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(c) Pester Lloyd / 36 - 2013   POLITIK 05.09.2013

 

Von Kuchen und Krümeln

Großer Ratsfelsen: Klausurtagung der Regierungspartei in Ungarn

Am Mittwoch versammelten sich die Abgeordneten der Fidesz-Fraktion in Visegrád, dem Ort, an dem schon andere Könige über das Wohl und Wehe ganzer Nationen Rat hielten. Dort will man sich drei Tage lang auf die neue politische Saison vorbereiten, was vor allem eine Vorbereitung auf den heftiger werdenden Wahlkampf bedeutet. Wohl dosierte finanzielle Wohltaten sollen die nicht immer leicht kaschierbaren Defizite der "nationalen Revolution" kompensieren. Doch man muss das Volk gar nicht kaufen, denn es schenkt sich her.

UPDATES 8./9. September:

> Defizit wegen “Sonderausgaben” um 170 Mio. angehoben, 2 Bargeldbehebungen im Monat kostenlos

> Wertlose Lüge: Oppositionsführer demontiert FIDESZ-Wahlgeschenke

> 11,1% Energiepreissenkung und Ultimatum an die Banken

> Schon am ersten Abend feuerte Orbán einen Bürgermeister und fünf Wahlkreisinhaber von den Kandidatenlisten.

Die Burg von Visegrád am Donauknie. Einst Versammlungsort der Herrscher, heute Ruine. Darüber könnte man einmal nachdenken oder auch darüber, warum im benachbarten, Fidesz-regierten Esztergom, immer mal wieder die Lichter ausgehen... Der Nebel passt zur Sitzung hinter verschlossenen Türen, auf der es aber deutlich lebendiger zugeht als auf diesem Foto.

Ernergiepreissenkung, Herdprämie und Umschuldung

Ende des Monats, am 28. September, hält Fidesz einen Parteitag ab, bei dem Premier Orbán - im Hinblick auf die Wahlen im Frühjahr 2014 - eine Reihe von Wohltaten unter das Volk streuen möchte. Das will ordentlich vorbereitet sein: bei der Klausurtagung hinter verschlossenen Türen geht es u.a. um eine weitere gesetzliche Kürzung der Wohnnebenkosten, angekündigt sind nochmals
10% Absenkung der Kosten für Strom, Gas und Fernheizung für Privatabnehmer. Diskutiert werden auch höhere Kinderfreibeträge sowie eine Art Herdprämie, um zielgruppengerecht (Babyboom!) die Malaisen der unsäglichen Flat Tax auszubügeln. Außerdem wird nach einer für die Regierungspartei elegant kommunizierbaren Lösung für das regelrecht eiternde Problem der angekündigten Forex-Konvertierung.

Weitere offene Fragen sind die Aufhebung der
Sperrung von milliardenschweren EU-Förderprogrammen sowie ein "Angriff" (O-Ton Nationalentwicklungsministerium) auf das seit Juli arbeitende System der LkW-Maut, das von der EU heute in Frage gestellt wurde, weil, so die Auskunft aus Brüssel, "Zweifel an der Konformität mit EU-Regeln bestehen." Danach würde es eine Diskrepanz zwischen den eingehobenen Gebühren und der Art und Weise der in Brüssel hinterlegten Berechnung geben, kurz, die Gebühren seien in der Höhe nicht zulässig (Tarifdetails). Hier stehen immerhin 150 Milliarden Forint (500 Mio. EUR) jährlich auf dem Spiel.

Die Fideszfraktion, praktisch ein einstimmiger Männerchor mit etwas Spitzenbesatz.

Seit dem Ende des Defizitverfahrens hat die Regierung Spendierhosen an

Die Antwort auf die beiden letzten Fragen hängt nicht unwesentlich mit der Finanzierung der oben angedeuteten Wahlgeschenke zusammen, gibt sich die Regierung nämlich seit
Einstellung des EU-Defizitverfahrens spendabler als es die mittelfristige Haushaltslage möglicherweise zulässt. So hat man bereits einmal die Energiekosten um 10% gesenkt, auch andere Nebenkosten für Abwasser, Müll und Schornsteinfeger, was zu Mehrwert- und Körperschaftssteuereinbußen führt. Man nimmt reichlich Geld für Gehaltserhöhungen für linientreue Lehrer - und zum Jahreswechsel auch für das Gesundheitswesen - in die Hand, kauft Energieunternehmen und die Genossenschaftsbank auf und zahlte vorzeitig den IWF-Kredit ab.

