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(c) Pester Lloyd / 11 - 2013   POLITIK 12.03.2013

 

Mechanik der Willkür

Parlamentsdiktatur: in Ungarn ersetzt die Regierung die Justiz, ein Fallbeispiel

Für die Orbán-Regierung ist ein abschlägiges Gerichtsurteil zur Energiepreissenkung willkommener Anlass, wieder einmal das "Gerechtigkeitsempfinden des Volkes" an einem griffigen Feindbild zu aktivieren und dieses gegen die Justiz ins Felde zu führen. Dass die "sozialpolitische Maßnahme" angesichts einer sonst konsequent asozialen Ständepolitik nur Augenwischerei ist, wird ausgeblendet. Wem bisher noch nicht klar war, was Orbáns Verfassungsputsch in der Realität bedeuten kann, bekommt nun ein zeitnahes Fallbeispiel.

Gestatten, das neue “Verfassungsgericht” von Ungarn. Foto: MTI

In der Vorwoche hatte das Budapester Verwaltungsgericht einen Eingriff seitens der staatlichen Energiebehörde in die Netzentgelte für gesetzeswidrig erkannt. Das Gericht stellte jedoch nicht - wie von der Regierungspartei umgehend dargestellt - die angeordnete 10%ige Preissenkung für Strom, Gas und Fernheizung für private Abnehmer an sich in Frage, sondern hielt lediglich fest, dass die Umsetzung über die Netzentgelte einen ungesetzlichen Eingriff ins Wettbewerb- bzw. Vertragsrecht darstellt, zu dem die Energieagentur keine Befugnis habe.

Ungeachtet dieser Aspekte sprach Premier Orbán gestern im Parlament von einem "skandalösen Urteil", das "wir nicht hinnehmen werden". Seine Regierung werde, "notfalls durch höhere Gesetze" dafür sorgen, dass "ungarische Familien entlastet werden" und die "Energiefirmen noch weniger Gewinn machen". Er wird "es nicht dulden", dass "Gerichte unsere Politik zerstören". Mit diesen Äußerungen ist anzunehmen, dass auch die Energiepreissenkung bzw. das Recht zur Preisregulierung Teil der Verfassung werden könnte, womit bald die 5. Verfassungsänderung anstünde. Die Orbán-Regierung hat zu dem Thema für Donnerstag kurzfristig eine Sondersitzung des Parlamentes angesetzt.

Volkssentiment als Vehikel für Rechtsstaatsabbau

Für die Regierung ist die Sache ein willkommener Anlass, das "Gerechtigkeitsempfinden des Volkes" anzusprechen und auf diese Weise von den schwerwiegenden Änderungen an der Verfassung und der massiven Eindämmung der Funktionsweise des Verfassungsgerichtes abzulenken, wirken diese nämlich für die meisten eher abstrakt, während die Höhe der Wohnnebenkosten sich unmittelbar in konkreten Zahlen niederschlägt. Fidesz-Fraktionschef, Antal Rogán, hatte noch gestern im Parlament eine begleitende “Unterschriftenaktion unter den betroffenen Familien” angekündigt.

Das "Gerechtigkeitgefühl" des Volkes, dessen Interessen Fidesz behauptet zu vertreten, wurde bereits bei der ersten Kastration des Verfassungsgerichtes zu "Fragen, das Budget betreffend" angewandt. Das war vor zwei Jahren. Auch damals, es ging um Steuererhöhungen auf Abfindungen für öffentlich Bedienstete, urteilten die Richter nicht gegen die Maßnahme selbst, sondern gegen die retroaktive Anwendung, die sich in Rechtsstaaten verbietet.

Orbánsche Scheindemokratie in rot-weiß-grünen Ketten

Unabhängig davon, ob man für das Geschäftsgebahren von Energiekonzernen nun unbedingt Sympathie aufbringen muss, lässt sich doch mit dieser Mechanik der Willkür, wie sie nun auch wieder angewendet wird, praktisch jedes Gerichtsurteil, zu jedem Thema, auch über das Verfassungsgericht hinaus, im Sinne der eigenen politischen Agenda aushebeln. Und darin besteht die eigentliche Sünde gegen demokratische Normen, in dem die Legislative die Funktion der Judikative mit übernimmt und sie damit ihrer kontrollierenden Funktion enthebt. Orbán belegt an dem aktuellen Fall seine Absichten und die Befürchtungen, die
Ex-Präsident Sólyom gestern so deutlich ausgesprochen hat. In einer Fraktionssitzung am Dienstag freute sich Orbán, dass die “nicht wieder rückgängig zu machenden Verfassungsänderungen” die “Rolle des Parlamentes beim Schutz der Verfassung über die des Verfassungsgerichtes stellt.”

Wenn man bedenkt, dass die Exekutive längst unter Parteikontrolle steht, ist festzuhalten, dass "das Volk" sich längst in einem Einparteinsystem wiederfindet, ob es das - wie noch rund ein Drittel - will oder nicht oder es sich - wie rund die Hälfte - abwesend zeigt. Dieses Vorgehen, ein tatsächliches Problem (und ja, die Energiekonzerne haben es übertrieben, nicht nur in Ungarn!) richtig zu erkennen, es aber so zu lösen, in dem man "dem Volk" unter dem Deckmantel der "Befreiung" neue, in rot-weiß-grün getünchte Ketten anlegt, hat Methode, ja es ist ein wesentliches Charakteristikum der Orbánschen Scheindemokratie.

