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(c) Pester Lloyd / 12 - 2013   GESELLSCHAFT 16.03.2013

 

Schneesturm und Hirnfrost

Apokalyptischer Endkampf: Nachlese zum Nationalfeiertag in Ungarn

20 Stunden für einen Topf Tee? - Machtvolle Kolonnen von russischen Panzern und Hoffotografen - Böse "Multis" öffnen ihre Herzen - Sancho Pansa in Siebenbürgen, Don Quichote in Brüssel - Gestrandete Jubelpolen vagabundieren durch die ungarische Hauptstadt - Bürgerlicher Ethikkodex der "Friedensmärschler": Mischung aus 10 Geboten und Hexenhammer - Ungarn will die "Liebe" in die EU exportieren - Verdienstorden für Schamanen und Nazisänger

Der Live-Ticker vom 15. März in der Nachlese
Aufräumarbeiten: Updates ab 16. März

Der ungarische Nationalfeiertag des 15. März konzentrierte sich - wie berichtet - in diesem sturmumtobten Jahr auf kleinere Auf- und Fehltritte am Rande des Sturms, Ungarn zelebrierte überwiegend "indoor". Politiker der Regierungs- und Oppositionparteien tauschten, statt vor Zehntausenden im Freien, über die Medien, vor allem das Internet, ihre Thesen dazu aus, wie der Stand der "Unabhängigkeit" und der "Freiheit" ihrer Ansicht nach ist und dass nur jeweils Einer der eigentliche Sachwalter des Erbes von Kossuth, Petöfi & Co. sein kann.

20 Stunden für einen Topf Tee?

Freilich wurde, wie konnte es in diesem Ungarn anders sein, auch der Befreiungskampf der in Autos und Ortschaften Ein- und vom Strom Ausgeschlossenen ein politisiertes Thema. Die linke Opposition forderte, bar jeder Verantwortung, den Kopf des Innenministers, das großmäulige Orbán-Lager habe in der Stunde echter Not versagt, der Katastrophenschutz sei stümperhaft gewesen, das kommt davon, wenn man zu viel Energie auf das Töten virtueller Drachen verschwendet, dann verfehlt man die Wirklichkeit, die darin bestanden haben sollte, rechtzeitig Straßen zu sperren und heißen Tee schneller als in 20 Stunden kochen zu können, so sinngemäß die Vorwürfe.

Die SMS vom Innenministerium ("Wir retten Sie, bleiben Sie in Ihren Fahrzeugen, wenn der Sprit ausgeht, wechseln Sie in ein anderes Fahrzeug... Der Innenminister"), die so ca. nach 20 Stunden, also gleichzeitig mit dem ersten heißen Tee, die Eingeschlossenen erreichte, macht noch immer die Runde unter spöttischen Zeitgenossen, mittlerweile in Versionen wie: "Wir retten Sie, bleiben Sie im Land, wenn Ihnen das Geld ausgeht, gehen Sie in ein anderes Land, Der Finanzminister...".

Machtvolle Kolonnen von Panzern und Hoffotografen

Als Minister Pintér dann irgendwann wach geworden war, Orbán aus Brüssel einschwebte, lief die Maschinerie endlich an, man ist sich nur noch nicht einig darüber, wer schneller und eindrucksvoller vorging: die martialischen Kolonnen der Retter, samt T-72 Kampfpanzern und anderen Kettenfahrzeugen, die Schützenpanzer von Orbáns Antiterrorkomanndo TÉK oder die Hoffotografen von MTI und aus der PR-Zentrale des Premiers. Denn alsbald machten ganze Bilderserien die Runde, Pintér am Telefon neben einem Panzer "Die Autofahrer sind Schuld", Orbán in der Einsatzzentrale des Katastrophenamtes "Wir retten Euch alle" (ein Dutzend Bilder davon landete umgehend auf Orbáns Facebook-Seite), beide mitten auf der Straße, Pintér am Telefon vor einem Panzer "Mit 100km/h starken Winden konnte nun wirklich niemand rechnen" (außer freilich das Wetteramt, aber wer sind die schon). Die MTI-Aussendungen überschlugen sich. Aus allen Landesteilen, von allen Rettungseinheiten strömten nun die Kampf-, Jubel- und Erfolgsmeldungen, die in Sätzen kummulierten wie: die Einheit der Ungarn in großer Not unter der Leitung der Regierung hat das Schlimmste verhindert...

Selbst die bösen "Multis" öffneten ihre Herzen

In den 20 Stunden zuvor hatten sich die Menschen vornehmlich selbst helfen müssen, aber Rom wurde ja auch nicht an einem Tag erbaut, lokale Rettungskräfte arbeiteten bis zur Erschöpfung, teils mit lausigem Material ausgestattet, Helfer aus Österreich eilten von Westen zu Hilfe, selbst die bösen "Multis" mit ihrem “ausländischen Drecksfraß” (Orbán, 2011) öffneten die Tore ihrer Supermärkte und schenkten Essen und Trinken her als weit und breit noch keine russischen Panzer fuhren. Da sage noch einer, Ungarn sei nicht multikulturell.

