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(c) Pester Lloyd / 11 - 2013   EUROPA 15.03.2013

 

Europas Hammer

Warum Artikel 7 noch keine Option für den "Fall Ungarn" ist

Mehrere Abgeordnete des EU-Parlamentes, darunter Liberale, Grüne, Linke und Sozialdemokraten, die Kommissarin Reding sowie Parlamentspräsident Schulz, indirekt auch Kommissionspräsident Barroso haben eine deutlich härtere Gangart gegenüber Ungarn gefordert. Neben einer Prüfung der neuen Verfassungsnovelle auf Verstöße gegen Einzelregularien der EU, die über Vertragsverletzungsverfahren zu empfindlichen Geldstrafen bis zur Suspendierung oder Streichung von EU-Geldern führen könnten, wird auch die Prüfung der Anwendung von Artikel 7 in Betracht gezogen. Doch wo führt der hin?

Martin Schulz sagte vor Beginn des EU-Gipfels am Donnerstag, dass die EU-Kommission "möglichst zügig" die Lage prüfen solle, dann "werden wir ja sehen, was die Kommission vorlegt. Und wenn das wirklich schwerwiegende Brüche des europäischen Rechts sind, dann muss man auch ein Artikel-7-Verfahren in Betracht ziehen." Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding meinte: "Die Kommission ist Hüterin der Verträge und als solche sieht sie nicht tatenlos zu, wenn die Grundsätze dieser Verträge mit Füßen getreten werden." Doch auch von konservativer Seite, allen voran EU-Kommissionspräsident Barroso wurde deutlich gemacht, dass man Verstöße gegen die Grundlagen der Gemeinschaft nicht hinnehmen werde. Barroso warnte Orbán telefonisch und schriftlich vor Maßnahmen, die die Rechtsstaatlichkeit beschädigen, eine Warnung, die direkt Bezug auf EU-Recht nimmt.

Eine 4/5-Mehrheit im Rat ist ohnehin eine Illusion

Artikel 7 ist die stärkste und fast die einzige Waffe der EU gegen grobe Verstöße gegen die Grundwerte. Diese sind in Artikel 2 der EU-Verträge so formuliert: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet."

Um Artikel 7 anwendgen zu können, müssen ein Drittel der Mitgliedsstaaten zunächst einen "begründeten Vorschlag" einbringen und Verstöße gegen Artikel 2 nachweisen. Sodann erfolgt die größte Hürde: Es muss der "Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht...". Ist dies geschehen muss das Land angehört werden, ihm werden Empfehlungen gegeben, auf die das Land wiederum reagieren muss. Hilft das alles nichts, kann - wiederum der Rat und wieder mit 4/5-Mehrheit - verschiedene "Rechte" des Mitgliedes einschränken, "einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat." Auch der Bezug von EU-Strukturhilfen sind so ein "Recht", es wäre also auch denkbar, vor einem Stimmrechtsentzug mit dem Finanzhebel zu arbeiten.

Ausschluss nicht geregelt

Der in manchen Medien kolportierte Ausschluss eines Landes aus der EU wegen fortdauender und schwerwiegender Verletzung der Verträge ist in den EU-Verträgen selbst nicht geregelt, unterläge also dem allgemeinen Völkerrecht, hier im speziellen der Wiener Vertragsrechtskonvention und stellte eine absolute Präzedenz dar.

Mindestens genauso komplex und schwierig ist die politische Bewertung der Anwendung solcher Zwangsmaßnahmen. Was einen Ausschluss betrifft, stellte sich, abgesehen von dem ungewissen Prozedere die Frage nach der integrativen Konzeption der EU, die damit aufgegeben würde. Die EU versteht sich, den Verträgen nach als Wertegemeinschaft, hatte und hat aber von Anfang an Länder in ihren Reihen, die diese formulierten Basisnormen nicht zur Gänze erfüllen. Wollte man genau sein, fände man ohnehin in jedem Land Gegegebenheiten, die die Rechte von Minderheiten oder das Gebot der Gleichheit missachten, niemand käme aber auf die Idee nach Rausschmiss zu rufen.

Die Entwicklungsrichtung ist entscheidend

Artikel 2 beschreibt also nicht nur Grundbedingungen, sondern ein Ideal und ein Ziel, um das jeden Tag überall gerungen werden muss. Nur wenn sich eine Regierung in einem Land anschickt, bewusst und zielgerichtet Grundwerte zu missachten oder - wie jetzt in Ungarn - strukturell außer Kraft zu setzen, um so eine den Werten direkt entgegengesetzte Entwicklung herbeizuführen kann man von einem Verstoß im eigentlichen und zur Anwendung auffordernden Sinne sprechen.

