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(c) Pester Lloyd / 26 - 2013   NACHRICHTEN 26.06.2013

 

Finanzieller Amoklauf + ökonomische Irrfahrt

Was tun gegen die Massenverschuldung der Bürger in Ungarn?

Am Mittwoch erwarteten Hunderttausende Schuldner von Fremdwährungskrediten ein wegweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofes, der sog. Kurie. Diese vertagte aber die sehr brisante Antwort auf die Frage, ob die meisten Forex-Kreditverträge womöglich sittenwidrig sind und annuliert werden müssen. Während Hunderttausende Forex-"Kreditopfer" mit ihrem Schicksal hadern, die Fachwelt der Massenüberschuldung hilflos gegenübersteht, verdient die Regierung daran noch politisches Kleingeld. Die EU lieferte der Orbán-Regierung eine Steilvorlage, eröffnet sie doch justament ein Vertragsverletzungsverfahren: wegen der Beschränkung von Forex-Krediten...

Budapest am Mittwoch: eine Demo von Forex-Kredit”Opfern” eskaliert. Es weht die nazistisch belastete Árpádfahne, doch die Polizei schritt nicht deswegen ein, sondern, weil einige versuchten, in die Gebäude der Kurie bzw. der Finanzaufsicht einzudringen.

Ein entsprechender Präzedenzfall wäre ein Albtraum für die Banken in Ungarn

Die Kurie sollte am 26. Juni in dem richtungsweisenden Spruch über die Klage eines Kunden der größten ungarischen Bank, OTP, befinden, der beklagte, dass die Bank die schwankenden "Kosten für Wechselkursgebühren" nicht explizit in seinem Fremdwährungskreditvertrag aufgeführt hatte. Der Vertrag müsse daher annulliert werden. Die erste Instanz, ein Bezirksgericht, wies die Klage im April 2012 ab, doch das Budapester Appelationsgericht gab ihm im Dezember Recht. Die OTP ging daher zur letzten Instanz. Ein für den Kläger positives Urteil würde eine für die Banken sehr teure, wenn nicht ruinöse Präzedenz schaffen, daher nimmt sich die höchste Gerichtsinstanz auch mehr Zeit für das Urteil und hat dessen Verkündung gestern auf den 4. Juli verschoben.

Finanzaufsicht warnt Gericht vor Banken-Run und Staatsbankrott

Während - auch gestern - auf der Straße eine "Selbsthilfegruppe" von "Forex-Kreditopfern" unter zunehmend rechtsextremer Symbolik und recht vereinfachter Sichtweise (von "gierige Banken" bis "Weltfinanzjudentum" ist alles dabei), eine
wachsende Protestbewegung anführt, warnte die staatliche Finanzaufsicht PSZÁF in einem ungewöhnlichen Schreiben die Kurie vor einem Urteil, das in der Folge "bis zum Staatsbankrott" führen, zumindest aber der Ökonomie schweren Schaden zufügen könnte, da bei einer massenahften Annullierung von Kreditverträgen die herrschende Kreditklemme zu einem Kreditstopp führen müsste, Banken Pleite gehen könnten und auch die Kreditwürdigkeit des Staates schweren Schaden nehmen dürfte. Sogar vor einem Banken-Run warnte die Finanzaufsicht.

Fidesz: Wieso vertritt die Finanzaufsicht die Interessen der Finanzwirtschaft?