Die Menschen fragen sich, warum alles so lange dauerte, warum in ihrem Land nur die Stahlmonster aus den Tagen des Kalten Krieges in der Lage sein sollen mit einem Schneesturm fertig zu werden. Warum eine Armee, die offiziell aus 26.000 kämpfenden Mann bestehen soll, nur 3000 einsatzfähige Soldaten hat, von denen die meisten aber selbst im Stau, nämlich auf dem Weg ins verlängerte Wochenende steckten. Und wieso hat Orbán der Armee die Zuständigkeit auch für Katastropheneinsätze entzogen? Freilich mischte sich die Wut über das eben Erlebte mit Verallgemeinerungen. Mit 3-Meter-Schneeverwehungen Mitte März gäbe es in vielen Ländern Probleme. In den USA reichen dazu manchmal schon 30 Zentimeter leichter Schneefall. Den Betroffenen seien diese Pauschalierungen gestattet, denn ihre Not war konkret, Hunderte schwebten in realer Lebensgefahr, zwei Menschen starben. Offensichtlich wurde, dass der Katastrophenschutz in Ungarn nicht funktioniert. Hier gibt es einigese aufzuarbeiten.

Der Reichsjägermeister als Horthy für Arme auf einem Gaul in Rumänien

Die offiziellen Feiern in Budapest, auch die Aufmärsche der Opposition wurden zwangsläufig abgesagt. Doch ein paar Funktionäre der Regierungspartei konnten es sich nicht verkneifen, sich auf fast menschenleere Plätze zu stellen und ein paar sinnfreie Sätze ins die Mikrofone zu sprechen, der Fidesz-Vize Kosa in Debrecen (er ließ dazu eigens die Armee paradieren und den Schnee räumen, der woanders liegen blieb), Orbáns Privatsekretär und Bürgermeister von Hódmezövásárehely Lázár, selbst OB Tarlós in Budapest. Die Krönung aber lieferte Vizepremier Zsolt Semjén, hauptamtlich Nationenschützer und Glaubensretter, nebenamtlich Reichsjägermeister, der in der Stunde höchster eisiger Not auf einem Gaul durch ein kleines, schneefreies Örtchen in Rumänien ritt, um als bäuerliche Version des seligen Admiral Horthy, eine Husarenparade zum 15. März anzuführen. Sancho Pansa in Siebenbürgen, Don Quichote in in Brüssel, Pintér irgendwo, das ist, was vielen Ungarn von diesem Tag hängengeblieben ist.

Eine nette Bildergalerie zu Semjén, Reaktionen aus dem Internet etc. bei index.hu
http://index.hu/tech/mem/2013/03/17/a_lovas_semjen_nagyon_kihuzta_a_gyufat/
Bild oben, gefunden bei Milla / Facebook

Gestrandete Jubelpolen vagabundieren durch die ungarische Hauptstadt

Ein fast unbemerkter Notfall ereignete sich zur gleichen Zeit in Budapest, neben Tausend gestrandeten Autofahrern, strandeten auch einige Hundert Jubelpolen in der ungarischen Hauptstadt, die das Fidesz-Feierkomitee extra mit Sonderzügen nach Budapest geholt hatte, um die Einheit der zwei geschundesten Nationen Europas zu demonstrieren. Da standen sie nun, die Kaczinsky-Jünger mit ihren Fahnen und Wimpeln, Spruchbändern und Heiligenfigürchen und niemand wollte mit ihnen feiern. Das konnte man nicht geschehen lassen. Flugs sammelte die Freunde vom
"Friedensmarsch", der halbamtlichen Orbán-Jubeltruppe CÖF (Bürgereinheitsforum) unter ein paar einschlägig bekannten Orbán-Bekannten, die deseorientiert durch die Stadt vagabundierenden  Polen ein und brachte sie zu einem Meeting der wahrlich besonderen Art.

Bürgerlicher Ethikkodex: Mischung aus 10 Geboten und Hexenhammer

In einem kleinen Raum im Gellért Hotel formulierte die CÖF, wo sich die wahre Not, die eigentliche Apokalypse unserer Tage abspielt. Unter einem Banner mit der Aufschrift "Verteidigt Europa vor der linksliberalen Pest und dem Regenbogenwahnsinn..." (siehe Foto) und unter Vorsitz eines frischgebackenen Verdienstordenträgers, des sogenannten Politwissenschaftlers Tamás Fricz sowie in Anweisenheit des Chefredakteurs der Gazeta Polska versammelte man ein paar Pressevertreter. Verkündet wurde dort ein "Bürgerlicher Ethikkodex", eine Mischung aus "Hexenhammer" und den zehn Geboten des anständigen Magyaren. Der CÖF-Chef, András Bencsik, der auch Orbáns Lieblingszeitschrift, den "Ungarischen Demokraten" herausgibt, sprach über das Ringen von "Gut und Böse" und dass der große Vorsitzende als Repräsentant einer "engelhaften" Werteordnung das Schlimmste verhindern mag, im Schulterschluss mit den organisierten Bürgern.

