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(c) Pester Lloyd / 11 - 2013   AKTUELL 16.03.2013

 

Nach dem Sturm

Aufräumarbeiten in Ungarn: über Hunderttausend noch ohne Strom, etliche Straßen gesperrt

Die Regierung und ihre Krisenmanager bemühen sich, ein Bild von strammer Organisation und “Alles-im-Griff” zu kommunizieren, Orbán persönlich gab gestern Abend einen Lagebericht. Mittlerweile ist die Autobahn wieder frei. Doch die Situation in vielen ländlichen Gebieten ist noch immer dramatisch, viele Menschen müssen seit 3 Tagen ohne Strom auskommen, etliche Orte sind immer noch nicht erreichbar. Kritische Stimmen werden als “politisch motiviert” zurückgewiesen.

Nationalfeiertag versinkt im Schneesturm: Der Tag in Ungarn (Nachlese des Live-Tickers)

Sonntag, 9:11 Uhr: Liste der aktuell noch gesperrten Straßen, Stand 6 Uhr
http://internet2.kozut.hu/utinform/Lists/hirek/GuestForm.aspx?ID=7746

Heute, Samstag, 17 Uhr, stellt MTI dieses Bild ein, Premier Orbán und Innenminister Pintér (natürlich wie immer mit Handy am Ohr) sowie der Komitatsfeuerwehrchef (in verdächtig sauberer Uniform) bei einem “Ortstermin” auf der M1 bei Tata. Der Staatsfunk sendet seit Stunden nichts anderes mehr als Meldungen darüber, wie erfolgreich die Regierung die Krise bekämpft hätte. Die Betroffenen berichten was anderes (siehe Live-Ticker von gestern oder hier die Kommentare)

Das hat zwar nichts mit dem Blizzard zu tun, aber dieses Foto von der Rettungsaktion aus einem umgestürzten Viehtransporter im Komitat Veszprém, wollten wir unserer Leserschaft nicht vorenthalten. Trotz der Rettung, lang werden es die Osterlämmer wohl dennoch nicht überleben... Alternative Bildunterschrift: Feuerwehr rettet “Friedensmärschler”. Foto: MTI

Update, 16.23 Uhr: Das Komitat Veszprém meldet, dass die Zahl der von der Stromversorgung abgeschnittenen Ortschaften jetzt auf 75 reduziert werden konnte. Allerdings war aus diesen Komitat vorher nie eine so hohe Zahl gemeldet worden, was weitere Zweifel an der Kommunikationspolitik nährt. Rund 145 Arbeiter der Strombetreiber seien im Einsatz, um Oberleitungen zu reparieren, was für ein ganzes “Bundesland” nicht allzu viel scheint. Hajdú-Bihar meldet sich indes wieder vollzählig am Netz zurück.

Premier Orbán im Lagezentrum des Katastrophenamtes beim Land retten. Auf seiner Facebook-Seite wurde eine ganze Fotoserie dazu eingestellt. Was er da macht, außer die Leute nervös und vielleicht die Karte bunt anmalen? Man weiß es nicht genau.

Update, 16.23 Uhr: Die linke Opposition hat inzwischen ihre Kritik am “gescheiterten Katastrophenmanagement” der Regierung wiederholt. Sowohl MSZP als auch DK fordern eine parlamentarische Untersuchung, was auf Seiten der Politik, vor allem beim Katastrophenamt ORK und dem ihm übergeordneten Innenministerium falsch gelaufen ist. Während sich die Rettungskräfte und Helfer vor Ort durch heroischen Einsatz ausgezeichnet hätten, habe die Regierung 36 Stunden lang ein Bild der Hilflosigkeit und Überforderung abgegeben.

Fidesz antwortete kühl, dass “das Volk genau erkennt”, dass “die Linke, wie immer, nur politischen Profit” aus der Lage schlagen will. Die Verantwortlichen hätten “verantwortungsvoll reagiert” und anstatt zu lamentieren, sollte man lieber alle Kräfte bündeln, da immer noch “Zehntausende” in Hilfseinsätzen seien.