Aktionswochen im Nationalzirkus maximus

Zigtausende zusätzliche steuerfinanzierte Stellen in den kommunalen Beschäftigungsprogrammen wollen - zum Wohle der Statistik - finanziert sein, man will Fleischfabriken und den Stahlkocher Dunaferr mit Staatsgeldern retten, am besten gleich kaufen, Sozialpläne für Entlassungwellen in der Privatwirtschaft finanzieren. Gleichzeitig spendiert man für den nationalen Zirkus maximus eine Reihe Großprojekte wie drei mächtige Fußballstadien (Fradi-City, Puskás neu, Felcsút "privat") und ein Olympiazentrum, Minister Hende will neue Hubschrauber, Vizepremier Semjén ein neues Pferd und Innenminister Pintér braucht eine größere SMS-Flatrate für den nächsten Winter. Gerade hat man zwei MÁV-Grundstücke, also Staatseigentum, dem Fußballklub Székesfehérvár geschenkt, doch die wollen auch bebaut werden.

Nicht alles davon lässt sich aus EU-Geldern finanzieren, zumal von denen ohnehin schon so viele in allen möglichen Kanälen individueller und kollektiver Gunstbezeugung versickern. Glücklicherweise nahm jetzt Orbáns Flügeladjudant, Staatssekretär Lázár, die Vergabe dieser Gelder in die Hand, so dass wenigstens er und sein Chef in Zukunft wissen, was mit ihnen geschieht.


Antal Rogán, Fidesz-Fraktionschef

Der ungarische Staat lebt noch immer von der Substanz

Finanziert wurde das meiste der "außerordentlichen" Ausgaben bisher also aus EU-Geldern, aus Rücklagen der Staatsbetriebe (Volksvermögen) sowie vor allem aus der
Budgetreserve, die Anfang des Jahres rund 2.000 Milliarden Forint (2,8 Mrd. EUR) betrug und aus den Resten der Beschlagnahme der privaten Säule der Pflichtrenten genährt wurde, nun aber allmählich zur Neige geht, ohne dass die Wirtschaft den erhofften und täglich behaupteten Konjunktursprung vollführt. Die Steuereinnahmen liegen in den meisten Bereichen hinter den Vorgaben, trotz eines konsequenten Sozialabbaus, Streichorgien in der Kultur und der Hochschulbildung. Ungarn lebt immer noch von der Substanz, ist dabei aber aufgrund der anhaltend hohen Schulden viel anfälliger als vergleichbare Nachbarn in der Region. Der nächste Sturm am Finanzmarkt und das Land sitzt wieder auf dem harten Hosenboden der Realität.

Angesichts der Machtbehauptungsansprüche der Partei dürften diese Fragen jedoch zunächst zweitrangig behandelt werden, schließlich kann man bei einem denkbaren fiskalischen Abschmieren im kommenden Jahr relativ gefahrlos wieder die
Transaktionssteuer und andere Stellschrauben anziehen, der Wähler hätte dann schließlich wieder vier Jahre Zeit zu vergessen, obwohl sie so lange nie brauchten. Das diesjährige Budget wurde siebenmal angepasst, meist durch Steuererhöhungen, in den Umfragen sieht man davon nichts.

Deja vú mit der Kádárzeit: das höhere Ziel zählt, nicht die Alltagstauglichkeit

Dass die Ideenlage bei den Fidesz-Leuchten noch nicht ganz ausgegoren sein könnte, zeigt ein Vorschlag des Fraktionschefs Rogán, der in seiner arglosen Spontanität prototypisch für unsere Möchtegern-Volkstribune ist: er ging heute auf die
lang geforderte Senkung der europaweit höchsten Mehrwertsteuer auf Lebensmittel dergestalt ein, dass er sie für Geflügel und Schweinefleisch auf 10% gesenkt haben möchte. Eine Expertengruppe rechne das gerade durch. Das sei ja ganz nett, konterte die Opposition, vergesse aber, dass man erstens nicht vom Fleisch allein lebe und die Senkung nur einen sozialen Sinn ergibt, wenn sie für alle Grundnahrungsmittel gilt und zweitens akzeptiere die EU nun einmal nur drei Mehrwertsteuersätze. Derzeit gibt es 5% (Arzneimittel), 18% (ausgesuchte Lebensmittel) sowie den Normsatz von 27%. Orbán wünsche sich ja noch (vielleicht) eine Luxussteuer von 35%, da stellt sich die Frage, wie Rogán da seinen 10%-Satz für genau zwei Produkte unterbringen möchte?!

