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(c) Pester Lloyd / 27 - 2013   POLITIK / GESELLSCHAFT 03.07.2013

 

Hidden realities

Orbáns Ungarn zwischen "Freiheitskampf" und systematischer Plünderung des Landes

Während Ministerpräsident Orbán am Dienstag ins EU-Parlament einzog, um Ungarn ein weiteres Mal gegen die imaginären Feinde seiner Nation "zu verteidigen", versucht die Opposition das Augenmerk auf die "Realpolitik" der Fidesz-Regierung zu lenken. Ex-Premier Gordon Bajnai warf ihr auf einer Demo die "Plünderung des Landes im industriellen Maßstab" vor. Obwohl sich die Budapester Kleptokratie in der letzten Woche sehr eindrücklich manifestierte, bleibt der Wutbürger eine kleine Minderheit. Orbán sichert seine Wählerbasis einfach und wirkungsvoll durch einen Anteil an der Beute.

“Ich sage Nein zur Korruption.” Anhänger der Mitte-Links-Allianz “Gemeinsam 2014”
am Montag vor der Zentrale der Regierungspartei Fidesz.

Bajnai: Fidesz hat keine moralische Grundlage mehr als Regierungspartei

Ex-Premier Bajnai,
Kopf der Mitte-Links Wahlallianz "Gemeinsam 2014", zitierte vor der Fidesz-Parteizentrale am Montag - und vor nur wenigen Hundert Anhängern - Orbáns Äußerung gegenüber Diplomaten aus dem Jahre 2010, wonach man ihn nicht an seinen Worten, sondern seinen Taten messen sollte. Seine Taten aber bedeuten die gesetzliche Unterstützung für "Diebstahl und Landraub". Orbán unterstütze mit seinen Gestzen diese "Plünderung im industriellen Maßtstab" aktiv. Das Wahlvolk möge sich vorstellen, was geschieht, wenn diese Regierung weitere vier Jahre im Amt bleibt, so Bajnai. "Sie werden Euch vollständig ausrauben und Euch wird nur Eure Wurt bleiben." Ungarn würde auf diese Weise in ein "Pulverfaß verwandelt werden, das jede Minute hochgehen kann." Bajnais Resümée: die Führer des Landes haben jede Glaubwürdigkeit verloren, "stehlen schamlos von den Bürgern" und haben daher jede "moralische Grundlage" fürs Regieren verloren.

Jávor: Alltäglicher Raub an den Ärmsten

Benedek Jávor, von der grünen Partei "Dialog von Ungarn", ergänzte, dass es nicht nur die spektakulären Korruptions- und Amtsmissbrauchsfälle, sondern auch einen "alltäglichen Raub" an den Bürgern gibt. Den "Ärmsten werden durch die
Flat tax jeden Monat Zehntausende Forint gestohlen", der Staat "zog sich ausgerechnet aus den Bereichen zurück, wo er am dringendsten gebraucht wird und mischte sich in Bereiche, wo er absolut nichts zu suchen hat." so Javor. Gleichzeitig habe man das "Land mit Angst durchsetzt", so Jávor. Andere Redner versuchten auch, die angesprochenen Raubzüge in den Kontext des Rechtsstaats- und Grundrechtsabbaus zu stellen, was belegt, dass es sich nicht um temporäre Selbstbereicherung im Machtrausch handelt, sondern eine strukturelle Kleptokratie geschaffen wird.

Fidesz` “Willkommensgruß” an die Demonstranten: “Vereinigte linke Mafia...”.
Gibt es also auch eine rechte Mafia?

Eine Woche Beutezug:

Anlässe für den Protest gab es in den letzten Tagen tatsächlich wie am Fließband, was das Bild vom "industriellen Maßstab" stützt:

> Zunächst war da das Inkrafttreten des Tabakhandelsmonopols per 1. Juli, das mit einer skandalösen
Vergabe von lukrativen Tabkhandelskonzessionen an Fidesz-Parteigänger sowie deren Verwandten- und Freundeskreis einherging. Ablauf und Umstände dieser "Ausschreibung" sind in ihrer offenen Verachtung für jede Fairness und Gesetzlichkeit ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie sicher sich Fidesz seiner Macht im Lande zu sein scheint.

