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(c) Pester Lloyd / 22 - 2013   GESELLSCHAFT 28.05.2013

 

Feudale Gnadenakte

Ständestaat Ungarn: Feuerholz und Kartoffeln für den Bodensatz

Die Regierung berichtet mit unverhohlenem Stolz von der Aufstockung ihrer Hilfsprogramme für die Bedürftigsten. Doch der stetig steigende Bedarf für die Armutsbekämpfung ist vor allem eine Armutserklärung ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hunderttausende können im Winter nicht oder kaum heizen, zigtausenden Anderen fehlt das Geld für einen Sack Saatkartoffeln, Kinder hungern. Die Antworten der Regierung darauf sind zynisch und die EU hat leider kein Vertragsverletzungsverfahren für Unmenschlichkeit im Programm...

Ein Abgesandter der Regierung überreicht einer “Bedürftigen” einen Sack Saatkartoffeln. 120.000 kamen bisher in den “Genuss” dieser Wohltat...

12% konnten im Winter nicht genügend heizen

Wie Daten des Statistischen Zentralamtes in Budapest offenbaren, waren im vorigen Winter rund 600.000 Haushalte nicht oder nicht ausreichend in der Lage ihre Wohnungen zu heizen. Die Zahl der Kältetoten sei mit 2.000 bis 4.000 seit Jahren unverändert, heißt es in einer Antwort des KSH auf eine Anfrage des Transparenzportals atlatszo.hu. Diese Schätzung beruht - anders als die Zahlen des Katastrophenamtes - auch auf Inkludierung jener Todesfälle, die aufgrund der Kälte und nicht adäquater Beheizung akuter gewordenen Krankheiten eingetreten sind. 600.000 Haushalte, das sind rund 12% aller.

Die Regierung stellte im letzten Winter ein Budget von rund 1 Mrd. Forint (ca. 34 Mio. EUR) für die Bewältigung der Kälteproblematik zur Verfügung, 150 Mio. HUF, also 15% mehr als im Winter zuvor. 2011 hatten 450 Gemeinden nach Hilfslieferungen für Feuerholz angefragt, 2012 waren es 1.650 der landesweit rund 5.000 Gemeindestrukturen. Atlatszo.hu weist in einer akribischen Studie nach, dass der Großteil der Gelder und Hilfsmittel nicht bei den Bedürftigsten angekommen ist und hat weitere Anfragen nach dem Informationspflichtgesetz gestartet, um den Hintergründen auf die Spur zu kommen. Offensichtlich wird also selbst auf dem Gebiet der milden Gaben noch betrogen. Diese Anfragen seitens der NGO´s dürften Anlass genug bieten, auch die letzten Datenlecks im KSH bald zu schließen.

Der Minister überreicht Kartoffelsäcke

"Zwei kinderreiche Familien in Kiskunhegyes erhielten den 99.999 und den 100.000. Sack Saatkartoffeln im Rahmen des Eigenbedarfs-Programms der Regierung". "Die beiden 30kg-Säcke wurden den Ehepaaren im mittleren Alter, die in schwierigen sozialen Umständen leben, von Landwirtschaftsminister Fazekas übergeben." 850 Kommunen haben sich um diese Art Hilfen bemüht, meldet die Regierung, die Zuteilung erfolgt "nach Bedürftigkeit", wer "nicht genug Geld hat einen 30kg Sack Kartoffeln auf einmal zu bezahlen", gehört dazu. Die Bezieher sind verpflichtet, aus dem Ertrag je einen Sack Kartoffeln zurückzugeben, damit andere auch in den Genuss der Hilfe kommen, so das Landwirtschaftsministerium. Für die kommenden Jahre ist eine Ausdehnung auf die Viehzucht und den Anbau von medizinisch nutzbaren Pflanzen geplant, teilt man uns noch mit.

Die Beflissenheit, mit der das Landwirtschaftsministerium diese gnädigen Hilfsprogramme, die uns an die Gnadenakte feudaler Herrscher erinnern, angeht, ausbaut und auch kommuniziert, sind ein sanfter Hinweis darauf, dass man davon ausgeht, dass in den nächsten Jahren eine weiter wachsende Zahl an Bürgern von diesen abhängig sein und werden wird. Das ist auch kein Wunder, denn der Ständestaat beruht seit jeher auf einem gewissen Bodensatz von Elend, er funktioniert nur so. Ex-Premier und oppositioneller Herausforderer, Gordon Bajnai, kennzeichnete die Sozialpolitik Orbáns einmal treffend mit den Worten: erst nahmen sie dem Volk das Brot, dann warfen sie ihnen die Krümel zurück...

Wohlfahrtsstaat für Besserverdiener

Besserverdiener wurden in Orbáns Ungarn
mit einer Steuerquote von 16% beschenkt, die untersten Einkommensschichten mit der gleichen Quote, aber bei Wegfall der Freibeträge, geplündert. Das nennt die Regierung offiziell "proportional" und "fair". Die als größte Wohltat gefeierte Preissenkung von 10% auf Strom, Gas und Fernheizung kommt den Reichen ebenso zu Gute wie den Armen, außer jenen, die nicht mal Gas- oder Stromanschluss haben; beide zahlen auch die gleichen Mehrwertsteuersätze auf Lebensmittel, die mit 18 bzw. 27% Europarekord markieren, schmerzen tun sie aber nur die Armen. 20 neue Steuern richtete die Orbán-Regierung ein, die das Volk angeblich nicht belasten, doch die Realeinkommen sanken um über 5% im letzten Jahr und "steigen" in diesem nur wegen einer geringeren Inflation, aufgrund ausbleibenden Konsums.

