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(c) Pester Lloyd / 39 - 2013   GESELLSCHAFT   23.09.2013

 

Lehrstück der Postdemokratie

Verrechnet: Regierungspartei in Ungarn löst Skandal um Umgang mit Behinderten aus

Der Mitschnitt einer Stadtratssitzung im Städtchen Szilvásvárad hatte es in sich: Abgeordnete der Regierungspartei, die sich das Christentum in die Verfassung geschrieben hatten, wollen die Ansiedlung von Behinderten in betreute Wohneinrichtungen verhindern, "weil die normalen Bürger" das so wollten und es auch nicht so “gut aussieht”. Es folgten Medienaufschrei und die Kehrtwende: der grenzenlose Opportunismus der Mächtigen bringt sie manchmal sogar dazu, gegen ihren miserablen Charakter das Richtige zu tun...

Im Rahmen eines EU-Projektes, das 2010 startete, sollen zentrale "Behindertenheime" für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen - so möglich - in dezentrale, betreute Wohneinheiten diversifiziert werden, was sowohl die Lebensqualität der Betroffenen erhöht als auch ihre Integrationsmöglichkeiten steigert und ohnehin auch eine Maßgabe sich christlich nennender Kulturen sein müsste, der die so oft gescholtene EU mit nicht wenig Geld auf die Sprünge hilft.

Der FIDESZ-Wahlkreisabgeordnete László Horváth “prahlt” nach dem medialen Entsetzen über ihn und seine Parteifreunde auf seiner Facebook-Seite mit der Umrahmung durch “Betroffene”. Nun wird alles gut, sagt er.

In Ungarn, das das Christentum sogar ganz oben in der Verfassung stehen hat, ist die Botschaft nicht angekommen: die Aufteilung von 150 Menschen mit Behinderung aus einem Heim bei Miskolc auf eine Reihe kleinere, extra mit EU-Geldern (Gesamtprojekt in Ungarn beläuft sich auf 21 Mio. EUR) dafür hergerichtete Wohneinheiten in kleineren Orten rund um Miskolc und Eger, stieß bei den Bewohnern auf Proteste. Offenbar in der Angst, sich beim "Volk" unbeliebt zu machen, verzögerten Bürgermeister, z.B. jener von Bélapátfalva den Umzug mit diversen Ausreden und Verwaltungsakten.

Nichts gegen Behinderte, solange sie unter Verschluss bleiben...

Höhepunkt war jedoch der am Wochenende veröffentlichte Mitschnitt der Stadratssitzung von Szilvásvárad, der über die NGO TÁSZ den Weg in die Medien fand, Tenor: wir wollen keine Behinderten in unserer Stadt, schon gar nicht in nicht versperrten Wohneinheiten. Am 13. September schon bekräftigte der örtliche Fidesz-Parlamentsabgeordnete László Horváth diese Haltung und schloss sich auf seiner eigenen Webseite in einem Statement der Gegenwehr von Bürgern von Szilvásvárad an, die verhindern wollen, dass insgesamt 40 Menschen mit geistiger Behinderung in ihre Nachbarschaft ziehen, wenn auch betreut, so doch ohne Zaun und Schloss und Riegel. Die betreffenden Häuser wurden übrigens von Bürgern der Stadt zuvor recht bereitwillig an die Betreiber des Projektes "Szociális és Gyermekvédelmi Főigazgatóság" verkauft, der Fidesz-Abgeordnete Horváth schlägt nun dem Stadtrat vor, der Stiftung die Häuser wieder abzukaufen oder gegen Objekte "woanders zu tauschen", denn, so wörtlich: 300 der 1700 Einwohner hier wollen nunmal keine Behinderten in ihrer Stadt.

Am besten ins gleiche Ghetto wie die Zigeuner sperren...

