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(c) Pester Lloyd / 50 - 2013 BILDUNG 10.12.2013

 

Ein halber Nobelpreis - fürs Warten

Privilegienrittertum an der Akademie der Wissenschaften in Ungarn

Wenig Freunde wird sich der Anwärter der Akademie der Wissenschaften (MTA), Dr. Béla Darvas, ein international anerkannter Zoologe und Umwelttoxikologe machen, der in drastischen Worten die Privilegienritterschaft der altehrwürdigen Institution schilderte. Während die MTA-Mitglieder enorme Geldsummen einstreichen, darben junge Wissenschaftler an der Armutsgrenze, abgespeist mit einer vagen Aussicht auf spätere Meriten.

Kristallkugel oder Wissenschaft? MTA-Präsident Pálinkás und Premier Orbán bei der Einweihung eines neuen Eliteforschugnszentrums. Natürlich nicht bei einer der führenden Unis angesiedelt, sondern bei der Akademie...

Darvas (Foto rechts) berichtete gegenüber dem Transparenzportal atlatszo.hu und in anderen Medien, dass die Gehälter der Akademiemitglieder mit dem Regierungswechsel 2010 drastisch angehoben wurden, wobei vier Mitgliedschaften zu unterscheiden sind: voll, korrespondierend, extern und ehrenhalber. Ein Vollmitglied bezieht derzeit - allein für die Mitgliedschaft - monatlich ein Honorar von umgerechnet 1.500 EUR, korrespondierende Mitglieder erhalten ca. 1.200 EUR. Daran sind jedoch keinerlei Verpflichtungen gebunden. Die Summe mag zunächst bescheiden klingen, doch Darvas stellt dem gegenüber, dass viele junge Wissenschaftler als Berufsstarter mit dem gesetzlichen Mindestlohn, also rund 335 EUR im Monat beginnen müssen und mit Versprechen auf zukünftigen Ruhm abgespeist werden. Ungarn brauche sich also nicht über die Abwanderung der jungen klugen Köpfe ins Ausland wundern.

Darvas verlangt, “die Akademie neu zu denken” und kritisiert, dass die Wahl der Mitglieder ohne besondere wissenschaftliche Leistung erfolgen kann, "einzig die Beziehungen zählen". Ist man einmal drin im Klub, läuft alles von allein, auch dann gibt es keinerlei Verpflichtung, sich wissenschaftlich weiter zu betätigen, also irgendeinen "Output" zu produzieren und Leistungen nachzuweisen. Sind 25 Jahre Vollmitgliedschaft erreicht, erhalten die Mitglieder eine Einmalzahlung von sagenhaften 160 Millionen Forint (rund 520.000 EUR), also rund die Hälfte der Dotierung eines Nobelpreises.

Hinzu kommt, dass es der Akademie, deren Mitglieder einen Altersdurchschnitt von 74 aufweisen (200 der 365 Mitglieder sind über 70), gelungen ist, immer mehr prestigreiche und reichlich mit EU- und staatlichen Fördergeldern ausgestattete Forschungsprojekte von den Hochschulen und Universitäten in die Vergabehoheit der einzelnen Fachabteilungen bzw. Gesellschaften der Akademie zu holen. Die Akademiemitglieder, wiewohl selbst meist nicht in die Projekte involviert, werden so zu mächtigen "Paten" für die Forschungsteams, die sich um die Umsetzung der Projekte bewerben, mit allen denkbaren Nebeneffekten.

Es sei durchaus angebracht, die Elite der heimischen Forscher- und Wissenschaftlerwelt finanziell gut auszustatten, meinen die Autoren des kritischen Beitrages, doch die MTA lasse sämtliche Grundprinzipien der Transparenz außer Acht. Über die Arbeit der Mitglieder erfahre die Öffentlichkeit praktisch nichts, in der Datenbank sind nur Mitgliedschaften und Preise aufgeführt, jedoch keinerlei wissenschaftliche Leistungen und Publikationen. Hingegen sieht man die Mitglieder häufig als honorierte Vortragsreisende. Auch das hoch dotierte Széchenyi Stipendium, das eigentlich für Exzellenz-Forscher gedacht ist und immerhin dem Gehalt eines ordentlichen Professors entspreche, werde meist nur unter den Mitgliedern der Akademie vergeben, ohne dass dahinter wirklich ein Wissenschaftsprojekt von Rang zu finden sei.

Die 1825 unter Graf Széchenyi noch in Bratislava gegründete MTA (auf der Abb. um 1860 am heutigen Széchenyi Platz) wird seit 2008 von József Pálinkás geleitet, der in der ersten Orbán-Regierung als Bildungsminister tätig war. Seine Ernennung unter der Gyurcsány-Regierung galt als Zugeständnis der politisch stark geschwächten MSZP an die konservativen Kräfte im Land. Pálinkás ist Atomphysiker und tritt offen als Lobbyist für die Nutzung der Kernergie ein.