> Zeitgleich traf - aus obigem Anlass, aber mit weiterreichender Wirkung - ein Gesetz in Kraft, das die Auskunftspflicht von Behörden und das Auskunfstrecht für Bürger und NGO´s (Informationsfreiheit) stark einschränkt und so zukünftig z.B. die Bekanntmachung von Details über fragwürdige Ausschreibungen verhindern kann oder auch diverse off-shore-Konstrukte von Unternehmen, die in den Genuss staatlicher oder EU-Beihilfen kommen, verschleiern hilft.
Hier mehr dazu.

> Am Freitag unterschrieb Präsident János Áder zudem
das neue Bodengesetz, das nach Ansicht der Kritiker eine gesetzliche Zementierung der "neuen Fidesz-Feudalwirtschaft" bedeutet, bei dem sich wiederum Kader der Regierungspartei und deren Umfeld an Ländereien bereichern unter dem Argument, die Bodenspekulation durch Ausländer zu beenden und "Kleinbauern" zu helfen. Doch die Ergebnisse der "korrekten Ausschreibungen" sprechen eine eigene Sprache.

> Ebenfalls in der Vorwoche wurde - gegen das Veto des Präsidenten - ein Gesetz zur
Beschlagnahme von Bezirkseigentum (Lex Margareteninsel) seitens der Fidesz-Stadtverwaltung sowie ein Gesetz zur einfacheren Enteignung von privaten Immobilien für die "erleichterte Wohnungssuche" für Parlamentarier und "andere Würdenträger" auf den Weg gebracht, das auch Enteignungen bei hoher "Lärm- oder Emmissionsbelästigung in bewohnten Gebieten" erlaubt.

> Per 1. Juli übernimmt das Amtes des Ministerpräsidenten, konkret der dort für  "Außenbeziehungen" zuständige Staatssekretär János Lázár, sämtliche
Agenden und Mittel der "Außenwirtschaftsförderung" vom Wirtschaftsministerium. 2014 kommen dann noch die Vergabekompetenzen für die EU-Milliarden hinzu, die von der Nationalen Entwicklungsagentur auf den Adlatus des Premiers übergehen, freilich nur, um ein "effizienteres System" der Vergabe zu schaffen - und nebenbei ein Präsidialsystem

> In der Vorwoche bestimmte die Regierungsmehrheit per Gesetz, dass Apotheken, die bis zu einem nahen Stichtag nicht mehrheitlich im Besitz seitens des konzessionierten Apothekers sind, (teil)verstaatlicht werden können, in dem der Staat den nicht eingezahlten Anteil zur Erlangung der Mehrheit zunächst übernimmt und dann - in Form eines vergünstigten Kredites - an jemanden übergibt. Beobachter erkennen hier ein ähnliches System wie bei den Tabakhandelslizenzen, da die Vergabe der Kredite, sprich Lizenzen für den Betrieb von Apotheken, dem gleichen "Ausschreibungsmodus" unterliegen werden.

Ein besonders illustratives Beispiel der Vetternwirtschaft liefert Fidesz-Youngster Rogán ab.

Im ganzen Land gibt es seit 1. Juli statt 40.000 nur noch 3.500 Verkaufsstellen für Tabakwaren. Auffallend häufig aber gleich mehrere nebeinander, “Ehegattensplitting” fideszmódra?


Rechte Mafia "grüßt" linke Mafia

Die Regierungspartei mag sich nicht viel mit der lästigen Opposition im Inland abgeben und antwortete auf ihre lapidar-aggressive Weise auf den Aufmarsch der Demonstranten vor ihrer Parteizentrale. Dort empfing sie die Demonstratnen mit einem Transparent mit der Aufschrift: "Die linke Mafia vereint!" (das "Együtt", dt. vereint bzw. gemeinsam ist auch der Name von Bajnais Oppositionsallianz), mit den Fotos der Ex-Premiers Gyurcsány und Bajnai, MSZP-Chef Mesterházy sowie der Unterweltgröße Tamás Portik, der in einen angeblichen
Geheimdienstskandal mit der Vorgängerregierung verwickelt war.

Gordon Bajnai, der als außerparlamentarischer Oppositionsführer die Hoffnung der demokratischen Kräfte im Lande für 2014 repräsentiert und gerade versucht mit der MSZP und anderen Gruppen eine Wahlallianz zu schmieden, ist von der Regierungspartei als Hauptgegner eingestuft worden, weswegen auch die Vorwürfe gegen ihn mit besonderer Heftigkeit vorgetragen werden.
Zuletzt unterstellte man ihm Steuerbetrug bzw. -vermeidung durch Firmen im Ausland.

