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(c) Pester Lloyd / 44 - 2013   POLITIK   28.10.2013

 

Ein Burghauptmann bei den Festungskommandanten

Ungarischer Regierungschef Orbán zu den Themen des EU-Gipfels in Brüssel

Der ungarische Regierungschef ignoriert tapfer seine Rolle als misstrauisch beäugte Randfigur der EU, als einer, der die Gelder einsteckt, sich ansonsten aber mit großen Tönen von den Werten und Agenden Europas in seine Budapester Festung verabschiedet hat. Äußerlich unbeeindruckt dozierte Orbán vor internationaler Presse zu den Themen des EU-Gipfels. Zum Abhörskandal: Skandal!, zur Banken- und Sozialunion: Ohne uns!, zum Flüchtlingsthema: Sollen zurück!, zur Ostpolitik: Schneller bitte! Sachdienliches war nicht zu hören.

Abhörskandal

Zur Abhöraffäre rund um die NSA, die wegen des Bekanntwerdens des Belauschens von drei Dutzend europäischer Spitzenpolitiker an Brisanz gewonnen hatte, sagte Orbán, der (für ihn) enttäuschenderweise nicht auf der Snowden-Liste der 35 Abgehörten auftaucht, dass diese Vorgänge "inakzeptabel" seien, dass man mit dieser Art "Unsicherheiten" nicht leben wolle, schließlich sollten wir "Verbündete" sein, sicherlich würden die "transaltlantischen Beziehungen" unter den Vorfällen leiden. Er selbst ziehe es von Anfang an vor, "wichtige Landesangelegenheiten" nicht am Telefon zu besprechen, lieber lade er sich die Gesprächspartner ein. Die Ungarn wissen auch, wohin: bevorzugter Ort für Orbáns-Treffen sind neben seinem Büro die VIP-Logen diverser Fußballstadien, derer gerade eine Reihe neuer entstehen, jedes Einzelne unter Aufsicht und in Regie eines Fidesz-Funktionärs. Möglicherweise ließen sich bei der EU jetzt noch ein paar Quellen für den Ausbau des Abhörschutzes öffnen.

Digitale Agenda / Datenaustausch

Orbán ist dafür, dass die EU sich im Rahmen der Digitalen Agenda ihre eigene IT-Infrastruktur schafft und so den Rückstand zu China und den USA wieder aufholt. Er pflichte Großbritannien bei, dass hinsichtlich des Datenaustausches keine europäische, sondern eine "nationale Lösung" bevorzugt werden solle, die 5 Millionen Euro zum Ausbau der Fluggastdatenspeicherung nahm er jedoch dankend an. Außerdem sei der Aufbau einer "Europäischen Cloud" auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit, die in den kommenden Jahren auf dem Gebiet der Energie und der Datenverarbeitung entschieden würde.

Ostpartnerschaft

Besonderen Elan entwickelt die ungarische Regierung bei der Forcierung der sog. Ostpartnerschaft, wobei derzeit das Freihandelsabkommen mit der Ukraine im Mittelpunkt steht, das man "trotz kleinerer, offener Punkte" (Timoschenko) beim EU-Ost-Gipfel am 28. und 29. November in Vilnius zu unterzeichnen gedenkt. Auch beim EU-Beitritt der Balkanstaaten sowie der Türkei und der Assoziierung solcher Länder wie Kasachstan und Aserbaidshan drückt Budapest aufs Gas, weil man sich hier aus geografischen wie politischen Gründen eine gute Ausgangslage für wachsende Handels- und Investitionsvolumina verspricht.

Flüchtlingspolitik

Beim Thema Flüchtlingspolitik bedauerte Orbán, dass man in der Diskussion die "mitteleuropäischen (gemeint: ostmitteleuropäischen) Belange ausgeblendet habe. "Jeder spricht über das maritime Unglück (!) bei Lampedusa, aber der Druck ist nicht nur dort gestiegen, sondern auch in Ungarn." Sein Land habe neben Malta und Schweden, im Verhältnis zur Einwohnerzahl im ersten Quartal des Jahres, die höchsten Anstiegsraten bei Asylbewerbern zu verzeichnen (stimmt, sind aber absolut zur Einwohnerzahl noch sehr gering, rund 3.000 pro Halbjahr). Er habe das Problem "auf das Podium" gebracht.