Entzug der EU-Gelder käme Wirtschaftsembargo mit Bumerangeffekt gleich

Die Frage der Sanktionen ist ein weiteres heikles Thema. Der Stimmrechtsentzug ist ein symbolisch starker Schritt, weil er die gleichberechtigte Partizipation eines Mitgliedslandes als ein Grundpfeiler dieser Gemeinschaft suspendiert. Wie dafür angesichts der ideologischen Kameraderie der EVP-geführten Länder, die eine relative Mehrheit in der EU darstellen, eine 4/5-Mehrheit zu Stande kommen soll, eine kaum beantwortbare Frage. Die Aussetzung anderer "Rechte", zu der es auch dieser 4/5-Mehrheit bedarf, kann sich hingegen wirkungsvoll nur über die Geldkeule entfalten, wie man an Österreich 2000 sah, war die halbherzige "Reduktion diplomatischer Kontakte" eher ein Eigentor, das das Anti-EU-Sentiment in Österreich bis heute weit über dem Durchschnitt sieht.

Kürzt man einer Regierung, die sich nicht an die Grundwerte der Gemeinschaft hält die Mittel, begeht man praktisch ein partielles Wirtschaftsembargo. Man sieht an Beispielen in der Welt von Nordkorea, über Kuba bis nach Iran, dass unter solchen Maßnahmen die Bevölkerung leidet, ein Regimewechsel dadurch aber meist nicht herbeigeführt werden kann. Wenden sich im Zuge solcher Finanz-Sanktionen auch Märkte und Investoren vermehrt von dem Land ab, verschärft das die rezessiven Effekte und wird, sollte das Regime aus anderen Gründen irgendwann abgelöst und die Sanktionen aufgehoben werden, zu einem für die Gemeinschaft sehr teuren Bumerang, weil das Land in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen, wenn nicht ruiniert wurde.

Wandel muss in Ungarn stattfinden, die EU muss gewähren, dass das möglich bleibt

Angesichts dieser Aussichten ist die Anwendung von Artikel 7 letztlich keine Option im Falle Ungarns. Vielmehr ist es angebracht, die Positionen in der Verfassung, aber auch in anderen Gesetzen zu prüfen, die gegen EU-Recht verstoßen, also z.B. die Studienverträge, die Möglichkeit der Kriminalisierung von Obdachlosen, die geschaffene Option Gerichten willkürlich Fälle entziehen oder zuteilen zu können und viele andere Dinge von der Zentralbank über das Mediengesetz bis hin zurn menschenunwürdigen Behandlung der Roma im Lande, die letztlich alle die Grundrechteagenda der EU in Artikel 2 tangieren, sich gleichzeitig aber auch im lebendigen Rechtsleben bemerkbar machen können - im Unterschied zum abstrakten Vorwurf einer Grundwerteverletzung.

 

Die Mischung aus EU-Instrumenten, einer offen geführten Debatte (endlich auch von Seiten der "Parteifreunde", die sich einmal klar darüber werden sollten, dass Europa kein politischer Jahrmarkt ist) über die überschrittenen roten Linien, das finanzielle Moment als Droh- und Lockmittel, die EU-Gerichte als supranationaler Schutz vor den eigenen Regierungen, können letztlich nur Begleiter und Stütze für einen Wandel sein, den Ungarn, das ungarische Volk selbst herbeiführen muss. Dass sich Orbán nicht ändern wird, seine Verachtung für unsere Gemeinschaft ihm wesenseigen ist, liegt auf der Hand und das hat er heute vor der EU nochmals bestätigt, als er hinsichtlich der kritischen Stimmen an seinen tiefen Einschnitten anmerkte, dass die "Kritik an den Verfassungsänderungen - einen Tag vor der Abstimmung - zu spät gekommen" sei.

Artikel 7, Europas Hammer, kann und sollte nur dann angewendet werden, wenn es absehbar wird, dass in einem Land, aktuell also Ungarn, ein Wandel, ein Regierungswechsel nicht mehr mit demokratischen, also friedlichen Mitteln möglich scheint, was sozusagen das Zollhäuschen des Übergangs von der Demokratie zur Diktatur markieren würde. Dies zügig, aber ohne Hast, unvoreingenommen aber strikt zu prüfen, ist nun Aufgabe der EU und es ist - für Ungarn wie die EU - grauenhaft genug, festhalten zu müssen, dass die Beantwortung dieser Frage tatsächlich offen ist und man konstatieren muss, dass, sollte sie mit Ja beantwortet werden, es eigentlich schon zu spät ist.

Marco Schicker, Csaba Szabó, red.

 

 

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