Ost-West-Drehscheibe
Pester Lloyd Stellenmarkt

Das Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 12 - 2013   POLITIK 22.03.2013

 

Entnazifizierung per Gerichtsbeschluss

Ein Gericht in Ungarn verbietet, Neonazis als Neonazis zu bezeichnen

Ein Budapester Gericht hat in erster Instanz einer Klage der neonazistischen Partei Jobbik stattgegeben, die es dem Historiker László Karsai untersagt, die neonazistische Partei Jobbik als neonazistisch zu bezeichnen. In seiner Begründung entfaltet der Richter das neue - regierungskonforme - Standardmodell eines amtlichen Geschichtsrevisionismus´, das vor allem die "Entnazifizierung" der Horthy-Zeit und ihrer Folgen zum Ziel hat.

Adaptierte, aber eindeutige Anklänge an die Pfeilkreuzler. Die diversen “Garden” sind unmittelbar mit Jobbik verknüpft, Parteichef Vona ist sogar Mitgründer. Nun sind sie offiziell entnazifizert...

Der allgemein anerkannte Historiker tat die nun strafbewährte Aussage in einem TV-Programm auf dem Privatsender ATV und soll sich dafür öffentlich entschuldigen. Der Sender ATV wurde für die behandelte Sendung von 2011, aber auch schon für andere "nicht wertneutrale" Berichterstattung im Zusammenhang mit Jobbik in jüngerer Zeit schon mehrfach vom Medienrat mit Bußen und Unterlassungsanweisungen belegt und darf Jobbik nun nicht einmal mehr als "rechtsextrem" betiteln. Doch das genügte der Jobbikschen Juristen-Maschinerie nicht, sie wollen Satisfaktion durch den Rechtstaat. Diese bekamen sie nun.

Meinungsfreiheit gegen “Ehrverletzung”

Der Historiker Karsai bezog sich in seiner Verteidigung auf die Meinungsfreiheit und begründete, dass seine Einschätzung auf dem Auftreten und den Inhalten der Partei gründe, was von der Presse- wie Meinungsfreiheit sowie der Freiheit der wissenschaftlichen Lehre gedeckt ist. Das Gericht hingegen sah in der Einstufung eine "Ehrverletzung", untersagte dem Angeklagten die Wiederholung und belegte ihn mit rund 200 EUR Gerichtskosten sowie der Auflage, binnen 15 Tagen einen Entschuldigungsbrief an die Neonzais von Jobbik zu verfassen, der außerdem auf Kosten des Verurteilten zu veröffentlichen ist.

Der Richter, Attila Péter Takács, argumentierte, dass das inkriminierte Programm sich im wesentlichen um Tendenzen der Restauration der Horthy-Zeit in Ungarn heute drehte und die Rolle der Jobbik dabei beleuchtete. Der inhaltlichen Darstellung und Bewertung dieser Zusammenhänge, die "natürlich frei" ist, hätte der "Gebrauch dieser aggresiven Charakterisierung" nicht bedurft und sei daher "völlig ungerechtfertigt und unnötig gewesen", daher musste der Autor dieser Worte Gewahr sein, "die Konsequenzen des Gesetzes" zu tragen.

Es ist eine Sache, ob ein Richter feststellt, dass das Wort "neonazistisch" an sich eine Ehrverletzung darstellt oder ob er sich anmaßt, dessen inhaltliche hergeleitete Begründung zu dekonstruieren. Das ist dann Zensur, auch wenn der Richter diese Herleitung vermutlich nur daher anwandte, um sein Urteil als irgendwie begründbar aussehen zu lassen. Wir kennen zwar den ganzen Ablauf des zweitägigen Prozesses nicht, jedoch hätte Karsai, neben der Freiheit des Wortes, ein paar starke Argumente auf seiner Seite gehabt:

Jobbik ist neonazistisch

Die Partei Jobbik ist ihren Worten, ihren Taten und ihren Symbolen nach offen neonazistisch und darf natürlich, unabhängig davon, was Herr Richter Takács so erzählt, auch so bezeichnet werden. Einige Belege: Mitglieder, Anhänger, aber auch Funktionäre der Partei begrüßen sich auf Veranstaltungen regelmäßig mit dem Hitlergruß (ist dokumentiert), Mitglieder und Anhänger stellen in der Öffentlichkeit, mitunter sogar im Parlament die Symbole der nazistischen Pfeilkreuzlerpartei, wenn auch leicht adaptiert, zur Schau.

Ein Parlamentsabgeordneter der Jobbik, von Beruf Rechtsanwalt, fackelt öffentlich eine EU-Fahne ab. Wer ihn als “extrem”, gar “nazistisch” bezeichnet, findet sich vor Gericht wieder.

In programmatischen Ansprachen fordern Parteikader regelmäßig die Anwendung nazistischer Politik, so u.a. die pränatale Euthanasie von "lebensunwertem" Leben, die Internierung nach rassischen Merkmalen, Sondergesetze gegen Juden, "Zigeuner". Jobbik-Funktionäre sind direkt an der Gründung und Unterhaltung der mittlerweile verbotenen "Ungarischen Garde" beteiligt gewesen und unterstützen nach wie vor aktiv die diversen Nachfolgeorganisationen. Diese begehen, uniformiert und marschierend, regelmäßig Aktivitäten der Nötigung, der Volksverhetzung aus rassischen oder politischen Motiven, ganz so wie die Nazis, nur eben heute, daher Neonazis. Gerade gestern war "dreckige Juden" der meistgebrauchte Schlachtruf, als Jobbik seine "Fans" zum Public Viewing einlud.

