Hauptmenü

 

KLEINANZEIGEN für UNGARN und OSTEUROPA ab 35.- EUR / 30 Tage!

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 24 - 2013   POLITIK 10.06.2013

 

Orbáns Siege sind Ungarns Niederlagen

Interview mit Gordon Bajnai, Hoffnung der demokratischen Opposition in Ungarn

Ex-Premier Gordon Bajnai ist einer der wenigen Oppositionspolitiker, den die Orbán-Partei wirklich zu fürchten scheint. Mit Vehemenz kampagnisiert Fidesz gegen seine Thesen und Auftritte. 2009 führte der Wirtschaftsprofi das Land durch die Finanzkrise, knapp vorbei am Staatsbankrott. 2014 will er an die Macht zurückkehren, um mit seiner Mitte-Links-Wahlallianz "Gemeinsam 2014" die Demokratie zu retten und Ungarn wieder zu einem "normalen" Land zu machen. Wir trafen ihn in Berlin im Rahmen einer Veranstaltung der Heinrich Böll-Stiftung.

Herr Bajnai, wie bewerten Sie die Einstellung des Defizitverfahrens gegen Ungarn durch die EU-Kommission?

Gordon Bajnai: Ungarn befindet sich heute in einer ernsthafteren Krise als im Jahr 2009, als ich das erste Mal das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. Damals waren die Weltwirtschaftskrise und die hohe Verschuldung die entscheidenden Ursachen für die Krise, die Ungarn zu schaffen machte. Unter Orbán haben wir seitdem große Rückschritte gemacht. Die Staatsverschuldung ist seit meiner Amtsübergabe an Orbán auf ein deutlich höheres Niveau gestiegen, auch wenn die Erfolgspropaganda der Regierung das anders darstellt. Damals bewegte sich das Land gerade mit einem Wachstum von 1,5 Prozent aus der Krise heraus. Ein großer Unterschied zum Wachstumsminus von 1,75 Prozent des letzten Jahres. Die aktuellen Expertenprognosen sehen auch für das Jahr 2013 keine Verbesserung.

Orbán feiert die Einstellung des Verfahrens als Erfolg seiner „unorthodoxen“ Wirtschaftspolitik und als Rettung der ungarischen Ökonomie aus dem „Loch, in das es von den Sozialisten gestoßen wurde“. Wie sehen Sie das?

Man kann sagen, dass wenn Viktor Orbán Siege feiert, diese für das Land meistens Niederlagen bedeuten. Natürlich, für sich genommen ist die Einstellung des Verfahrens eine gute Nachricht. Es steht jedoch in keinerlei Verhältnis zu dem Preis den wir dafür zahlen müssen, da das derzeitige System sich nicht aufrechterhalten lässt. Orbán nennt seine Wirtschaftspolitik "unorthodox". Ihm geht es jedoch nur darum, die notwendige Propaganda für seinen kurzfristigen Machterhalt zu sichern. Der wirtschaftliche Sachverstand und eine verantwortliche, langfristige und nachhaltige Politik für die Zukunft des Landes sind diesem Ziel zum Opfer gefallen.

Woran machen Sie das fest?

Das Wachstumspotential der ungarischen Wirtschaft hat sich langfristig in großem Maße verschlechtert. Orbáns unkalkulierbare und wirtschaftsfeindliche Politik hat zu einem hohen Vertrauensverlust bei Investoren geführt. Die Investitionen in Ungarn befinden sich heute auf den tiefsten Stand seit fünfzehn Jahren. Ungarn ist zu langfristigen Verlusten bei der Wirtschaftsleistung und enormen Schrumpfungen verdammt, wenn wir nicht eine Wende in der Wirtschaftspolitik herbeiführen können. Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf Rekordhöhe. Auch anhand des deutlichen Rückfalls der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und den erheblichen Verschlechterungen im weltweiten Korruptionsindexen zeigt sich: Die Regierung hat ihr Vertrauen verspielt. Im Vergleich zur Situation während der Weltwirtschaftskrise wird es uns dieser Vertrauensverlust viel schwieriger machen, Ungarn wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen.

Wie wollen Sie die derzeit 51 Prozent Unentschlossenen und Nichtwähler in Ungarn für einen erneuten Systemwechsel gewinnen?