Die Regierungspartei Fidesz, die für sich in Anspruch nimmt, als "Befreier des Volkes von Fremdherrschaften" aller Art, eben jenen "Opfern" zu helfen, in dem sie "die Bürden der Krise (erstmals) auf alle Schultern" verteilt (Bankensondersteuern, Kreditablösemodell, Forex-Umtauschmodell, Notwohnsiedlungen), nahm die Vorlage der PSZÁF gerne auf, lieferte diese Stellungnahme doch ein weiteres Argument, warum die für den Herbst
vorgesehene Auflösung der PSZÁF und Übergabe ihrer Agenden an die Nationalbank notwendig und nützlich ist. So braucht man niemand mehr Rechenschaft darüber ablegen, warum die Finanz- und Bankenaufsicht ausgerechnet von einer Bank unter Fidesz-Aufsicht geleitet werden soll, trat die PSZÀF doch mit ihrem Schreiben den Nachweis an, dass sie eher die Interessen der "internationalen Finanzmärkte", statt die der Kunden vertritt und dabei auch noch versucht die "unabhängige Justiz" zu beeinflussen. "Wir haben das Gefühl, dass die Behörde das Pferd von hinten aufzäumt", sagte Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán triumphierend.

Polizisten schützen Banken vor Protestierern. Die sehen deren Gier als Grund für ihre Pleite, die regulative Verantwortung des Staates sieht man erst danach, die eigene Fahrlässigkeit überhaupt nicht?

Höchster Bankenaufseher schickte Forint regellmäßig auf Talfahrt

Bereits am Montag waren zwei Stellvertreter und ein Hauptabteilungsleiter der Behörde
zurückgetreten. Nur der Direktor ist noch im Amt. Interessanterweise aber sind alle bereits von Fidesz ernannt worden. Die zynische Ironie an dem ganzen Behördengeschacher: die Bankenaufsicht und damit auch die Macht über das Schicksal der Forex-Schuldner gerät nun ausgerechnet in die Hände jenes György Matolcsy, der als Finanz- und Wirtschaftsminister mit seinen jenseitigen Äußerungen regelmäßig den Forint auf Talfahrt geschickt und damit die Kreditraten seiner Schutzbefohlenen, aber auch die Staatsschulden nicht unwesentlich erhöht hat.

EU-Vertragsverletzungsverfahren: absurd und zur Unzeit

Doch auch wenn bei den Protestierern vor der Kurie das Feindbild - aus Sicht der Regierung - noch stimmt, Bilder mit Polizeieinsätzen gegen Schuldner kratzen am sorgsam aufgebauten Image des "Ungarn macht´s besser" und sollten vermieden werden. Wie gerufen, macht die EU der Propagandaabteilung der ungarischen Regierungspartei da wieder eine besondere Freude: just in die hitzige und, angesichts der schieren Masse der Betroffenen, sozial höchst sensiblen Debatte über den Umgang mit den Forex-Krediten, platzte am Mittwoch die Nachricht herein, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen der dort herrschenden gesetzlichen "Beschränkung" bei der Vergabe "von Fremdwährungskrediten" anleiert.

Die von Fidesz verabschiedeten Einschränkungen, die fast einem Totalverbot gleichkommen und "zum Schutz der Bürger" vorgenommen wurde, verstoßen offenbar gegen Binnenmarktregeln und den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs in der EU. Die Kommission bezieht sich dabei auf ein Regierungsdekret von 2011, das den Zugang zu Forex-Krediten nur für solche Bankkunden gestattet, die in der Kreditwährung auch ihr Einkommen beziehen oder deren monatliches Forinteinkommen zumindest das 15fache des ungarischen, gesetzlichen Mindestlohnes beträgt, d.h. sie müssten umgerechnet wenigstens 5.000 EUR im Monat "verdienen", das hat in Ungarn bald höchstens noch ein Zigarettenverkäufer...

Die staatlichen Hilfsmodelle halfen nur "vermögenden" Schuldnern und Schmarotzern

