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(c) Pester Lloyd / 47 - 2013 POLITIK 18.11.2013

 

Alles Verräter, außer Viktor

Plump, aber wirkungsvoll: Regierungspartei in Ungarn wirft linker Opposition Landesverrat vor

Die drei Sprecher der Regierungspartei Fidesz überbieten sich derzeit gerade mit ihren Anschuldigungen des Landesverrats gegen die drei größten linken Oppositionsparteien und deren Köpfe. So soll das Entsetzen des Volkes über die "linken Vasallen der Multis" am kochen gehalten und vom eigenen Raubzug abgelenkt werden, der durch seine legislative Selbstermächtigung längst eine neue Qualität erreicht hat. Die heiße Phase des Wahlkampfes ist längst im Gange: 5 Monate vor dem Wahltermin...

Die vereinte Linke Mafia, drei Parteichefs und ein U-Häftling aus der Unterwelt...
ransparent an der Fidesz-Parteizentrale in Budapest.

Dem Wahlvolk wird durch den Staatsfunk, die regierungsnahe Presse, vor allem aber die deftigen Aussendungen und Pressekonferenzen der Regierungs- und Fidesz-Parteisprecher täglich illustriert, was für Galgenvögel es wagen wollen, die Macht der Partei im nächsten Jahr in Frage zu stellen. Vor allem Péter Hoppál, der dienstjüngste Fidesz-Sprecher (neben Máté Kocsis, Gabriella Selmeczi) mausert sich immer mehr zum informellen Chefankläger. Binnen drei Tagen schaffte er es, die Spitzen aller drei linken Parteien vor seinen virtuellen Volksgerichtshof zu zerren. Er muss auch viel Theaternebel sprühen, denn was Fidesz verbergen muss, hat mittlerweile eine ganz neue Qualität gesellschaftlicher Schäden angerichtet. Doch zunächst die Fälle im Einzelnen.

1. Sozialisten als Statthalter der Imperialisten

> Die MSZP wird beschuldigt, durch ihren Einspruch gegen den Erwerb der ungarischen E.ON-Gastöchter durch den Staat (MVM), die "Interessen der Multis" zu bedienen und "das ungarische Volk" um die hart erarbeiteten Preisnachlässe im Energierbereich bringen zu wollen. MSZP-Chef Mesterházy kündigte im Parlament an, dass seine Partei über die EU-Kommission ein Verfahren anstrengen wird, um das Geld ungarischer Steuerzahler "zu retten", denn die Übernahme sei gesamtwirtschaftlich unsinnig und der Preis viel zu hoch gewesen, ja, man hegt sogar den Verdacht, die Überzahlung habe politische Hintergründe. "Die ungarischen Sozialisten versuchen wieder über Brüssel Druck auf die Heimat ausüben zu lassen", schließt daraus die Regierungspartei, lies: Landesverrat.

Die ganze Geschichte hier:
Fremdgesteuert? - Opposition will E.ON-Verkauf bei EU anfechten


2. Bajnai will das Volk bestehlen

> Nächster Kandidat: Ex-Premier Gordon Bajnai. "Ein Großteil seiner Unternehmen ist in Österreich angesiedelt", weshalb der Chef der Oppositionsallianz "Gemeinsam 2014" in Wien Steuern zahlt, ergo keine ungarischen Interessen vertritt, sondern "Vorteile für österreichische Banken" plant. Als Beleg zieht man einen Auftritt Bajnais am Freitag in Wien heran. Außerdem habe er angekündigt, Steuerfreibeträge für Familien und Energiepreissenkungen im Umfang von 230 Mrd. Forint (730 Mio. EUR) rückgängig machen zu wollen und "sie den Banken zu geben." Bajnai entgegnet: Blödsinn, die Bankensteuer werde bei ihm aufrecht erhalten, er werde aber Gering- und Durchschnittsverdiener entlasten und für Steuergerechtigkeit sorgen. 8 von 10 Steuerpflichtigen hätten durch die von Fidesz eingeführte Flat tax Einbußen, die erhöhten Arbeitgeberbelastungen hätten gleichzeitig 50.000 Arbietsplätze gekostet. Er zahlt im übrigen keinen Cent Steuern in Österreich, er werden Hoppál - einmal mehr - wegen Verleumdung verklagen. (Bajnai und Familienmitglieder haben seit Jahren Anteile an einer Pharmahandelsfirma mit Sitz in Wien.) Im übrigen werde er, Bajnai, wenn er die Wahlen gewinnen, auch den Fidesz-Anhängern die Hand reichen, nicht aber dem "Oktopus-Regime" von Orbán und seinen Helfern.

Opposition in Ungarn will Volksabstimmung zur Abschaffung der Flat tax
Bajnai im Interview zu seinen wirtschaftlichen und sozialen Programmpunkten


3. 2006 als ungarisches 9/11?