Den Opfern der Banken und Fremdwährungskredite, jenen, die sich nicht selbst helfen können, weil es die Arbeitsplätze, die so viel Geld bringen, dass man seine Bankschulden und das Leben gleichzeitig bezahlen könnte, nicht gibt, denen baut man - einigen davon - ein
Armenghetto am Stadtrand. Jene, die Geld oder Zugang zu Geld hatten, half die Regierung mit einem Ablöseprogramm für Forex-Kredite, bei dem sich mancher rund ein Drittel der Kreditsumme durch Einmalzahlung ersparte. Die anderen dürfen ihre Kredite nur verlängern, billiger werden sie nicht mehr. Die Kreditausfallquote hat im ersten Quartal 2013 ein neues Allzeithoch erreicht, die Zahl der unmittelbar von Zwangsräumungen Betroffenen auch, sie liegt bei geschätzt 170.000.

Jedes Fünfte Kind nicht adäquat ernährt...

Nimmt man den Durchschnitt der offiziellen Angaben und der Daten von NGO´s, lebt bereits rund ein Drittel der Ungarn in Armut, nicht nach UN- oder
EU-Kriterien definiert, sondern danach, dass sie sich existentiell notwendige Waren und Leistungen nicht oder regelmäßig nicht im notwendigen Maße kaufen können. Das Rote Kreuz schätzt, dass 25.000 Kinder im Lande regelmäßig hungern, 400.000, als jedes Fünfte, nicht adäquat ernährt werden, 120.000 Schulkinder gelten medizinisch als unter- oder fehlernährt, sagt sogar eine Statistik des Landwirtschaftsministeriums, die man allerdings seit ihrer Publikation nicht mehr laut vorgetragen hat.

Diese Zustände sind nicht neu, ihre Ursachen sind in der gesamten Machart der "Transformation" im Nachwendeungarn, im Macht- und Amtsmissbrauch aller Regierungen und im Systemfehler der EU zu suchen, die den Binnenmarkt über die Menschen stellte. Neu ist aber der starke Anstieg in Ungarn seit 2010, der deutlich von den Entwicklungen in vergleichbaren Ländern wie Tschechien, Slowakei, Polen, sogar Rumänien abweicht (auch wenn in Letzterem die Basisdaten ganz andere sind). Die ansteigende Verarmung in Ungarn hat also strukturelle Gründe. Es ist an der Zeit, dies zu erkennen und dagegen vorzugehen. Die Opposition versucht es, ist aber zu schwach oder mitschuldig und daher unglaubwürdig. Die Regierung wird es nicht, denn für sie ist Armut abschreckender Teil des Programms der postulierten "Arbeitsgesellschaft". Das Grundrecht auf Menschwürde wird so tagtäglich mit Füßen getreten. Doch ein
EU-Verfahren wegen Unmenschlichkeit ist (noch) nicht vorgesehen.

Wirtschaftsförderung nach Parteibuch

Auf der anderen Seite des neuen Feudalismus haben wir die
parteilich vervetterte Landvergabepolitik der Regierung unter der Losung "Bauernland in Ungarnhand", die gerade angesichts von Kleinbauernfamilien, die sich nicht mal ihr Saatgut leisten können, besonders krass hervorsticht und haben wir die komplexe Klientelpolitik, die von PR-Aufträgen an Parteifreunde über EU-Gelder an Off-Shore-Firmen bis hin zum Tabakhandelsskandal, dem wohl offensten und vollständigsten Raub in der Geschichte dieser Regierung, reicht. 35 Mio. staatliche Euro wurden gerade locker gemacht, um die Kalvinistenkriche in Debrecen zu restaurieren, Abermillionen wandern in die ungarischen Schulen zu den Schwestern und Brüdern ins "Karpatenbecken", nach Rumänien, die Slowakei, in die Ukraine, während man schon die Kernungarn nicht satt bekommt. 300 Mio. EUR (nicht Forint) soll das neue Fußballstadion in Budapest kosten, damit Budapest womöglich 2020 zu einer von 13 Sielstätten der EU wird. Dazu gibt es eine dauerberrieselnde Regierungskampagne unter der Losung: "Ungarn macht´s besser...".

 

Wer keine Arbeit finden kann, darf für maximal 170 EUR im Monat in einem Kommunalen Beschäftigungsprogramm den Wald fegen oder Müll sortieren. Fortbildungen, ein Aufstieg in den ersten Arbeitsmarkt, also selbstbestimmtes Leben sind darin nicht vorgesehen, wenn nicht Bürgermeister aus Eigeninitiave und Menschlichkeit selbst etwas anstoßen. Und wer jede Woche 40 Stunden unter den vorgesehenen Umständen schuftet, qualifiziert sich dann - vielleicht - auch für einen Sack Holz im Winter und eine Fuhre Saatkartoffeln im Frühjahr.

Dass das Landwirtschaftsministerium bald auch den Anbau von "medizinisch nutzbaren" Pflanzen für die Deckung des Eigenbedarfs fördern will, ist ein kleiner, zynischer Hinweis darauf, wie die kommende Gesundheitsreform aussehen könnte. Warum die Regierung nicht auch Baumsetzlinge verteilen lässt, auf dass sich die untersten Schichten ihre Hütten bald selbst zusammenzimmern, hat einen einfachen Grund: aus Bäumen kann man auch Knüppel herstellen...

red., cs.sz., ms.

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