Darvas schildert mit den Zuständen an der Akademie der Wissenschaften die Spitze eines Eisberges der Klientelwirtschaft, der ideologischen Vereinnahmung und ständischen Restriktion im ungarischen Hochschulsektor insgesamt. Höhepunkt der politischen Hingabe der Akademie an die Regierungsideologie war die Erstellung eines Zensurkataloges für Straßennamen,
siehe hier.

 

Unterwerfung, Ausgrenzung und Selektion über die “Hochschulreform”

Was für die Neuorganisation der Elite gilt, gilt erst Recht für die untergeordneten Strukturen der ungarischen Hochschullandschaft: Die "Reform" des Hochschulwesens beinhaltet u.a. soziale und technische Zugangsbeschränkungen, die zu einem Drittel weniger Studienbeginner seit 2010 führten. Auch die Selektion in nationalwirtschaftlich nützliche und unnütze Studiengänge, einschließlich der drohenden Schließung ganzer Einrichtungen, ist Teil des Umbaus, wobei die Orbán-Regierung auch auf diesem Feld auf Fehlentwicklungen, Überkapaziäteten und Mittelverschwendungen unter den Vorgängerregierungen zurückgreifen kann, um sich ein gesellschaftliches relevantes Feld unterwerfen zu können. Dabei wurde die (relative) Hochschulautonomie durch ein "Kanzlersystem" ersetzt, d.h. ein Regierungskommissar hat die finanzielle, strukturelle und personelle Hoheit an den Einrichtungen, womit er auch Einfluss auf die Lehrinhalte gewinnt, was vorher so nicht möglich war.

Das Stipendien- bzw. Studienkreditsystem bedeutet für viele Studierende eine tiefe Verschuldung, die bis weit ins Berufsleben hineinrecht. Außerdem binden sich Studenten auf staatlich subventionierten Studienplätzen arbeitsrechtlich für Jahre an das Land, eine Regelung, die (europa)rechtlich umstritten ist, aber (in allgemeiner Form) Aufnahme in die Verfassung fand. Fakt ist, dass Studierende aus materiell besser gestellten Haushalten noch bessere höhere Bildungschancen haben als zuvor, die Zahl der Studierenden ging entsprechend um rund 1/3 seit 2010 zurück, die Ausgaben für die Hochschulbildung wurden um rund 40% reduziert.

Diese Politik führte
Ende 2012 zu Studentenprotesten (darin auch weiterführende Links zu den Reformen), die sich aber bald wieder legten. Dem zuständigen Minister Balog gelang, mit politischer Diffamierung und Scheinverhandlungen und -zugeständnissen letztlich die Kaltstellung der entsprechenden Studierendenvertreter.

Mit der Machtübernahme 2010 startete die Orbán-Regierung zudem eine breit angelegte Kampagne gegen linke Gesellschaftswissenschaftler, die angeblich Fördergelder hinterzogen oder zweckentfremdet haben sollen. Gerichtlich hielt die Sache nicht Stand, die Rufschädigung blieb indes bestehen. Die Sache ging als
"Philosophenjagd" in die Zeitgeschichte ein.

red / ms.

2013

Mentale Umvolkung
Die Akademie der Wissenschaften in Ungarn legt Verbotskatalog für Straßennamen vor


CERN-Rechenzentrum in Ungarn eröffnet, Orbán lobt Forschungspolitik

2012

Staatsanwaltschaft in Ungarn beendet "Philosophenjagd"

2010

"Säuberungen" an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

2009

Akademie der Lobbyisten: Die Ungarische Akademie der Wissenschaften wirbt für Atomkraftwerke und Tierversuche

 

Nicht nur die politische Opposition, auch Volkswirtschaftler kritisieren die Höhe der Ausgaben angesichts tiefgreifender sozialer Probleme und eines mit knapp 3% hohen neuen Haushaltsdefizits 2014. Auch die überproportionale Bevorzugung des Fußballs, trotz des bescheidenen Abschneidens des Nationalteams und der Klubmannschaften auf internationalem Level, seien nicht gerechtfertigt. Auch der “Verbrauch” von EU-Mitteln, die anstatt in den Mittelstand in solche unproduktiven Luxus-Projekte umgeleitet werden, gehört hinterfragt. Die linke Opposition sieht hier eine zynische Parallelwelt entstehen, in der sich Fidesz-Fürsten ihre eigenen Reiche schaffen, ungeachtet der tatsächlichen Lage im Land. Gerade dokumentierte Eurostat einen erneuten Anstieg der materiellen Armut in Ungarn.

red.

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