Fricz wiederum sekundierte, dass die "undemokratische Europäische Union" mit ihrer Kritik an der 4. Verfassungsänderung Schritte einleitet, die "den Schutz der Demokratie" in Ungarn aushebeln will und man daran erinnern müsse, "was wahre Demokratie" bedeutet. Die EU sei nun einmal unterwandet von "ökonomisch mächtigen Kreisen" (eine der vielen Umschreibungen für das weltmachterheischende Finanzjudentum). Die ihnen dienlichen "Attacken der internationalen Presse gegen Ungarn" haben nichts weiter zum Ziel als "die Souveränität Ungarns" und deren Personifizierung, Premier Orbán, zu beseitigen, weil er, wie sie glauben, "der Welt ein schlechtes Beispiel" gibt.

Ungarn will die "Liebe" in die EU exportieren

László Csizmadia, Mitgründer des CÖF und kündigte an, dass der "Bürgerethikkodex" einzigartig sei und ihn man daher auch zu "anderen EU-Mitgliedern" exportieren solle, im Herbst soll dazu ein internationaler Kongress stattfinden. Lange genug habe man die "Stimmen der Bürger unterdrückt", zumal "Ungarn nicht das einzige Land ist, das nicht vollständig zufrieden mit den EU-Institutionen" ist. Der Kodex formuliert, dass "Jedermann zuerst seine nationale Identität leben soll", von "Liebe und Toleranz beflügelt" sein soll. "Universelle Moralwerte" werden in dem Werk beschrieben. Der Zusammenhalt der Bürger sei die größte Waffe gegen "Unmoral" der Zeit. Ryszard Kapuscinski, der Chefredakteur der Gazeta Polska, hinter der sich "350 NGOs" versammeln, bestätigte, dass auch in seinem Land "die Kommunisten um jeden Preis die Entwicklung der Bürgergesellschaft verhindern wollen". Dort aber "zeigt uns die katholische Kirche die richtige Richtung."

Verdienstorden für Schamanen, Nazisänger und Irre

Die richtige Richtung wird in Ungarn nicht so sehr von der katholischen Kirche angegeben, sondern mehr von der CÖF, den "Friedensmärschlern". Glücklich, eine Nation, die so eine Zivilgesellschaft hat. Und es werden immer mehr: nicht nur der
Echo-"Journalist" László Szaniszló, erhielt aus den Händen des "völlig ahnunglsosen" Ministers Balog für seine Reportagen am Rande des Wahnsinns, über den Einfluss der Juden, die tierischen Zigeuner, baldige Einmärsche von Außerirdischen, den Preis für den "Journalisten des Jahres".

 

Minister Balog, der "wirklich nicht wusste, wer da ausgezeichnet wurde", überreichte auch staatliche Orden und Urkunden an den - im doppelten Sinne - Frontsänger der Band Kárpátia, János Petrás, der auf einschlägigen Neonazi-Festivals gerne einmal von genetischem Abfall spricht und davon, dass man Schwule auch räumlich von "unseren Kindern" fernhalten müsse etc. Unter den Ausgezeichneten war auch ein "Archäologe" und "Historiker", den man anderswo eher als durchgeknallten Schamanen belächeln würde. Seine rassentheologischen Ableitungen von der Herkunft der Magayaren (Nachfahren der legendären Skythen und Hunnen), die Deutungen zur überall sichtbaren Runenschrift sind heute fast schon Mainstream und halten Einzug in Kinderbücher, den Schulunterricht und sogar die Reden Orbáns. Für diesen Mann war Jesus übrigens kein Jude, sondern ein parthischer Prinz (ein Reich auf dem Gebiet des heutigen Iran) und die Wiege Ungarns finden wir im Umfeld des alten Athen.

Verschwörungstheoretiker, Rassisten, Irrsinnige, kurz der "intellektuelle" Unterbau der Jobbik, erhalten aus den Händen eines Ministers der Fidesz-Regierung die höchsten staatlichen Auszeichnungen und der Staatspräsident hält ihnen noch eine Festrede darüber, welches "Vorbild" sie abgeben. Hätten Petöfi nicht schon 1849 russische Kugeln ereilt und wäre Kossuth nicht 1894 im Exil (mit freundlichen Grüßen des ungarischen Adels) gestorben, sie würden sich heute wahrscheinlich freiwillig unter die T-72 Panzer werfen.

cs.sz.

 

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