> Dritter "Angeklagter" ist Ex-Premier Gyurcsány. Zeugenaussagen beim gerade laufenden Prozess gegen den für die Übergriffe 2006 zuständigen Ex-Landespolizeichef und weiter hohe Ex-Beamte sollen belegen, dass Gyurcsány während der gewalttätigen Ausschreitungen direkt die Polizeiführung instruierte und dabei das Innenministerium übergangen habe. Das wäre Macht- und Amtsmissbrauch und ein Rechtsbruch, so die Fidesz-Parteizentrale. Die Aussage stammte von Ferenc Kondorosi, 2006 Innenstaatssekretär, der berichtete, dass Gyurcsány "mehrmals direkt mit Einsatzleitern telefoniert" habe, um Anweisungen zu geben, "wie mit den Demonstranten zu verfahren sei". Außerdem habe er gefordert, dass die Polizisten ihre Kennmarken anlegen sollten und befahl Offizieren, die hinschmeißen wollten, im Dienst zu bleiben. Auch hier genügt es Fidesz nicht, dass die Gerichte ihrer Arbeit und Aufgabe nachgehen. Zweifellos ist, was damals geschah, zum Teil nicht nur illegal gewesen, sondern auch eine handfeste Schweinerei seitens der Machthaber. Was Fidesz, im Verbund mit der extremen Rechten, seitdem jedoch aus den Verfehlungen macht, geradezu ein Lehrbeispiel abwegigen politischen Propagandismus`, der in seiner Vehemenz wie Instrumentalisierung an Kaliber wie 9/11 oder den Berliner Reichstagsbrand findet.

Mehr zum aktuellen Prozess gegen die damalige Polizeiführung
Hintergründe und Berichte zu den Ausschreitungen 2006

Und auf der anderen Seite, die “nationale Mafia”. So einfach ist das in Ungarn.
Hier ein Protest gegen die Schiebereien bei den Tabakhandelskonzessionen.

Recht und Gerechtigkeit, Richter als Diener der Politik

Es hat Methode, dass die Regierungspartei die Justiz, also "das Recht" auf die eine Seite stellt, sich selbst hingegen als Verfechter des "Gerechtigkeitsempfinden des Volkes" definiert, also die "Gerechtigkeit" vertritt. Das begann schon 2010, als man mit diesem Argument zum ersten Mal das Verfassungsgericht um wesentliche Kompetenzen brachte (alles, was das Budget tangiert) und geschah erst wieder am Freitag, als Premier Orbán ankündigte, dass - sollten die Gerichte den Forex-Schuldnern keine "Gerechtigkeit" widerfahren lassen, die "Politik dafür sorgen" werde. Lies: die Gerichtsbarkeit ist in den Dienst der Staatspartei zu stellen und damit übrigens auch die Gesetze des Landes, die - sobald sie einem politischen Ziel im Wege stehen - Makkulatur werden. Die Verfassungsänderungen und der Umgang mit den Richtern untermauern diesen Ansatz auch strukturell.

Die Karte der "Fremdbeherrschung": plump aber wirkungsvoll

Das "Bedienen von Fremdinteressen" im Eigentinteresse hingegen ist die Hauptmelodie des Fidesz in der Wahlkampfoper. Durch mantraartiges Wiederholen der Parolen der "linken Mafia", der "Vasallen der Multis und der Finanzmärkte", die, im Verbund mit den "ungarnfeindlichen Brüsseler Bürokraten", geradezu den Untergang des Landes herbeisehnen es zumindest aber "kolonialisieren wollen", lenkt die Regierungspartei Fidesz zwar plump, aber immer noch wirkungsvoll nicht nur von ihrer Politik der strukturellen Umgestaltung der Verfassungsordnung hin zu einer
"Ein-Mann-Demokratie" mit eingeschränktem Rechtsstaat und kastrierten Kontrollinstanzen ab, sondern vor allem davon, dass die neue Nomenklatura längst einen legislativ gestützten Beutezug durch alle möglichen Branchen vornimmt. Dauerhafte Machtsicherung (siehe Verfassungsputsch, Kardinalsgesetze, neues Wahlercht) und systematische Ressourcenaneignung (siehe als wichtigste Beispiele: Ausschreibungen für EU-Fördergelder, Tabakhandelsmonopol, Landaneignung, steuerfinanzierte Prestigeprojekte) sind die Ziele.

Nach Gyurcsány war das Land verhert, aber noch reparabel...

 

Dabei machen es ihnen die heutigen Oppositionsparteien durch ihre Vorgeschichten leicht, denn sowohl Bajnai wie Gyurcsány als auch die MSZP waren alle bereits an der Macht und keiner von ihnen kam mit weißer Weste aus seiner Amtszeit. Der Unterschied nur: die Verfehlungen der MSPZ-SZDSZ-Regierungen können gerichtlich aufgearbeitet werden, das Versagen und die Vergehen von Hunvald, Hagyó und Co. erbrachten ökonomischen und politischen Schaden, die daraus resultierende Spaltung, Radikalisierung bzw. Politikabwendung schwächte die Stabilität der Gesellschaft.

Aber: die Strukturen der Demokratie, die Republik selbst blieben in Takt, die Schäden waren reparabel. Immerhin konnte man die Regierungspartei abwählen, die Verantwortlichen vor Gericht bringen. Im Gegensatz dazu hat die Orbán-Regierung von ihren Vorgängern gelernt: das Undemokratische musste legalisiert,
Amtsmissbrauch und die Korruption gesetzlich genehmigt werden, um einer Verfolgung zu entgehen und das Risiko des Machtverlustes zu minimieren. Diese Schaffung einer Ordnung außerhalb demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, diese Selbstermächtigung ist der qualitative Unterschied der Orbán-Regierung zu ihren Vorgängern.

red. / m.s.

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