Verbrecher lernen von Verbrechern: Kontrollen abschaffen, Bestrafung durch Gesetze verhindern

Fidesz konzentriert sich lieber auf das "große Ganze" und lenkt mit äußeren Feinden ab. Das ganze System des "linken Internationalismus", gemeint vor allem die "neue Sozialdemokratie" - also gewendete Altkader und junge Profiteure der "Transformation", samt ihrer ausländischen Unterstützer (die reichen von Kommunisten, Grünen, Liberalen bis hin zum Finanzmarkt) wird als ein Verbrechen am Volk dargestellt, das es zweifellos auch war (graue bis dunkelschwarze Privatisierung, blinde Übernahme der EU-Binnenmarktanforderungen, einseitige unsoziale Sparpakete, systematische Selbstbereicherung von Kadern und Günstlingen etc.), nun allerdings lediglich durch ein noch gründlicheres und legislativ gestütztes System der Aufteilung der "Beute" durch eine andere Klasse von Betrügern abgelöst wurde.

Die "nationale Revolution" unterscheidet sich vor allem dadurch von den System der Vorgänger, da sie das System der
verfassungsmäßigen Ordnung insgesamt in Frage stellt, die Demokratie strukturell untergräbt, checks und balances aushebelt und sämtliche wichtigen Behörden und Verfassungsorgane, samt öffentlicher Medien, gleichschaltet, was neben der Machtzementierung vor allem auch der Vermeidung von Aufdeckung und Ahndung ihrer Missetaten zu einem späteren Zeitpunkt dient. Insofern hat man von der "vereinigten, linken Mafia" gelernt und mit dem Transparent impliziert und zugegeben, dass es auch eine "rechte Mafia" gibt.

Allzuviele Europaabgeordnete wollten sich die immer gleichen Wortspenden Orbáns nicht mehr antun.

Propaganda aus der historischen Mottenkiste: Persönlichkeitsstörung oder glatter Betrug?

Deutlich mehr Aufwand als auf den unmittelbaren politischen Gegner im Innern verwendet die Regierung derzeit bei der "Verteidigung Ungarns" gegen Europa und der dortigen Linken (Kommunisten, Sozialisten, Gründe, Liberale), die Europa ihren Lebensstil diktieren wollen, im Profitinteresse der Großkonzerne und der Finanzmärkte nationale Kontrolle und daher auch Nationalstaaten bekämpfen und einem Land wie Ungarn, das die Interessen der Bürger wahrnimmt und
als einziges in Europa sich rundum positiv entwickelt, eben, weil es nicht dem europäischen Mainstream folgt, einen Strick drehen will: seitens der EU-Institutionen genauso wie seitens der "Bilderberger" und anderen "Kreisen". Das werde man aber nicht zulassen, denn "das Volk" steht hinter seiner Partei und die Zeit wird sämtliche Lügen und Vorurteile (Tavares-Bericht, Bericht der Venedig-Kommission) widerlegen, Ungarn seinen Weg gehen.

EU-Parlament schlimmer als ein Schauprozess unter Stalin?

Diese Formulierungen, eigentlich abgeschmackter Bockmist aus der historischen Mottenkiste von Opfermythen, Fremdschuldthesen und Stellvertreterkriegen, stammen allesamt aus aktuellen Aussagen des Regierungschefs, aus Fidesz-Presseaussendungen sowie einem Interview des Parlamentspräsidenten.

Am heutigen Dienstag trat Orbán genau in diesem Duktus, natürlich weichgespült und erweitert um einige gelogene Bekenntnisse zu "europäischen Werten", im Europäischen Parlament auf. Liest man dazu noch einmal die Aufzählung der Gesetzesvorlagen der Vorwoche, erkennt man die Tragweite der Parallelwelten, in die sich diese Regierung mittlerweile versponnen hat. Wer gegen Orbán ist, ist gegen Ungarn. Das ist die Devise, die übrigens von den EVP-Kameraden nach wie vor mitgetragen wird. Höhepunkt: Fidesz-Europaabgerdneter József Szájer, einer der Autoren der neuen ungarischen Verfassung und Gatte der Präsidentin der obersten Richterkammer, ruft ins Plenum, dass Ungarn im EP schlimmer behandelt wird als die Angeklagten bei den Stalinschen Schauprozessen, die hätten mehr Redezeit zugestanden bekommen... (Danke, HV, für die Dokumentation dieses Highlights).