Der Bürgermeister der Stadt, auch Fidesz, ist auf dem Video zu sehen, wie er erklärt, dass er eigentlich mit der Sache nichts zu tun habe und am besten wäre es, die ganze Aktion abzublasen. Ein anderer Fidesz-Mann versucht es auf die menschliche Art: Wir sind ja nicht gegen diese Leute, sondern nur dagegen, dass sie entwurzelt werden und umziehen müssen. Er mache sich "Sorgen", ob die armen Behinderten denn das richtige Umfeld vorfänden. Ein weiterer Vertreter der Regierungspartei sorgt sich um den "Anblick", den es macht, wenn "diese Leute unter den normalen Menschen" leben. Diese Äußerung sorgte für die meiste Furore in den Medien. Ergebnis der Stadtratssitzung: man folgt dem "Vorschlag" des Abgeordneten und "bittet die Stiftung und die Behörden", sich "anderswo Immobilien" zu suchen. Als Vorschlag kam prompt: am besten in Bükkszentmárton, das ist die heruntergekommene Einsiedelei wo die Menschenfreunde von Szilvásvárda im Vorjahr ihre Zigeuner hinexporitert haben.

Kehrtwende binnen Stunden: Fidesz fürchtet sich um Reputationsverlust

Am Sonntag bekam die Sache eine Wendung. László Horváth erschien am Nachmittag mit barmherziger Miene und begleitet von den vier "betroffenen" Ortsbürgermeistern seines Wahlkreises und verkündete "es gibt eine Lösung", die Behinderten können kommen. Offenbar hat die Parteiführung bei Horvátn angerufen und ihm klar gemacht, dass man wegen einer Handvoll Hinterwäldler in Szilvásvárad nicht seine "Reputation" vor dem Volke und der EU riskieren werde. Das Problem ist also nicht der Beschluss selbst, die innere Haltung und der dahinterstehende menschenverachtende Geist, sondern der Umstand, dass der ganze Mist an die Öffentlichkeit gekommen ist.

Foto mit dekorativen Behinderten auf Facebook

Der Abgeordnete Horváth tat nun öffentlich Buße, erklärte, man sei von Tür zu Tür gegangen und - siehe da - so groß war der Widerstand der kaltherzigen Szilvásvárader gar nicht mehr, und der Fidesz-Mann versprach sogar, dass er sich höchstpersönlich um das Gelingen des Projektes kümmern wird. Läuft "alles nach Plan" können die Menschen im Frühjahr 2015 ihre neuen Heime beziehen. Die Wende ist total, sie kam sehr schnell und ist in ihrer Verlogenheit kaum zu überbieten. Aber diese Fratze kann man "für die Sache" vielleicht hinnehmen. Zur Krönung des Ganzen, zelebrierte Horváth seine Läuterung noch ein Foto zusammen mit ein paar dekorativen Behinderten auf seine Facebook-Seite. Den Shit-Storm in den Kommentaren bekam er als Draufgabe, auf seiner Webseite schreibt er sich rein.

Angst vor Machtverlust kann sogar den miesesten Charakter lenken

Aus diesem Lehrstück politischer Entscheidungsfindung in der Postdemokratie lernen wir zwar den erschreckenden, wenn auch wenig überraschenden Umstand kennen, dass ein Parlamentsabgeordneter in seinem Wahlkreis mehr zu sagen hat, als der von der Verfassung dafür vorgesehene Stadtrat samt Bürgermeister, wir sehen - einmal mehr - dass das Volk wahlweise als Dekoration oder Argumentationshilfe gebraucht, hervorgeholt oder weggestellt wird, wie es gerade passt und dass die Betroffenen von amtlichen Entscheidungen bei der Findung überhaupt keine Rolle spielen.

 

Wir sehen aber auch, dass der grenzenlose Opportunismus, Hauptindikation für die pathologische Angst vor Machtverlust, Politiker dazu bringt, gegen ihren Willen, ja sogar gegen ihren miserablen Charakter zu handeln und das Richtige zu tun. Dies ist eine wichtige und fast schon vergessene Lehre: die Abhängigkeit von der Droge Macht, macht den Süchtigen dem Lieferanten Untertan. Ist dieser sich dessen bewußt, kann er die Spielregeln bestimmen und die Junkies, von Zeit zu Zeit, auf den rechten Weg weisen. Wille, Bürgergeist und freie Medien vorausgesetzt. Doch ist es Aufgabe des Bürgers "seinen" Regierenden auf Schritt und Tritt hinterherzustellen, um ihn von ausufernder "Beschaffungskriminaltiät" für seine nächsten "Schüsse" zu bewahren? Offenbar ist es das.

a.l. / m.s. / red.

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