THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 42 - 2013   BOULEVARD   18.10.2013

 

Der kleine Unterschied

Suche nach "dem" Schuldigen: In Fußball-Ungarn fliegen die Fetzen

Nationalteamstürmer und Schalke-Legionär Ádám Szalai ließ nach der
historischen 1:8 Niederlage gegen Holland vor einer Woche seinem Frust ungefiltert freien Lauf und erklärte das gesamte ungarische Fußballsystem für nicht konkurrenzfähig. Fidesz-Parteifunktionären genügt der zurückgetretene Trainer noch nicht als Sündenbock, sie greifen nun den Verbandspräsidenten frontal an. Dumm nur, dass der ein Orbán-Intimus ist und die Fidesz-Leute selbst bis über den Hals im ballesterischen Fördersumpf sitzen. Wenig produktiv, aber recht unterhaltsam arbeitet Fußball-Ungarn die Schmach von Amsterdam auf.

"Jeder fällt Jedem in den Rücken..."

Der Schalke 04-Spieler Ádám Szalai (Foto bei der PK in der Vorwoche), in der Nationalmannschaft wichtigste Angriffskraft, sagte über den Auftritt des Teams, dass es doch kein Wunder sei, dass Ungarn nicht mithalten könne, man habe weder konkurrenzfähige, professionelle Trainer und Betreuer, noch ausreichend Spieler in Top-Ligen. Zwischen Liga und Nationalmannschaft gibt es keine Kooperation, jeder mache - wenn überhaupt - seine eigene Jugendarbeit, was dazu führe, dass man in Ungarn zwischen 25 und 27 Jahren erst lernt, wie man in der Welt Fußball spielt. Von einem Aufwärtstrend brauche mach nicht sprechen, selbst die guten Spiele in der Quali, wie das 1:1 gegen die Türkei, seien mehr Zufall als Entwicklung gewesen. Jeder fällt im ungarischen Fußball Jedem in den Rücken. "Die Menschen im Lande lieben den Fußball wirklich. Aber sie wurden zehn oder zwanzig Jahre verarscht". (er benutzte ein noch härteres Wort...)

Bei der Suche nach Schuldigen für das Desaster spielen sich Partei- und Verbandsfunktionäre die Bälle schneller hin und her als die Kicker auf dem Feld. Orbán hielt sich aus der öffentlichen Debatte heraus, sagte vor seinem Abflug nach Indien lediglich "die Niederlage von Amsterdam noch immer nicht verwunden" zu haben. Fidesz-Parteisprecher Máté Kocsis (Foto) schoss sich auf den Präsidenten des Fußballverbandes, OTP-Bankchef und Großoligarch Sándor Csányi ein: "Präsident Csányi ist dafür verantwortlich, dass dem Fußballverband anvertraute öffentliche Gelder verschleudert worden sind" und fordert eine umfangreiche Evaluierung der Fördermittel und eine Überprüfung der Jugendarbeit. Auch Tamás Deutsch, Fidesz-Europaabgeordneter, im ersten Orbán-Kabinett kurz Sportminister, heute Präsident des MTK Budapest und das Twitter-it-girl der Partei stieß in dieses Horn.

"...als Fidesz-Parteisprecher hat er doch genug andere Gelegenheiten zum lügen"

Csányi, der nicht nur wenig Angst haben muss, sondern auch viel über "Fördermittel" an diverse Fußballklubs und -projekte wissen dürfte, schoss zurück: "Die beiden sollen beim Thema Geldverschwendung im eigenen Hinterhof kehren, Deutschs MTK sei schonmal die erste Adresse, bei der er etwas von verschwenderischen Ausgaben erfahren kann" Im übrigen sei seine Beziehung zu Orbán glänzend, schon über Jahre, "der Premier hat in keinster Weise einen Rücktritt verlangt." sagt er weiter, sich damit der allgemeinen Hackordnung des Landes unterordnend, die Orbán mehr oder weniger absolute Macht einräumt. Ein Fingerzeig von diesem und selbst Csányi würde das Weite suchen.