Dabei vergisst die Opposition - neben vielem anderen - dass es im heutigen Ungarn nicht auf Logik oder Machbarkeit ankommt, sondern auf den guten Willen und das höhere Ziel; eine Tugend, die das Volk noch aus der Kádárzeit kennt und hinsichtlich der man unter dieser Regierung ein verstörendes Deja vú nach dem anderen erleben kann.

Ministerpräsident Viktor Orbán, hier posierend am Balkon eines Zisterzienserklosters. Seine Klausurtagung hat er gut terminiert, seine älteste Tochter heiratet am Freitag, dafür hat der Fußballfan sogar die Reise zum Länderspiel gegen Rumänien abgesagt.

Keine 2/3-Mehrheit mehr? Fidesz will auf Nummer sicher gehen

Zwar macht die
Opposition derzeit kaum Anstalten, die Regierungsmehrheit auch nur annähernd zu gefährden, dennoch scheint Orbán lieber auf Nummer sicher gehen zu wollen. Fideszintern werden - ganz im Gegensatz zum manischen Siegesgebrüll für die öffentliche Meinung - leise Stimmen laut, die damit rechnen, dass sich eine weitere Zweidrittelmehrheit - trotz getunten Wahlsystems - nicht mehr ausgehen könnte, ein Komfort auf den man ungern verzichten möchte.

Es ist für Orbán schlicht undenkbar, die "Errungenschaften" des Totalumbaus der ungarischen Gesellschaft, vom Grundgesetz, den Kontrollinstanzen und sämtlichen wichtigen Posten, über das Bodengesetz, nebst eigener Landnahme bis zum Zigarettenverkauf mit Gewinngarantie für unsere Parteieliten - oder wie es die Opposition nennt: vom Verfassungsputsch bis zur industriellen Ausplünderung des Landes - durch leichtsinnigen Übermut aufs Spiel zu setzen oder auch nur Rücksichten auf parlamentarische Gewichte nehmen zu müssen.

Niemand soll die planmäßige Aufteilung stören

Denn, während die institutionelle und ideologische "Revolution" der Nationalkonservativen - von ein paar
fürs internationale Publikum geplanten Nachbesserungen abgesehen - weitgehend abgeschlossen werden konnte und nun zu wirken beginnt, der Systemwandel eigentlich vollzogen ist, gleichzeitig die parteibuchorientierte Aufteilung des Landeskuchens in planmäßigen Bahnen zu verlaufen scheint, ohne dass das Volk größeren Anstoß an dem Raubzug nehmen würde (schon gar nicht wo er Demokratie und Rechtsstaat betrifft), bleibt doch das Risiko, dass die gute Hälfte der Menschen, die trotz Energiepreissenkungen etc., ganz objektiv - wieder - zu den materiellen Nettoverlierern der "Wende" gehören, durch Versprechungen der anderen Seite oder weitere Einkommensverluste aufgestört werden könnte.

 

Es könnte dann dumme, vielleicht grundsätzliche Fragen und das System selbst in Frage stellen. Das muss nicht sein, schließlich hat es das seit Jahren nicht getan. Dieser fernen Gefahr will man - für alle Fälle - mit obigem kuchenkrümelspeienden Füllhorn vorbeugen, den Rest soll die bewährte Hasskampagne gegen die "Vasallen der ausländischen Mächte" erledigen, die als tonangebendes Unterhaltungsprogramm (o.k. mit ein paar störenden Nebengeräuschen) bisher ihren Zweck ganz formidabel erfüllte, zumal die Opposition auch so schön mitspielt.

Kreatives Buchstabieren

Immerhin kann der Beobachter gespannt sein, was sich die Fraktion unserer staatstragenden Partei bei ihrer reinigenden Einkehr in den Mauern Visegráds, ihrem großen Ratsfelsen, bis zum Wochenende alles noch ausgedacht haben wird und wie sie es dem Volke antragen wird. Nun, es mag in Ungarn heute vielleicht an demokratischer Balance, möglicherweise auch an rechtsstaatlichen Garantien mangeln, an politischer Moral, menschlichem Anstand und Geld sowieso, doch nie, wirklich nie, mangelte es uns Ungarn an der Kreativität, anderen und vor allem uns selbst überzeugend ein X für ein U vorzumachen.

cs.sz. / red. / m.s.

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