Opposition: Konzerne einschränken Ja, Gerichte ignorieren Nein

Der Chef der grün-liberalen LMP (die Fraktion existiert seit einer Spaltung der Partei nicht mehr), András Schiffer, hatte in seiner gestrigen Erwiderung auf Orbáns "Befreiungsrede" grundsätzlich Zustimmung zum Vorhaben erklärt, dafür zu sorgen, dass die Menschen entlastet werden und verhindert wird, dass die vornehmlich ausländischen Energiekonzerne weiter "Extraprofite" aus dem Land ziehen können. Allerdings dürfe das nicht dazu führen, dass die Regierung sämtliche Befugnisse des Verfassungsgerichtes beschneidet. Orbáns Rede sei eine "noch nie dagewesene Kriegserklärung gegen das gesamte juristische System des Landes" gewesen. Dass ein Ministerpräsident öffentlich Gerichtsurteile kassiere, könne nicht hingenommen werden. Der Rest der demokratischen Opposition boykottierte die Sitzung.

Die Vorgeschichte: Die Fidesz-Regierung hat per Gesetz die Energieprovider für Strom, Erdgas und Fernheizung angewiesen, die Preise ab 1. Januar für private Abnehmer um 10% zu senken. Auch im Bereich der kommunalen Dienstleistungen (Wasser, Abwasser, Müll) sowie bei Kohle und Flaschengas sind solche Nachlässe geplant, die Umsetzung verzögert sich aber aus organisatorischen, rechtlichen, aber auch budgetären Gründen. Für das Frühjahr 2014 hat man einen weiteren 10% Rabatt angekündigt, allerdings findet zuvor eine Wahl statt, diese Wohltat wird also vom Wahlergebnis abhängig gemacht.

Ersatzhandlung für asoziale Steuer- und Arbeitsmarktpolitik

Die Regierungspartei will mit der Maßnahme zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum Einen soll so die wachsende Unzufriedenheit der untersten Einkommensschichten gemildert werden, die durch eine ständische Steuerpolitik (Flat tax, von der nur die oberen Einkommen profitieren), erhöhte Verbrauchssteuern, private Verschuldung, (die durch einen fallenden Forintkurs, 11:34 Uhr 305,2) immer weiter steigt und auch die hohe Inflation, ein stark sinkenden Realeinkommen hinzunehmen hat. Die Maßnahme soll also letztlich einen konsequent asozialen Kurs abfedern, der die Förderung nur bestimmter Schichten im Auge hat und das Schicksal des unteren Drittels ausblendet bzw. bewußt in Kauf nimmt, weil man glaubt eine auf Wünschen und Idealen aufbauende Wirtschaftspolitik könne Erfolg bringen. Punktuelle Wohltaten, die zudem noch mit einem griffigen Feindbild hinterlegt werden könnten, lassen sich propagandistisch viel besser vermarkten als eine überlegte, aber nur langfristig wirkende Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik.

Planwirtschaft mit Bumeranggefahr

 

Gleichzeitig will man auf diese Weise die nicht heimischen Energieversorger "sturmreif" schießen und ihnen das Engagement in Ungarn unattraktiv machen, um sie billiger übernehmen zu können. Die Gastöchter von E.ON kaufte die Regierung über die Staatsfirma MVM kürzlich bereits zurück, auch Wasserwerke und die Müllentsorgung werden zum kommunalen Monopol umgestaltet. Begründet wird diese Verstaatlichungswelle mit "nationalstrategischem Interesse", einem "nationalen Befreiungskampf gegen ausländische Konzerne" und "Sozialpolitik", Kritiker fürchten jedoch, dass sich die Kosten für die Dienste mittelfristig durch fehlende Investitionen, mangelndes Kno how, budgetäre Nöte (denn weniger Gewinn bedeutet auch weniger Steuern) und möglichen Missbrauch durch "lokale Netzwerke" wieder erhöhen werden. Der Staat übernimmt mit diesen Aufgaben auch das Risiko und die Gewährleistungspflicht der Versorgungssicherheit. Kommt er dieser nicht nach, gibt es keinen Fremdschuldigen mehr, den man anpatzen könnte und das "Gefühl" des Volkes gegenüber seinen "Befreiern" könnte schlagartig in bösen Zorn umschlagen. Es wäre nicht das erste Mal in der jüngeren ungarischen Geschichte.

Fortsetzung folgt: Premier Orbán verkündete gerade vor der Industrie- und Handelskammer, dass er eine gesetzliche Beschränkung der Zinssätze für Privat- und KMU-Kredite ins Auge fasst. 8-10%, mehr sollen es nicht mehr sein zukünftig. Die Mechanik wirkt: das Feindbild passt (und ja, auch die Banken haben es übertrieben), das Volk freut sich. Was die Folgen auf die Kreditwilligkeit der Banken, den Finanzmarkt und damit die Wirtschaft in Ungarn insgesamt sind, bleibt zunächst zweitrangig. Es fehlt nun nur noch das “passende” Gerichtsurteil, das sich dem Wunsch des Premiers entzieht...

Marco Schicker / Csaba Szabó

 

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