 

Der MLSZ-Präsident hat inzwischen einen "Brief an István Simicskó geschrieben, Staatssekretär für Sportfragen und ihn um Hilfe bei der Evaluierung der Verwendung der öffentlichen Mittel für das Training der Nachwuchsgenerationen im Fußball gebeten." Süffisant schob er nach: "Die Untersuchung sollte naheligenderweise beim MTK Budapest beginnen." Und im übrigen: Dieser "Deutsch ist doch nur ein Twitter-Husar" und "Kocsis sollte über den Fußball einfach die Klappe halten, als Fidesz-Parteisprecher hat er doch genug andere Gelegenheiten zum lügen."

Das muss gesessen haben: Kocsis mühte sich in den Abendnachrichten sichtlich um Haltung, Csányi müsse als "öffentliche Figur Kritik schon ertragen." was eine Anspielung darauf ist, dass Parteifreund Lázár gerichtlich zugestanden wurde, Csányi ungestraft weiter als "größten Schmarotzer" des Landes zu bezeichnen. Doch, so Kocsis, nun muss er auch noch hinnehmen, dass sein Name " in die Annalen der ungarischen Fußballgeschichte gemeißelt wurde, denn für die nächsten 50 Jahre werde man ihn mit der 8:1-Niederlage in Erinnerung behalten."

MLSZ-Präsident Csányi (Mitte) mit Premier Orbán (natürlich rechts) in der VIP-Loge,
links der
per internationalem Haftbefehl gesuchte MOL-Chef Hernádi

Der nächste Trainer könnte wieder ein Ausländer sein, doch wer tut sich das an?

Der Fußballpräsident kündigte am nächsten Tag an, dass "Der kommende Trainerstab aus ausländischen Experten" bestehen könnte, was insofern praktisch ist, da man sich gleichzeitig weltoffen gibt, aber für alle Fälle einen Sündenbock hätte, wenn es bei der EM-Quali für 2016 wieder schief gehen sollte. Die Frage ist nur, wer sich auf ein solches Abenteuer einlassen mag. "Die ungarische Nationalmannschaft hat über die Jahre enorme Fortschritte gemacht, um aber die Qualifikation für 2016 zu erreichen, ist eine kollektive, nationale Anstrengung nötig." behauptet Csányi, der die obigen Worte des Stürmers Szalai zu "zwei Dritteln" für richtig hält. Er habe aber mit ihm gesprochen und der habe es "nicht so gemeint, wie der Interviewer es aufgeschrieben hat." Eh klar. Die Medien sind Schuld.

Gewinnbringende Parallelwelt errichtet

Dass sich Fidesz-Spitzen so vehement in die Debatte einmischen, hat nicht nur mit der Fuballbegeisterung, dem offiziellen Herrscherhobby der Orbán-Ära zu tun, sondern vor allem damit, dass sie unbedingt davon ablenken müssen, dass die Klubs der "Familie", also unter anderem der FTC (Generalsekretär Kubatov), Debrecen (OB und Parteivize Kósa), MTK (Deutsch und Co.), Videoton (Széles) u.a. sowie natürlich der
Orbánsche Privatklub der Felcsúter Puskás-Akademie, samt Stadion, Hotelanlagen, historischer Schmalspureisenbahn und umfangreicher "Flurbereinigung" in Orbáns Heimatort nicht als die Kannibalen der ungarischen Fußballförderung identifiziert werden.

Hunderte Millionen Euro aus EU-Strukturfonds sowie weitere Milliarden Forint aus einer neuen Steuerwidmungsregelung für "beliebte Sportarten" werden von den "Privatclubs" der Regierungspartei-Granden "absorbiert", ganze Sport-Städte entstehen, bei Flächenerwerb und Bebauung wird geschoben und mitgeschnitten, dass einem schwindelig werden kann. Für diese gewinnbringende Parallelwelt opfern die bigotten Herrscher im Zweifel sogar die Arbeitsbedingungen der Nationalmannschaft. Die "Hardware" bringt eben das Geld, der Sport letztlich höchsten "Prestige", das ist der kleine, aber entscheidende Unterschied.

red. /al.

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