THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.

 

(c) Pester Lloyd / 41 - 2013   POLITIK   10.10.2013

 

Ein Hauch Sibirien

Regierungspartei in Ungarn fordert Möglichkeit "unbegrenzter U-Haft"

Der Ausbruch aus dem Hausarrest zweier des Raubmordes verdächtiger Gangmitglieder ist der Anlass für einen weiteren der berüchtigten legislativen Schnellschüsse der Regierungspartei. Sie glaubt, damit auf das aufgewühlte Volkssentiment reagieren und sich als  Protagonist von Law-and-order Politik darstellen zu müssen, - selbst wenn dabei der Rechtsstaat lädiert wird.

Der Ausbruch von zwei Mitgliedern der berüchtigten Ároktő-Gang aus dem seit April - nach Ablauf der maximal zulässigen Frist für U-Haft von 4 Jahren - angeordneten Hausarrest, führte die Fidesz-Fraktion in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium dazu, eine "unbegrenzte U-Haft" per Gesetzesänderung zu fordern, freilich für "besonders schwere Verbrechen", in erster Linie für Tötungsdelikte. Die Gangmitglieder gehören alle zu einer Familie aus dem Ort Ároktő, an der Theiß in Nordostungarn, ihnen werden mehrere Raubmorde an Rentnern und andere schwere Delikte, vorgeworfen.

Außerdem wünschen sich Fidesz-Abgeordnete, dass Hausarrestanten zukünftig verpflichtend eine elektronische Fußfessel tragen müssten, um ähnliche Fluchtenzu verhindern, zudem sollen "Experten" nun sechs bis neun Woche Zeit bekommen, um Gutachten zu erstellen, die beschleunigte Verfahren ermöglichen können. Dass die beiden letzten Punkte den ersten womöglich überflüssig machen könnten, fiel den Einbringern bisher nicht auf.

Leider verweigerte die Regierungsfraktion die Teilnahme bei einer von der Opposition initiierten Anhörung der Obersten Richteraufseherin Tünde Handó, bei der man die Gelegenheit gehabt hätte zu prüfen, ob und welche Instrumente das bestehende System zur Verfügung hat, Fälle, die so unmittelbar die öffentliche Sicherheit betreffen, zu beschleunigen. Statt mit solchen Fachfragen, die womöglich eine Lösung gebracht hätten, der außerhalb des rechtsstaatlich inakzetablen Vorschlages liegt, Unverurteilte, also nach rechtsstaatlicher Diktion "Unschuldige" womöglich lebenslang in Untersuchungs(!)haft zu belassen, beschäftigte sich Fidesz lieber wieder mit dem politischen Gegner, Parteisprecher Máté Kocsis nannte die kritischen Stimmen "politisch hysterisch", in einer solchen Atmosphäre könne man "unmöglich substantielle Vorschläge erwarten", warum machte man sie dann trotzdem? Allein schon das Begehren einer Anhörung der Präsidentin obersten Richterbehörde vor dem Parlament sieht Fidesz als Unverschämtheit an und verweigert sie, weil sie angeblich "politisch motiviert" sei. Handó ist übrigens die Gattin des Fidesz-Funktionärs und EU-Abgeordenten Szájer.

Genausogut könnte man die Reaktion der Regierungspartei als politisch motiviert und hysterisch bezeichnen, reagierte sie mit ihrem ad-hoch-Vorstoß just auf eine mediale Welle und entsetzte Statements von der linken wie extrem rechten Opposition, die das Scheitern des Rechtssystems beklagten, das es möglich mache, dass Raubmörder frei kommen könnten. Tenor: warum ist die Justiz binnen vier Jahren nicht in der Lage, zu entscheiden, ob Beweise oder Indizien genügen, um einen Prozess zu führen? Eine ziemlich berechtigte Frage.

Die Opposition forderte fast zeitgleich den Rücktritt des Innenministers, eines "Großversagers", wie sie meint, denn die Überwachung von Hausarrestanten ist nicht Sache der Justiz, sondern der Exekutive, die ist Minister Pintér unterstellt. Unter ihm, so die Vorwürfe von seiten "Gemeinsam 2014", habe sich das Chaos in der Polizei noch verschärft: die Kriminalstatistik weise einen strammen Anstieg von Diebstählen und Raub aus, während sich die Aufklärungsquote um 11 Punkte verschlechtert habe, "unter der Nase der Polizei" marschierten verbotene paramilitärische Garden, dafür stürze sich die Polizei auf unschudlige Jugendliche, in einem anderen Fall wurde ein des Diebsthals Verdächtiger von Polizisten zu Tode geprügelt, während die Kollegen die Spuren verwischten. Genau dieses Chaos habe auch die jetzige Flucht der Bandenmitglieder ermöglicht, Pintér und Orbán sollten sich ihre martialischen Worte und Ankündigungen schenken und dafür lieber an der professionellen Effizienz der Polizei arbeiten lassen.

Ein paar Maßnahmen, auch im Verfahrensrecht, gab es schon, doch ob die zu mehr Effizienz führen, ist fraglich: die Regierung hat bereits die Ausdehnung der Zeitdauer der vorläufigen Festnahme durchgesetzt und - in Europa einmalig - dafür gesorgt, Verdächtigen in Fällen von Korruption oder Amtsmissbrauch für bis zu 48 Stunden einen Rechtsbeistand zu verweigern. Man wolle so verhindern, dass die Täter ihre Beute verstecken könnten. Das Gesetz ist ein politischer Show-Act, gemünzt auf die vielen Bestechungsfälle bei der sozialliberalen Vorgängeradministration. Es könnte ein unangenehmer Bumerang werden, wenn man sich die
schattenwirtschaftliche Performance der jetzigen Regierungsparteifreunde besieht.

 

Doch der jetzige Vorstoß zur U-Haft hat bei Umsetzung das Potential zu einer ausgewachsenden Rechtsbeugung: Es ist nämlich gar nicht so unvorstellbar, dass Fidesz-Politiker, sollte es politisch einmal eng werden, auch dafür sorgen könnten, bestimmte politische Delikte als gefährdend genug einzustufen, um sie für eine unbestimmte U-Haft-Dauer zu qualifizieren. Auch die schiere Beschuldigung seitens der Polizei oder einer Staatsanwaltschaft mit Hilfe von wie immer zu Stande gekommenen Indizien könnte dann für eine "Unterbringung" oder einen elektronisch überwachten Hausarrest auf unbestimmte Zeit genügen, ohne die Überprüfung durch ein ordentliches Verfahren fürchten zu müssen. Ein Hauch von Sibirien weht durch die Puszta...

red.

Der Pester Lloyd bittet Sie um Unterstützung.