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(c) Pester Lloyd / 10 - 2013   BULGARIEN 04.03.2013

 

Wenn das Volk aufbegehrt

Bulgarien zwischen Volksbesänftigung und politischer Weichenstellung

Nachdem das bulgarische Volk die Regierung zum Sturz brachte, ist die politische Elite darauf bedacht, das Land zu stabilisieren. Das Volk hat auf der Straße längst mehr gefordert als niedrigere Strompreise, es will mehr direkte Demokratie und eine neue Verfassung. Ob dessen zentralste Forderung umgesetzt oder wieder nur taktiert wird, bleibt offen, aber Bulgarien könnte nun vor einem Umbruch stehen.

Was als Protest gegen horrende Strompreise und das Monopol in diesem Sektor begann und letztendlich zum Rücktritt der Regierung führte, ist nun zum Protest gegen alles und jeden geworden. So richtet die Wut der demonstrierenden Bulgaren mittlerweile u.a. gegen die niedrigen Einkommen, die Arbeitslosigkeit, gegen die schlechte Gesundheitsversorgung sowie gegen das Banken- und Rechtssystem. Dass die politische Elite und deren taube Ohren für die Begehren des Volkes ebenfalls weiterhin im Fokus der Proteste stehen, scheint hierbei quasi schon trivial.

Bulgarisches Volk fordert neue Verfassung

Dabei werden die Forderungen werden immer radikaler. So sind Rufe nach einem Systemwechsel in Form einer neuen Verfassung nicht nur laut, sondern mittlerweile allgegenwärtig geworden. Diese neue Verfassung soll den Grundstein dafür legen, dass alles, was die Bulgaren bis heute auf die Straße trieb, so wahrscheinlich wie möglich der Vergangenheit angehört. Transparenz und Bürgerbeteiligung sind die Schlagworte! So soll es nach Meinung der Demonstranten eine 50-prozentige Bürgerbeteiligung in allen Regulationsgremien des Staates geben. Darüber hinaus wird die Implementierung des Mehrheitswahlrechts gefordert und damit eine Abkehr vom bisher existierenden Verhältniswahlrecht. Weitere Forderungen sind die Bildung eines öffentlichen Expertenrates, die Einberufung eines nationalen runden Tisches, welcher sich mit konkreten Anliegen des Volkes beschäftigen soll, sowie die Veröffentlichung aller geheimen Verträge im Energiesektor, deren Aufhebung und abschließend die Sanktion der daran beteiligten Politiker.

 Die politische Ebene: Auflösung des Parlaments und Neuwahlen als Lösung

Die dringlichsten Aufgaben für Bulgariens Staatsvertreter ist allerdings erst einmal die Verwaltung des Landes übergansweise sicherzustellen. Staatspräsident Rossen Plewneliew suchte hierfür vergangene Woche allerdings vergeblich nach einer Partei, welche die Bildung einer neuen Regierung übernimmt. Wie von der aktuellen Verfassung vorgeschrieben, beauftragte er damit am Montag zunächst die GERB-Partei, welche dies aber noch am selben Tag ablehnte. Am Mittwoch das gleiche Spiel, dieses Mal mit der sozialistischen Partei (BSP), welche am zweitstärksten im Parlament vertreten ist. Deren Vorsitzender Sergej Stanischew gab das Mandat zu Regierungsbildung mit den Worten zurück, das Land brauche eine Regierung, die die Probleme der Menschen löst. Auch die dritte Partei, die der Präsident mit der Regierungsbildung beauftragen will, hatte sich bereits im Vorfeld positioniert. So lehnt auch die Partei Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) das Mandat zur Regierungsbildung ab.

Damit tritt der Fall ein, auf den die Parteien abgezielt hatten, nämlich die Auflösung des Parlamentes und Neuwahlen. Dies ist verfassungsrechtlich so bestimmt für den Fall, wenn das Mandat zur Regierungsbildung von drei Parteien hintereinander abgelehnt wird. 
Auch der einberufene Konsultationsrat für Nationale Sicherheit unter Rossen Plewneliew sprach sich einstimmig für Neuwahlen aus. Als Termin nannte der Präsident dafür den 12. Mai.

Als nächstes wird Plewneliew nun eine Interimsregierung aufstellen, die die kommenden Parlamentswahlen vorbereiten soll. Dieser soll ein Öffentlicher Rat als Beratungsorgan zur Seite stehen, in dem Repräsentanten der protestierenden Bürger, ein breiter Kreis von Bürger- und Branchenorganisationen sowie Gewerkschafts- und Arbeitgeberorganisationen vertreten sein sollen. Damit wäre eine Forderung des Volkes, zumindest zeitweise, schon erfüllt. Plewneliew stellte klar, dass der Öffentliche Rat weder eine Schattenregierung, noch eine Art Parlamentsersatz sei.

Die wichtigen Gesetzesänderungen legte der Präsident in die Hand der neu zu wählenden Volksversammlung.

Kompletter Rücktritt beim Strompreis-Regulator DKEVR

Doch nicht nur auf Regierungsebene muss wohl personell improvisiert werden. Wie erst am 27. Februar bekannt wurde, sind in der vorhergegangenen Woche alle sieben Mitglieder des Strompreis-Regulators DKEVR zurückgetreten. Zuvor war einzig der Rücktritt der DKEVR-Chefin Juliana Iwanowa bekannt gewesen. Die Staatskommission hatte durch ihre Zustimmung zu den Strompreisen die Welle des Protests quasi erst in Gang gebracht.

 

Die Rücktritte könnten zwei Gründe haben. So könnte die Strompreissenkung um 8% ab dem 1. März eine Rolle spielen, die DKEVR mit der Begründung abgelehnt hatte, dass dies alleine schon aus technischen Gründen nicht vor dem 1. April möglich sei. Wahrscheinlicher scheint jedoch, dass der öffentliche Druck und Zorn die handelnden Personen zu ihrem Rücktritt zwang.

Außerdem ist unklar, wer nun über den Lizenzentzug für den tschechischen Energiekonzern CEZ entscheiden wird, den der zurückgetretene Premierminister Bojko Borissow als eine seiner letzten Amtshandlungen angekündigt hatte.

Christopher Schulz

 

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