Erstbericht, 8.00 Uhr: Die Bergungsarbeiten auf der M1/M7 gingen den ganzen Abend weiter, Premier Orbán meldete gestern gegen halb acht persönlich (er war z kurz zuvor vorzeitig vom EU-Gipfel abgereist), dass noch rund 150 Menschen und noch mehr Fahrzeuge von der Autobahn zu bergen seien, das Gröbste aber geschafft ist. Um 0.25 Uhr meldete das Katastrophenamt: Straße frei, also nach mehr als 30 Stunden!

Orbán forderte alle auf, sich "unbedingt an die Anweisungen der Ordnungsorgane und Rettungskräfte zu halten" und - wenn überhaupt - dann nicht alleine auf Reisen zu gehen. Der Premier meldete zwei Tote und einen lebensgefährlich Verletzten in Folge des Wetters. Er wies auch auf die Stromausfälle hin und hoffe, dass das bis Samstagmorgen geregelt sei und er erwarte, dass sich die Betroffenen bis dahin "gegenseitig helfen". Er dankte ausdrücklich der Hilfe aus Österreich.

Nach seinen Angaben wurden insgesamt 8.048 Polizisten und 1.140 Mitarbeiter von Katastrophenschutz und Rettung mobilisiert, dazu kämen rund 10.000 Soldaten (was Kenner übrigens für eine reine Fantasiezahl halten). Den Einsatz "seiner" Antiterroreinhei TÉK erwähnt er mehrfach lobend. 227 Notquartiere seien landesweit geöffnet, rund 12.000 Menschen seien darin versorgt worden oder werden noch betreut.

Heftige Kritik am Krisenmanagement

Orbán dankte dem Innenminister und dem Chef des Katastrophenschutzamtes für ihren Einsatz. Beide stehen seit gestern in heftigem Kreuzfeuer der Kritik. Auf diese ging Orbán natürlich mit keinem Wort ein. Was wird vor allem kritisiert: das Innenministerium und dem ihm unterstellten Katastrophenschutz war nicht ausreichend auf die vom Wetterdienst vor vier Tagen prognostizierte Lage vorbereitet, ja hat sie schlicht ignoiert und ist überhaupt auch schlecht für Unvorhersehbares geeignet. Die Mobilisierung der Hilfskräfte ging zu langsam und zu unorganisiert von Stattten. Es fehlte an adäquatem technischen Gerät und einer organisationsübergreifenden Befehlsstruktur mit entsprechender Kommunikationsmöglichkeit.

Bilder, die viele Betroffenen wütend machen: Minister Pintér posiert als Macher vor einem Schützenpanzer. MTI und das TV brachten viele, viele Bilder von Kampfpanzern und anderen Kettenfahrzeugen im Einsatz. Doch der martialische Aufmarsch kam reichlich spät. Die Realität spiegelt eher das erste Bild, lokale Rettungskräfte und Bürger ziehen sich, so gut es geht selbst aus dem Schlammassel. Dass die Retter oft selbst in Probleme kamen (siehe Bild 3) und der Katastrophenschutz auch zahlenmäßig nicht genügte, ist ein weiteres Thema, das die Menschen beschäftigt

Während der Staatsfunk martialische Bilder von Panzern über den Äther schickte, halfen sich in den meisten Fällen die Leute gegenseitig oder selbst. Kommentatoren meinten, es könne doch nicht sein, dass eine SMS des Innenministers, 16 Stunden nach Eintritt der Katastrophe die einzige sichtbare Rettungsmaßnahme für die Betroffenen war.