Die Kommission, die offenbar in ihren Vorschriften und formalen Abläufen gefangen ist, liefert, ob sie will oder nicht, der ungarischen Regierung hier wieder eine Steilvorlage: seht nur, die EU zwingt euch in die Schulden, vertritt die Interessen der Finanzmärkte, wir aber schützen euch etc. Dabei sind die Hilfsmaßnahmen, die der Staat vor allem den Hunderttausenden Forex-Schuldnern, die bereits zahlungsunfähig sind, anbot, mehr als fraglich. Das
Forex-Ablösemodell diente eher der eigenen Klientel und anderen Besserverdienern sowie einigen schmartozenden Randgruppen des Geschäftslebens (Immobilienmaklern etc.) als Konjunkturprogramm, das bis 2017 verlängerte Umtauschmodell wiederum führt zu einer Laufzeitverlängerung, die die Ungewissheiten der Schuldner eher vergrößert als verringert und auch den Banken wenig Trost in Form gewachsener Sicherheit spendet. Ein geordnetes Verfahren zur Privatinsolvenz ist im Gespräch, aber noch längst nicht Realität. Auch das Moratorium über Zwangsversteigerungen nahm die Regierung bereits schrittweise zurück, als Zugeständnis an die Banken, damit diese weiter eine hohe Steuerbelastung und geringere Gewinne hinnehmen.

Ein kleiner Vorgeschmack auf Kommendes? Was passiert, wenn wirklich Hunderttausende ihre Bleibe verlieren. Rezepte haben weder die Banken, noch der Staat. Der hat nur die Polizei.

Banken machten Riesenprofite, Staat blieb trotz Sondersteuern hoch verschuldet

Dabei darf nicht übersehen werden, dass der finanzielle Spielraum, den der Staat hat, die von seinen Bürgern eingegangenen Risiken abzufedern oder aufzufangen in Ungarn von jeher sehr gering war und auch heute ist und die Belastungsgrenze der Banken für Sondersteuern und Nachlässe auf Umtauschkurse etc. allmählich erreicht scheint, wenn man den Bogen nicht Richtung massivem Kapitalabfluss überspannen will. Die Staatsschulden betragen 80% der jährlichen Wirtschaftsleistung und die Bankensteuern sollten vor allem den staatlichen Schuldenberg abbauen.

In der Gesamtbilanz haben die Banken mit den Forex-Krediten ein Riesengeschäft gemacht, die Abschreibungen belasten zwar die heutigen Gewinnprognosen, nicht aber die Milliarden, die man über die Jahre bereits eingestrichen und - im Falle der ausländischen Banken - oft auch abgezogen hat.

Man darf nicht vergessen, dass die Finanzinstitute nicht nur an den Zinsen und Bearbeitungsgebühren dieser Kredite verdienten, sondern vor allem an dem Spiel mit den Wechselkursen. Während der Schuldner die Frankenrate pünktlich zum jeweiligen Stichtag zum Tagesforintkurs hinzublättern hat, kann die Bank die Forint solange bei seinen Währungshändlern parken, bis ein besserer Kurs zu erzielen ist, die eigene Refinanzierung regelte man über die Einlagen oder andere Währungsreserven. Das erkärt auch die großen Schwankungen des Forint in relativ kurzen Perioden. Auf diese Weise rechneten sich auch Kredite, die nur ein paar Jahre bedient wurden und dann abgeschrieben werden müssen.

Banken wollten Marktanteile, Politik begrüßte jeden Euro im Land

Die Forex-Kredite bis ca. 2008 als als zinsgünstige Alternative zu den Wucherkrediten in Forint massiv vor allem in Schweizer Franken, USD oder EUR vergeben, für Wohneigentum genauso wie für Autos, Konsumgüter, Reisen, brachten seit der Lehman-Krise massive ökonomische und soziale Probleme. Verursacht vor allem durch den Wertverfall des Forint gegenüber dem CHF und EUR und die steigende Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Einkommenseinbußen. Im Kampf um Marktanteile und mit Aussicht auf hohe Gewinnmargen, wurden Kredite oft an Kunden mit einer Bonität vergeben, die anderswo nicht mal für einen Fahrradausleih genügt hätte und unter Versprechungen seitens der Banken, die mit grob fahrlässig noch höflich und zurückhaltend beschrieben sind (siehe den eingebetteten
Werbespot der ung. Tochter der österreichischen Raiffeisen aus dem Jahre 2007, mit engl. Untertiteln). Die damals herrschenden "sozialistischen" Regierungen taten nichts gegen den finanziellen Amoklauf der Bürger und Banken, regulierten so gut wie nichts, denn sie sahen jeden ins Land kommenden Euro oder Franken als Gewinn an und hatten ansonsten mit ihren eigenen Geschäften zu tun.

