderts oder Rom im Jahre 64...

cs.sz. / red.

 

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