Hier die "promoted", die verkündete, dort die "hidden", die versteckte, verschwiegene, aber gelebte Realität. Und überall der Wahnsinn: die ökonomische Traumwandlerei und das geschichtsrevisionistische "Nation building" mit
Blut-und-Boden-Phrasen gehören ebenfalls zu den multiplen, politischen Persönlichkeiten der neuen Nomenklatura. “Freiheitskampf” dort, Beutezug hier. Psychologen ordnen so etwas als schwere Persönlichkeitsspaltung, eine dissoziative Identitätsstörung, ein. Es ist aber keine Krankheit, sondern bewußter, glatter Betrug.

Natürlich stimmt es, dass die Prioritäten in der EU von Märkten und ihren Mechanismen gesetzt werden. Das ist falsch und gefährlich. Doch die Alternative, die Orbán seinem Land als angebliche Antwort darauf anbietet, ist eine nationale Autokratie, eine Entfremdung von jenen Werten Europas, die es zu verteidigen lohnt. Er beklagt die falsche oder anmaßende Führung durch die EU und bietet sich selbst als Führer in ein System an, dem Selbstbestimmung ein Fremdwort und bürgerliche Freiheit nur schmückendes Beiwerk ist.

Minderheit regiert Mehrheit, - zurück in den Gulaschstaat

Das Volk zieht - in der Mehrheit - einen logischen, wenn auch wenig hilfreichen bis gefährlich naiven Schluss aus der Sache: der Politik, unseren Politikern kann man nicht trauen. Das Thema EU ist ohnehin zu komplex. Daher lieber keine Politik. Dies erklärt auch, warum angesichts der oben aufgelisteten Dreistigkeiten (und das ist nur ein kleiner Ausschnitt) nur einige Hundert Menschen, manchmal ein paar Tausend zum Protest antreten. Die Alternative in den Angeboten der Opposition ist für viele nicht erkennbar oder unglaubwürdig, entweder, weil die selbst in den großen Volksbetrug involviert war oder ihre Konzepte und Strategien zu schwach erscheinen. Die Ausstrahlung von Stärke, sei sie auch eine behauptete, war jedoch stets eines der wichtigsten Wahlargumente für das "einfache" Volk. Entsprechend schwer haben es wirkliche Demokraten gegen Poupulisten.

Anderswo Barrikaden, in Ungarn Gartenzäune

Die Ungarn kennen das Leben in einer "hidden realtiy", einer diffusen Parallelwelt, die tangential zum staatstragenden System funktioniert, aber immerhin funktioniert. Sie haben sie in der Kádár-Zeit als "Gulaschkommunismus" ja selbst erfunden! In dieses System zwischen Duldung, Selbstbetrug, Selbstmitleid und den Staat austricksender Cleverness / Dreistigkeit gedenken sich die meisten auch jetzt wieder einzurichten. Anstatt zu demonstrieren, wird gemeckert und gesoffen, was anderswo die Barrikaden sind, ist in Ungarn der Zaun um das eigene Kleinhäuschen.

Demokratisch legitimierte Plünderung

 

Die Umfragen brauchen Orbán und seine soundsoviel Räuber also nicht beunruhigen: knapp die Hälfte der Wahlbürger kehrt der Politik im Moment ganz den Rücken, sie stützen damit indirekt Fidesz und wird mit ein paar vermeintlichen Wohltaten belohnt, 8% sympathisieren mit den Neonazis von Jobbik, rund 25% der Wahlberechtigten stellen die Fidesz-Stammklientel, den Rest der politischen Unterstützung, also gerade ca. 12-15% aller Wahlberechtigten, teilen sich die unbelehrbar scheinende MSZP sowie die Gruppen vom links-liberalen "Rest"; Grüne, G2014, Sonstige. Bei dieser Gemengelage ist rund ein Viertel des Volkes in der Lage, einer Partei 2/3 der Mandate zu sichern, somit die Politik für alle zu diktieren und den Grundrechts- und Demokratieabbau, einschließlich des Staatsmodells Plünderung auch noch demokratisch legitimiert zu nennen.

red. / cs.sz. / a.l. / m.s.

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