Wir möchten die Wähler für einen Epochenwechsel gewinnen. Wir sagen ihnen, dass das System, dass wir 1990 nach dem Niedergang des Kommunismus aufgebaut haben - Demokratie, Marktwirtschaft, Westorientierung, Beitritt zur EU und NATO - ein gutes System ist. Dieses System müssen wir bewahren. Jedoch haben die Regierungen der letzten dreizehn Jahren Ungarn mit ihrer schlechten Regierungsführung von seinen ursprünglichen Zielen weit entfernt. Sollten wir es jetzt nicht schaffen, der miserablen und schädlichen Regierungsleistung des Fidesz, aber auch den Sünden und Verfehlungen der vorherigen Regierungen in die Augen zu blicken, dann bleiben wir in dieser Falle stecken. Deshalb müssen wir eine neue Epoche in der ungarischen Politik einleiten.

Ihre Wahlallianz "Gemeinsam 2014" befindet sich ein Jahr vor den Wahlen noch immer auf der Suche nach Partnern und einer klaren Wahlstrategie. Welche Zusammenschlüsse wird es noch brauchen, um das große Lager der Nichtwähler zu überzeugen? Bisher scheint dieses ja noch nicht sonderlich von ihrer Allianz überzeugt zu sein.

Die große Mehrheit der ungarischen Wähler hatte 2010 genug von den Vorgängerregierungen. Deshalb hat sie ihre Stimme dem Fidesz gegeben. Eine große Mehrheit dieser Wähler hat heute genug vom Fidesz, aber auch immer noch genug vom vorangegangen Zeitraum. Deshalb brauchen wir einen Epochenwechsel und eine neue Politik. Dafür müssen wir die Unentschlossenen überzeugen, indem wir ihnen klare, rechtliche und einlösbare Garantien dafür geben, dass wir etwas Neues aufbauen. Deshalb haben meine Partner und ich vor zweieinhalb Monaten unsere neue Allianz gegründet. Den aktuellen Umfragen nach bekämen wir bereits heute zehn Prozent der Stimmen. Wir werden noch viel mehr brauchen. Aber es zeigt bereits deutlich, dass in der ungarischen Gesellschaft ein konkreter Bedarf für eine neue Politik vorhanden ist.

Die Gewerkschaftsbewegung Szolidaritás, die Bürgerrechtler von Milla, Bajnais Think tank “Heimat und Fortschritt”, die LMP-Abspaltung “Dialog für Ungarn”. Als “Gemeinsam 2014” suchen sie weitere Bündnispartner für einen Macht- und Politikwechsel bei den kommenden Wahlen.

 

Die jüngst begonnenen Verhandlungen mit der MSZP über eine mögliche Wahlkooperation  werden bereits von Gerüchten begleitet, dass Sie auch eine Zusammenarbeit mit Ex-Premier Ferenc Gyurcsány und seiner Demokratischen Koalition anstreben. Wie passt das zu Ihrer Einschätzung, dass die ungarischen Wähler genug von der Vorgängerregierung haben und eine „neue Politik“ wollen?

Gibt es irgendwo eine derartige Meldung? Ich weiß nichts davon.

Nun, es gab Spekulationen. Sie selbst haben sich nicht entsprechend geäußert?

Nein, hab ich nicht. Wir planen im Sommer die Verhandlungen mit der MSZP zum Thema Regierungskoalition zu beginnen. Viktor Orbán hat Ungarn ein Wahlgesetz zur Aufrechterhaltung seiner eigenen Machtinteressen auferlegt. Es zwingt uns, die größeren Kräfte in der Opposition, dazu - und das ist die Mindestvoraussetzung - gemeinsame Kandidaten aufzustellen. Sonst haben wir keine Chance auf einen Wahlsieg. Der Fidesz hat also eine Situation erschaffen, in der Koalitionen, in unserem Fall mit der MSZP, bereits vor der Wahl eindeutig fest stehen müssen.

Also kein Gyurcsány?

Das ist jetzt noch nicht auf der Tagesordnung.

Aber es könnte noch auf die Tagesordnung kommen?

Das muss man später entscheiden. Aber lassen sie mich eins klar und deutlich sagen: Jegliche Koalitionsbildung ist nur dann vorstellbar, wenn diese den Werten unseres angestrebten Epochenwechsels entspricht. Wir werden nur mit solchen Akteuren koalieren, die sich klar dazu bekennen.

Werden Sie Spitzenkandidat oder besteht Attila Mesterházy, der Parteivorsitzende der Sozialisten, darauf?

