THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 42 - 2013   KULTUR   17.10.2013

 

Portrait eines Teufelskreises

"Korruption" ist in Ungarn ein Kassenschlager, auch im Theater - MIT VIDEO

Das gleichnamige Theaterstück der freien Theatergruppe Krétakör erfreut sich seit der Premier am 7. Oktober solcher Beliebtheit, dass die nächsten Aufführungen bereits restlos ausverkauft sind. Mit dem Stück "Korrupció" von Martón Gulyás hat sich die Truppe eines sehr komplexen und immeraktuellen Themas angenommen, das in Ungarn heute kaum noch theataltischer Überhöhung, dafür umso mehr einer Einordnung bedarf. Ob es einen Ausweg aus der Mühle der Bestechlichkeit gibt, lassen die Macher offen...

Ein anonymer Akteur im “Schafspelz” mitten auf dem so begehrten Agrarland. Werbesujet für “Korrupció”

Die Theatermacher gehen in ihrer teils skurrilen Performance von der Empirik aus. Transparency International listet Ungarn in seinem Korruptionsindex seit Jahren "solide im unteren Drittel" von knapp 200 Ländern auf. "Betrug, Machtmissbrauch, Erpressung, all dies ist in der Interaktion zwischen Staat und Privatsektor präsent, aber nur die Spitze eines Eisbergs." Aus "historischen Gründen" sei die "Korruption das wichtigste Band zwischen den makro- und mikrosozialen Netzwerken" Ungarns geworden, schreibt Krétakör in seiner dramaturgischen Betrachtung zum Thema.

Die Verarbeitung auf der Bühne nennen die Macher einen "poetischen Versuch mit dokumentarischen Elementen", bei der u.a. das ung. Wikileaks atlatszo.hu und das "Korruptionsforschungszentrum" der Corvinus-Uni mitwirkte. Das ist übrigens jene Uni, an der das Spracheninstitute bis vor kurzem Sprachdiplome an Studenten verkaufte, mit Schleife drum. - Mit dem Stück will man eine "soziale Ordnung" beschreiben, in der alle Arten des Zusammenlebens, ob Liebe, Arbeit oder Familie "unausweichlich", aber auch kaum "nachweisbar" mit Praktiken der Korruption in Kontakt geraten. Die Aufführung stellt Situationen und Typen vor, die nicht nur jedem Ungarn, doch diesen besonders bunt, bekannt vorkommen. Skrupellose Nutznießer ihrer Position ebenso wie kleine Mitschneider, Opfer und Täter und manchmal beides in einem. Die Szenen hangeln sich durch Krankenhäuser, Zigarettenläden, über Baustellen und weite Felder. Und jedes Set lässt ein ganzes Lügengebäude vor dem Auge des Betrachters erscheinen.

Die Fragen, ob es eine Exit-Strategie aus der Tretmühle der Korruption gibt oder ob man, um des Überlebens Willen, keinen anderen Weg hat, als selbst ein Rad im Getriebe zu werden, diese Fragen werden gestellt, ihre Antwort bleibt offen. "Unser Ziel ist es, die ungarische Korruptionskultur in seinen Extremen und Erscheinungsformen zu reflektieren", sagt Regisseur und Autor Martón Gulyás. Man wolle den "Teufelskreis portraitieren" und den zerstörerischen sozialen Einfluss darstellen, der die Charakter der Menschen formt und Selbstrechtfertigung wie Selbstentschlagung zu einem "akzeptierten Mittel" macht, wenn Korruption einmal ans Licht kommt.

 

Hat, wie heute in Ungarn, Korruption eine "kritische Masse" erreicht, weil einfach die überwiegende Mehrheit der Menschen mitmacht, werden umso weniger Menschen diese Praktiken als moralisch schlecht empfinden., glaubt Gulyás. "Welche ethische Haltung kann man dann von Menschen erwarten, die schlicht nicht mehr in der Lage sind, den massiven Einfluss der Korruption auf ihr Leben wahrzunehmen?"

Gulyás nennt sein Stück im Untertitel "Die ungarische Krankheit", womit er seinem Land aber deutlich zu viel der Ehre antut. Ungarn hat´s wirklich nicht erfunden, nicht einmal weiterentwickelt. Vielleicht hat sich in Ungarn aber "aus historischen Gründen" eine besondere Abgestumpftheit gegenüber diesem Phänomen eingestellt, das völlig fehlende Schuldbewußtsein, eine Art kollektive kriminelle Amnesie, die man als spezifisch magyarisch betrachten könnte, den Ungar im Schafspelz, mit angeborenem Täter-Opfer-Umkehr-Reflex, wie ihn uns Krétakör in seinem Trailer präsentiert?! - Ansonsten empfiehlt sich die Produktion, jeweils leicht angepasst, spielend für eine Welttournee...

Guerilla-Plakataktion der Theatergruppe in der Budapester Innenstadt

Krétakör (der Name ist eine Anspielung auf den Brechtschen "Kreidekreis" und Kreta als Wiege Europas), vom Regisseur Árpád Schilling in 90er geboren und geprägt, hat sich bis heute als maßgebliche, stets neuernde Kraft der kreativen Dramatik Ungarns bewährt, sie muss als freie Theatergruppe ohne festes Gebäude auskommen. Das hat natürlich den Nachteil, sich immer wieder auf die Suche nach adäquaten Spielorten begeben zu müssen, den Zuschauern keinen festen Anlaufpunkt geben zu können.

 

Aber es hat - neben der kreativen Herausforderung - auch den heute besonders begrüßenwerten Vorteil, dass man Krétakör nicht einfach kündigen und auflösen kann, die Betriebskosten und damit die Abhängigkeit von "Sockelfinanzierungen" der Politik geringer sind. Krétakör hat in der Theaterszene Ungarns Kultstatus, ihre künstlerische Stellung und ihre fluide, für die Macht nicht fassbare Form schützt sie vor dem Schicksal des Neuen Theaters, des Nationaltheaters oder - gerade aktuell - des Lustpielhauses. Dort wird "Korruption" in der einen oder anderen Spielart zwar täglich als Live-Performance gegeben, jedoch nicht fürs Publikum...

Weitere Aufführungen am 23.10.2013 um 15 und 20 Uhr in der Filmfabrik Mafilm im Studio H, aber, wie gesagt, schon längst ausverkauft.

www.kretakor.eu

m.s.

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