Hauptmenü

 

KLEINANZEIGEN für UNGARN und OSTEUROPA ab 35.- EUR / 30 Tage!

 

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.

 

(c) Pester Lloyd / 38 - 2013   GESELLSCHAFT 17.09.2013

 

Politisch aufgeladen

Prozessauftakt gegen Ex-Polizeichefs von Ungarn

Für die einen war es die Niederschlagung rechtsradikaler Krawalle, für die anderen ein brutaler Staatsstreich gegen die eigene Bevölkerung, für die Dritten klassischer Kontrollverlust einer Regierung mit dem Rücken zur Wand: am Hauptstädtischen Gericht in Budapest begann am Dienstag der Prozess gegen die bei den Ausschreitungen im Herbst 2006 zuständige Polizeiführung. Die Richter haben die mühevolle Aufgabe, das höchst politisierte und instrumentalisierte Thema rein rechtsstaatlich abzuhandeln.

Hauptangeklagter, Ex-Landesepolizeikommandant László Bene auf dem Weg zum ersten Prozesstag.
Foto: MTI

Bei der ersten Anhörung im Gericht in der Fö utca versammelten sich einige Dutzend Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude und begrüßten den früheren Landespolizeikommandanten und jetzigen Hauptangeklagten, László Bene, mit Pfiffen und Buhrufen, Ex-Premier Gyurcsány, der als Beobachter zu dem Prozess kam, wurde angespuckt und mit "Mörder, Mörder"-Rufen und Schimpftiraden empfangen. Benes früherer Stellvertreter, Péter Gérgenyi, betrat das Gebäude bereits früher und entzog sich so dem Spießrutenlauf.

Bei dem Prozess sollen rund 115 Zeugen die Frage nach der Verantwortlichkeit der Polizeiführung für die Dutzenden Fälle von ausufernder Polizeigewalt mit etlichen Verletzten im Herbst 2006 beantworten helfen. Nach Durchsickern von Gyurcsánys "Lügenrede" wurde das Land monatelang von Demonstrationen und teils gewaltsamen Protesten in Atem gehalten, bei denen rechtsradikale Gruppierungen am 20. September u.a. die Fernsehzentrale stürmten, sie in Brand setzten und auf eine völlig überforderte und schlecht geführte wie mangelhaft ausgerüstete Polizeieinheit losgingen. Unter den Beamten gab es damals eine Reihe Verletzte. Offensichtlich aus Rache stürmten Polizeieinheiten, die - entgegen den Vorschriften - nicht mit Erkennungsmarken ausgestattet waren - am Nationalfeiertag des 23. Oktober eine friedliche Fidesz-Demo, die - man streitet darüber, ob durch Dummheit oder Absicht der Polizei oder von den Organisatoren gewollt - mit einer Gruppe Randalierer vermischt wurde. Dabei gab es wilde Exzesse auch gegen friedliche Demonstranten.

Wo ist der Hauptverantwortliche, Gyurcsány? Steht auf dem roten Transparent. Er ist zwar da, aber nicht dort, wo er nach Meinung vieler hingehört... Foto: MTI

Die damaligen Ereignisse werden seither politisch von der Rechten gezielt instrumentalisiert und als einer der Gründungsmythen der "nationalkonservativen Revolution" verkauft. Die rechtsradikale Jobbik sieht in den Ereignissen einen Beleg für ausländischen Einfluss und will auch israelische Agenten in Budapester Polizeiuniformen identifizert haben. Beide Parteien sprachen damals von einem Staatsstreich gegen die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger. Dass der damalige "liberale" Bürgermeister Demszky den heute angeklagten Polizeichef auch noch für seine "Verdienste" auszeichnete und Premier Gyurcsány ihn im Amt behielt, von einer ordentlichen Aufarbeitung keine Rede sein konnte, trug sehr zur Verschärfung der Lage bei. Gyurcsány sagte heute den Medien, dass er sich damals nicht über die Verantwortlichkeit Benes im Klaren gewesen sei, was eine reine Schutzbehauptung darstellt. Die Regierung versuchte 2006, auch anhand von Geheimdienstinformationen, Kontakte zwischen rechtsextremen Randalegruppen und Fidesz-Politikern bzw. deren Umfeld nachzuweisen.

 

Einige Dutzend Polizisten, untere Ränge und Gruppen- und Zugführerführer, wurden bereits 2011 von Gerichten abgeurteilt, meist mit Bewährungs- und Geldstrafen, über Einhundert wurden aus dem Dienst entlassen, weitere Prozesse sind noch anhängig, nun werden auch die Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen. Bemühungen von seiten der Orbán-Regierung auch Gyurcsány direkt für seine Verantwortlichkeit vor Gericht zu bringen fruchteten bisher nicht, sind aber noch nicht aufgegeben, was auch das Interesse des Ex-Premiers am Prozessverlauf erklärt. Doch auch die einschlägig bekannten "Rechts- und Menschenrechtsexperten" der neonazistischen Jobbik, Gaudi-Nagy (Jobbik-Parlamentsabgeordneter) und Morvai (EU-Abgeordnete) erschienen zum Prozessauftakt.

Die Zeugenvernehmungen sollen bis April 2014 abgeschlossen sein, so dass das Urteil rund um die Parlamentswahlen gefällt werden könnte, was die Aufgabe der Richter nicht einfacher machen wird. Die Terminierung ist natürlich rein prozesstechnisch bedingt und kollidiert nur zufällig mit der Vorwahlzeit... - Die Regierung hat Anfang des Jahres einen mit umgerechnet rund 1,3 Mio. EUR gefüllten Entschädigungsfonds für die Opfer der Exzesse eingerichtet.

Weitere Hintergründe
zu den damaligen Ereignisse,
O-Töne der Politiker 2006,
Fotos etc. finden Sie in diesem Beitrag:
Zwischen Notwehr und Putschversuch

 

red. / ms.

Der Pester Lloyd bittet Sie um Unterstützung.