Auf diese Frage antworten wir beide immer sehr ähnlich. Jede Frage, auch diese, müssen wir der Logik des Sieges unterordnen. Es muss derjenige Spitzenkandidat für das Ministerpräsidentenamt werden, der den breitesten Wählerzusammenschluss mobilisieren kann. Dabei geht es nicht nur um Parteien, sondern auch um den riesigen Pool der Nichtwähler. Zweitens: Derjenige, der Viktor Orban niederringen kann. Drittens: Derjenige, der danach auch gut regieren kann. Aber wie es genau wird, muss auch unter Einbezug der Meinung der potentiellen Wähler entschieden werden.

Wann wird es soweit sein?

Es ist natürlich anzustreben, diese Frage vor dem Wahlkampfauftakt, also spätestens im Herbst, zu klären.

Angenommen, Sie gewinnen die Wahlen. Wie wollen Sie ohne verfassungsändernde Mehrheit, angesichts vierzig Kardinalsgesetze und auf Basis einer Fidesz-Verfassung regieren? Ist Ungarn überhaupt noch regierbar?

Ungarn ist auf Basis der jetzigen Verfassung schwer regierbar. Der Fidesz hat absichtlich eine Verfassung und einen rechtlichen Rahmen geschaffen, die das Ziel verfolgen, selbst in der Opposition die Regierungsmehrheit erpressen zu können. Wir streben danach, das möglichst stärkste und größte Mandat zu erhalten. Wenn wir keine 2/3-Mehrheit erreichen, müssen wir mit der Opposition eine Einigung erzielen, um die Verfassung und Regierbarkeit Ungarns wiederherzustellen.

Gordon Bajnai ist seit Monaten quer durchs Land auf Tour, um für seine Inhalte und seine Bewegung zu werben. Auch er unterbrach während des Hochwassers die politischen Aktivitäten und half als Freiwilliger mit, wie viele Politiker der Regierungs- und Oppositionsparteien.

Kann man in Ungarn noch von freien und fairen Wahlen sprechen?

Frei, aber nicht fair. Zumindest nach dem jetzigen Stand. Die Situation ändert sich ja, selbst ein Jahr vor den Wahlen, noch fortlaufend. Der FIDESZ hat enorm viel Energie darauf verwendet, auch das Wahlgesetz nach seinen eigenen Interessen zu modifizieren.

Inwiefern?

Sie haben das Wahlgesetzt mannigfaltig manipuliert. Die Verschiebung von Wahlkreisgrenzen zum eigenen Vorteil, die Begrenzung der Wahlwerbung für andere Parteien, während sie selber hemmungslos die öffentlich-rechtlichen Medien für die eigenen Parteiziele missbrauchen. Gerade haben sie dem Parlament eine neue Finanzierungsregel vorgeschlagen, nach welcher Parteien, die keine gemeinsamen Kandidaten aufstellen, mehr Geld bekommen, als Parteien, die sich auf gemeinsame Kandidaten einigen. Damit wollen sie Allianzbildungen innerhalb der Opposition unattraktiv machen und uns dazu treiben, als Einzelkämpfer in die Wahlen zu ziehen. Wer sich vereint, kriegt weniger Geld. Die Aufzählung ließe sich noch lange weiterführen. Der Fidesz hat sich das Wahlsystem auf den Leib geschneidert. Das erschwert uns den Sieg. Anders gesagt: Wir brauchen viel mehr Wähler als der Fidesz, um zu gewinnen. Das ist ein manipuliertes Wahlsystem. Die Venedig-Kommission und zahlreiche internationale Beobachter haben es kritisiert. Und der Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen, sie werkeln weiter daran. Zurzeit sieht es also noch so aus, dass die Wahlen frei sein werden, aber nicht fair.
 
Letzte Frage: Viktor Orban feierte vor wenigen Tagen (am 31. Mai) seinen 50. Geburtstag. Was wünschen Sie ihm?

Gute Gesundheit. Und dass er baldmöglichst sein langes Rentnerdasein beginnen dürfe.

Das Gespräch führte Christian-Zsolt Varga
Abb.: Együtt 2014

G2014 Webseite
http://www.egyutt2014.hu/

G2014 auf Facebook
http://www.facebook.com/egyutt2014

Gordon Quichote: Bajnai kämpft gegen die Regierung und ringt mit den Verbündeten
http://www.pesterlloyd.net/html/1301gordonquichote.html
darin viele weiterführende Links

Möchten Sie den Pester Lloyd unterstützen?