Regierungskommunikation und Lageschilderungen der Betroffenen konnten kaum weiter auseinanderliegen. Höhepunkt war die Beschuldigung der Autofahrer, die, so der Innenminister vor laufenden Kameras, durch Sommerreifen und rücksichtslose Fahrweise die Situation selbst verschuldet haben. Das sagte Pintér zu einer Zeit als noch Tausende, auch mit Kindern eingeschlossen waren. Oppositionelle Parteien forderten seinen Rücktritt und auch den des Leiters des Katastrophenamtes.

Die Regierungspartei wies alle Kritik als “skrupellosen Versuch, von der Not der Menschen politisch zu profitieren”, zurück.

Der Stand Samstagmorgen 8.00 Uhr.

Nach Meldung des ungarischen Straßendienstes waren noch 130 Straßen wegen der Wetterbedingungen blockiert bzw. gesperrt, mehr als 20 Orte sind zudem auf dem Landweg immer noch nicht erreichbar. Das Problem bei der Räumung sind die heftigen Vereisungen und der teils immer noch sehr starke Wind, der immer neue Verwehungen herbeiführt, so dass man über Nacht nur rund 50 Straßen wieder passierbar machen konnte.

Die M1 war seit nachts wieder befahrbar, musste aber wegen eines erneuten Unfalles (ein Tiertransport kam ins Rutschen) gegen 6 Uhr bei Tatabánya schon wieder gesperrt werden. Grundsätzlich ist sie frei, allerdings gibt es immer wieder partielle Verwehungen, kleinere Staus durceh harvarierte Fahrzeuge oder Räumdienste.

Gesperrte Straßen

Die meisten Behinderungen gibt es in den Komitaten Fejérben (31 gesperrte Straßen), Veszprém (24), Komárom-Esztergom (22), Tolná (19), Győr-Moson-Sopron (9), Zalá (6) und jeweils einige wenige in Somogy, Bács-Kiskun, Szabolcs-Szatmár-Bereg, Pest, Baranyá. Nach wie vor wird dazu geraten nur wirklich notwendige Fahrten zu unternehmen, Winterausrüstung dabei zu haben und für alle Fälle ein voll geladenes Handy, Decken, Ersatztreibstoff, Essen und Trinken.

Die Zustandsmeldungen des Straßenamtes (Útinform)
http://internet2.kozut.hu/utinform/Lapok/kezdolap.aspx

Abgeschnittene Orte

Von der Außenwelt abgeschnitten sind derzeit die Orte: Edde, Alsóbogát, Csatka, Bajna, Jásd, Nagydém, Lovászpatona, Vanyola, Gic, Zámoly, Gánt, Csákberény, Nagyveleg, Vértesboglár, Bodmér, Újbarok, Kincsesbánya, Mány, Kiskeresztúr, Kótaj.

Bahnverkehr

 

Die MÁV meldet Samstagmorgen weitgehend störungsfreien Bahnverkehr, allerdings gibt es Verspätungen zwischen 10-20 Minuten, weil man noch nicht überall volle Geschwindigkeit fahren kann. Das gilt auch für die Strecke Budapest-Győr-Hegyeshalom. Die Mitarbeiter sind weiter andauernd mit Streckenräumungen und Reperaturarbeiten an Oberleitungen befasst. Etliche Bahnhöfe blieben als Zuflucht für Gestrandete über Nacht offen, Waggons wurden beheizt und als Schlafstätten bereit gestellt.

Stromversorgung

Noch immer sind Zehntausende, wenn nicht weit über Hunderttausend Menschen von der Stromversorgung abgeschnitten, manche nun schon den dritten Tag. Allein im Komitat Szabolcs-Szatmár-Bereg sind mit Stand Samstag 8 Uhr 77 Ortschaften mit zusammen 55.000 Einwohnern ohne Strom! Immerhin konnte mittlerweile wieder die Wasserversorgung hergestellt werden.

Nationalfeiertag versinkt im Schneesturm: Der Tag in Ungarn (Nachlese des Live-Tickers)

 
Fahrzeuge des Winterdienstes aus Österreich fahren zum Hilfseinsatz ins Nachbarland

red.

 

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