Mehr als ein Viertel aller Hypothekenkredite ist faul

Doch mit dem Abflauen der Krise legte sich das Problem keineswegs: im ersten Quartal 2013 erreichte der Anteil der "non performing loans" (NPL), also der faulen Kredite (Raten von mehr als einem Mindestlohn sind mehr als 90 Tage überfällig) am Gesamtkreditportfolio 18% im Schnitt aller in Ungarn aktiven Banken, bei Hypothekenkrediten sogar über 26%, ein absoluter Rekordwert.
Mehr dazu. Die Folge: 170.000 bis 200.000 Wohneinheiten sind von Zwangsversteigerung und damit rund 600.000 Menschen von Zwangsräumung bedroht. Rund 500.000 weitere Kredite werden gerade so im vorgegebenen Limit bedient, stehen also auf der Kippe. Der Staat will jährlich bis zu 5.000 der vom totalen sozialen Abstieg betroffenen Menschen auffangen, mehr kann und will er zu dem Thema nicht leisten, denn die Flat tax, die Besserverdienern bis zu 40% mehr Einkommen beschert und andere ständisch ausgerichtete Maßnahmen sind als politisch wichtiger eingestuft, die Staatsschulden außerdem vorrangiger als die privaten Schulden.

Parteiwirtschaft als Alternative zur Finanzwirtschaft?

Gleichzeitig versucht man Schritte, den Kreditmarkt durch höheren Staatseinfluss stärker zu regulieren, zumindest den Einfluss der ausländischen Banken zurückzudrängen (Anteil am Kreditgeschäft derzeit rund 75%, Zielvorgabe: 50%). So hat sich der Staat gestern bei zwei kleineren Banken (Granit und Széchenyi) eingekauft, erstere gehört übrigens einem einschlägig bekannten Regionaloligarchen. Auch durch eine Förderung der Spargenossenschaften, die in der - ebenfalls staatlich dominierten - Takarékbank zusammengefasst werden und Kreditprogramme (für KMU) der Nationalbank, erhofft man sich stärkeren Einfluss auf die Finanzwelt. Für den Kunden bedeutet das nur den Schritt vom Regen in die Traufe, was bisher reine Profitgier steuerte, wird nun auch noch von Machtinteressen regionaler Parteifürsten bestimmt. Ein System, für dass sich die Bürger bedanken werden, denn das kennen sie schon zur Genüge.

Für das Verlassen des Kaptialismus fehlt schlicht das Geld...

 

Die Orbán-Regierung hofft indes, dass der lange herbeigerufene Aufschwung ("der Europa überraschen wird", Orbán) die Einkommenssituation letztlich von allein verbessert. Doch die Maßnahmen, die man in diese Richtung bisher ergriff, haben die Konjunktur und die Investoren eher verschreckt. Die Mischung aus Volksbefreiungsformeln, Klientelpolitik, Paternalismus und frömmlendem Wunschdenken führten zu einer Gulaschwirtschaft, die viele in ihrem Ergebnis an die Kádárzeit erinnert, in der sich die gut Vernetzten Bereicherten, der Rest sich in der Grauwirtschaft durchwurschtelte, während es gesamtökonomisch immer weiter bergab ging. Nur der große Bruder, damals die SU, heute die EU, schossen immer mal wieder Öl ins Getriebe....

Für das Hauptregierungsziel: den Ausstieg aus der schuldenfinanzierten Wirtschaft und dem schuldenfinanzierten Staat, also sozusagen den Abschied vom internationalen Kapitalismus, fehlt, so banal es klingt, einfach das Geld. Da kommt es gelegen, mit den Banken und der EU wenigstens dem ungeduldigen Volk dankbare Feindbilder vorführen zu können, die von den eigenen ökonomischen Irrfahrten ablenken...

red. / cs.sz. / m.s.

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