Gericht führt Geschichtsrevisionismus der Politik fort

Die Begründung des Richters verweist nur äußerlich auf eine "Ehrverletzung", schon eher weist die richterliche Begründung auf das heutige "Standardmodell" der offiziellen ungarischen Geschichtskommunikation, die peinlich genau darauf achtet, dass das Horthy-Regime von allem was "nazistisch" oder "faschistisch" genannt werden könnte, abgrenzt, um Horthy im Rahmen der "nationalen Revolution" als nachahmenswertes historisches Vorbild für die heutige nationalistische, in Teilen revisionistische und ständische Politik hinzustellen, die schwerlich andere prominente Vorbilder in der ungarischen Geschichte findet.

Daher muss die Schlussfolgerung, dass eine Restauration der Horthy-Ära mit neonazistischen Attitüden einhergeht, unterdrückt werden. Genau aus diesem geschichtsrevisionistischem Ansatz, der Entnazifizierung der Horthy-Ära heraus, ließ ein Fidesz-Staatssekretär bereits vor zwei Jahren
die Leitung und sämtliche Historiker der Budapester Holocaust-Gedenkstätte auswechseln, der Richter erledigt nun dessen Job auf juristischer Ebene weiter. Es ist also bei näherer Betrachtung ein eindeutig politisch motiviertes Urteil, also Politjustiz.

Eine Nähe Horthys zum Nazismus ist nicht regierungskonform

Unabhängig davon, ob sich Historiker darüber einig werden können, ob Horthy selbst nazistische Anwandlungen hatte (was, trotz zahlreicher Judengesetze, Verfolgung Andersdenkender etc. eher verneint wird) oder sein System eine dem Faschismus wesensnahe Diktatur war (nein sagen hier - neben Fidesz - vor allem unbelehrbare Erzreaktionäre und Halbgebildete, die sich einige "positive" Gegenbeispiele herausklauben, Horthy hatte jüdische Freunde, er war ja so "anglophil"), so ist doch Fakt, dass unter Horthy sich die ungarischen Nazis, die Pfeilkreuzler, weitgehend ungestört entfalten und wirken konnten, von einigen rechtsstaatlichen Showeinlagen abgesehen.

Unter Horthys Verantwortung als Staatschef wurden Juden und Kommunisten deportiert (z.B. zur Zwangsarbeit an den Ostwall) und kämpften ungarische Armeen an der Seite Hitlerdeutschlands, im Rahmen eines Paktes beider Staaten in Russland, unter Horthy wurden u.a. in der besetzten Vojvodina Massaker an Juden und Serben verübt und bereits auch Ghettos eingerichtet. Es wäre also durchaus nicht abwegig, auch das Horthy-System selbst als nazistisch zu bezeichnen. Hingegen sagte Orbán einem deutschen Journalisten jüngst, dass "Horthy nun ganz sicher kein Diktator" war, wie geschickt, vielleicht war er das nicht, was die Diktatur ja nicht ausschließt.

Konstruktion einer nationalen Identitfikationsigur

Im Zentrum des Fidesz-Geschichtsbildes steht der Kampf um die Selbstbehauptung gegen stärkere äußere Mächte, also eine der Strophen der Lebensmelodie des Magyarentums. Dieser Kampf wird bis heute (IWF, EU) weitergezeichnet und als nachahmenswert aus dieser Epoche geschält und kultiviert, während das Üble, wenn nicht ausschließlich auf die Deutschen, so doch auf eine kleine Minderheit abgewälzt wird, die jedoch keinesfalls systemrelevant war.

Das Höchste, wozu sich der ahistorische Neusprech der Regierungs-PR heute durchringen kann, ist, im Zusammenhang mit dem Holocaust davon zu sprechen, wie sehr man sich schämt, die Verbrechen an den ungarischen "Mitbürgern" "nicht verhindert" zu haben, um dann schnell auf das verbrecherische Szálai-Regime (dem offen nazistischen Horthy-Nachfolger) zu verweisen. Dass die Verbrechen von Ungarn, also nicht nur von Bürgern, sondern vom Staat begangen worden sind, widerspricht jedoch dem Selbstverständnis der heimlichen Sachwalter Horthys. Horthy wurde von Nazis gestürzt, deshalb kann er selbst kein Nazi gewesen sein, so als ob ein Mörder, der von einem anderen Mörder erschlagen wird, selbst kein Mörder mehr ist.

Der Historiker László Karsai hat Berufung gegen das Urteil angekündigt.

Gedenken als Reinwaschung

Diese Debatte und die historischen Entstellungen werden uns in Ungarn im Jahr 2014, aus Anlass des 70. Jahrestages des Holocaust, der zur Chefsache und Chance für eine reinwaschende Außendarstellung - auch hinsichtlich des Verdachtes der indirekten bzw. wahltaktischen Kumpanei mit Jobbik oder der sich häufenden “Unfälle” wie Kövér-Nyrö, Bayer, Szaniszló, Dörner... - gemacht wurde, immer wieder begegnen, gerade erst in dem bemühten Engagement des Verbots von Symbolen der Terrorherrschaft. Das Karsai-Urteil ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen und zu bewerten und bekommt wegen seiner Begründung eine Bedeutung, die über die Behandlung des Straftatsbestandes der "Ehrverletzung" hinausgeht, die offenbar bei der Bezeichnung von Roma als “tierisch” seitens eines Fidesz-Mannes nicht besteht, zumindest was Fidesz und was die Justiz betrifft.

Karsai kündigte Berufung an.

red. / m.s.

 

Möchten Sie den Pester Lloyd unterstützen?