Zum
aktuellen Hungerstreik Asylsuchender in Békéscsaba und zur scharfen UN-Kritik an den Zuständen in ungarischen Flüchtlingsgefängnissen, die dazu führten, dass Ungarn u.a.  für deutsche Gerichte nicht mehr als "sicheres Drittland" gilt, gab es keinen Kommentar, dafür erläuterte der Regierungschef seinen Grundsatz: wer "in Gefahr ist und aus politischen Gründen um Asyl ansucht", solle es bekommen, den Rest, also "Wirtschaftsflüchtlinge sollte man zurücksenden, von wo sie gekommen sind." Allerdings scheitert dieses Vorhaben derzeit genau an der mangelnden Rücknahmewilligkeit dieser Länder, zu denen übrigens viele neue "strategische Partner der Ostöffnung" gehören. Ungarn sperrt die "Illegalen" daher unbegrenzt ein, sogar das eigene Oberste Gericht hält diese Praxis - nach UN-Intervention - nicht mehr für haltbar.

"Menschlichkeit" sei ja "wichtig", aber "wir wollen kein Land werden, das Asylanten als politische maskiere, diese aber faktisch als Wirtschaftflüchtlinge nach Ungarn kommen und bleiben." Sein Rezept: es braucht "mehr Aktivitäten an der Grenze". Die europäischen Festungskommandanten können also zumindest bei diesem Thema auf den Budapester Burghauptmann Orbán bauen, denn die "Ergebnisse" des Gipfels gingen in die gleiche Richtung. Bleibt nur zu hoffen, dass die europäischen Partner nicht eines Tages mit ungarischen "Wirtschaftsflüchtlingen" genauso verfahren...

Banken-, Fiskal- und Sozialunion

Unzufrieden ist der ungarische Premier auch mit dem Ausgang der Gespräche über die von Deutschland und anderen Nettozahlern gewünschten größeren Mitspracherechte bei der Banken-, Fiskal- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer. Hier sei man keinen Schritt weitergekommen, meint Orbán, der aber offenbar gar nicht will, dass man weiterkommt. EU-Staatssekretärin Enikö Györi hatte bereits definitiv festgestellt, dass man sich von der EU "keine Vorschriften über die heimische Sozialpolitik" machen lassen wolle. Offiziell begründet man das damit, dass die ungarische Sozialpolitik angeblich über die europäischen Standards hinausgehe, während die EU-Sozialcharta von den Interessen der internationalen Hochfinanz (IWF, "Ostküste") gesteuert wird, so die Legende.

In Wirklichkeit fürchtet Ungarn im Sozialbereich jedoch eine härtere Kontrolle von Mindeststandards für alle Bürger, die sich in aufgedrängten Gesetzesänderungen mit Einfluss auf den Haushalt auswirken könnten. Einheitliche EU-Regeln auf diesem Gebiet könnten Grundpfeiler des Orbánschen Ständestaates, wie Flat tax, höchste Steuern auf Grundnahrungsmittel, Familienbeihilfen, die nur Habenden zustehen, den Kommunalen Beschäftigungsprogrammen, der Verweigerung der Versorgung mit Trinkwasser, mangelnder Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen für Zigtausende Roma, hungernde Kinder, erschüttern.

 

Orbán wiederholte, dass die stärkere Kooperation in Haushalts- und Sozialfragen eine Sache der Euroländer sein soll, die Nicht-Euro-Länder sollten sich freiwillig anschließen können. Das gleiche solle bitte für die Bankenunion gelten, auch hier dürften die europäischen Pläne so manches Projekt zur "Nationalisierung" auf dem Finanzsektor behindern können, weshalb die Regierung lieber nichts von einheitlichen Standards und einem in Brüssel zentralisierten Berichtswesen wissen will.

EU-Vertragsverletzungsverfahren

Hinsichtlich der von der EU eingeleiteten Vor-Verfahren zur Prüfung der regulativen Belange der Energiepreissenkungen, beharrte Orbán darauf, dass es hier nicht um eine technische Frage der Prüfung auf Übereinstimmung mit EU-Regularien geht, wie das die EU-Kommission sieht, sondern um einen "Angriff der EU-Bürokratie" und der "sie lenkenden Multis" auf die "Sozialpolitik" seiner Regierung. Das sagte er zwar nicht in Brüssel, sondern den “Energiekostenkrieg” rief er mehrfach zuvor in Budapest aus, denn so mutig ist selbst Orbán nicht, dass er dem wichtigsten Geldgeber "seiner" Wirtschaft offen ins Gesicht spuckt. Oder?

cs.sz. aus Brüssel

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