THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 03 - 2014 WIRTSCHAFT 15.01.2014

 

Die Zukunft auf der Flucht

Ungarn im Ausland steuerten 2% zum BIP bei - jeder 7. Hochschulabsolvent lebt im Ausland

Die Weltbank versucht sich jährlich an der schwierigen Übung, weltweite Arbeitsmigration und damit verbundene Geldflüsse in Zahlen zu fassen. Deren Interpretation ist zwar fehleranfällig, zeigt aber Tendenzen, die für Ungarn nichts Gutes für die Zukunft erahnen lassen. Ideologische Verirrungen und ad hoc-Politik vertreiben immer mehr junge, qualifizierte Menschen...

DE vor GB und AT: Die Zielorte von rund 230.000 ungarischen Auswanderern 2012, Daten: Eurostat

Im aktuellen Bericht wird für Ungarn Folgendes erhoben: 462.000 ungarische Arbeitnehmer waren 2013 im Ausland tätig, sie haben zusammen geschätzte 2,4 Milliarden USD nach Ungarn überwiesen und so ca. 1,8% zum BIP beigetragen, das sind 5.200 USD pro Nase. Für Rumänien, aber auch die Slowakei werden - bei einer deutlich niedrigeren Auswandererquote - Werte von 2,1% gemessen. Führend in dieser Statstik sind jedoch nicht etwa die Philippinen oder die Türkei, sondern Kasachstan, in das jährlich das Äquivalent von über 31% des BIP transferiert wird.

Sowohl die Fehlerspanne als auch der Interpretationsspielraum sind bei derartigen Daten natürlich sehr hoch: Zunächst ist die Zahl der aus Arbeitsgründen Ausgewanderten nicht genau ermittelbar, schon gar nicht innerhalb der EU. Das ungarische Wirtschaftsministerium geht von 450.000 ungarischen Arbeitsmigranten (inkl. Studierende) aus, die Weltbank von besagten 462.000, Experten von ca. 500.000, die politische Opposition spricht von mindestens 600.000. Die größte Verzerrung dürfte jedoch dadurch zu Stande kommen, dass viele ihr Geld in bar über die Grenze mitbringen und nicht über Banken überweisen, die Weltbankdaten das aber nur mit einem ungefähren Faktor berücksichtigen.

“Bildungsurlauber” oder dauerhafte Auswanderung?

Dass mehr Ungarn weniger zum BIP beitragen als weniger Rumänen, hängt mit einer ganzen Reihe von Tatsachen zusammen: das BIP in Rumänien ist absolut und erst recht relativ deutlich geringer als in Ungarn, ein Euro dort zählt sozusagen mehr als ein Euro hier. Die Not der Rumänen ist noch größer als die der Ungarn, also auch die Notwendigkeit von Geldsendungen an die Familien höher. Die ungarische Regierung könnte die Hunderttausenden Abhandengekommenen also als halbe Bildungs-Urlauber qualifizieren, was sie ja auch macht (Sprachregelung: sollen im Ausland Erfahrungen sammeln und dann in der Heimat, für die Nation gewinnbringend einsetzen) Andersherum: wer weniger Geld nach Hause schickt, fokussiert womöglich auf einen dauerhaften Aufenthalt im Ausland, was wiederum das Argument der Opposition stärkt, die sagt, die Politik der Orbán-Regierung hätte mehr Menschen aus der Heimat vertrieben als die Nachwehen des Volksaufstandes 1956.

Die Gesamtsumme der 2013 in die Heimat geschickten Gelder ist die höchste seit 4 Jahren Orbán-Regierung, aber nicht die höchste aller Nachwendezeiten, die Zahl der Auswandernden schon: das Land entwickelt sich migrationsdemographisch tendentiell Richtung Entwicklungsland, die Zahl der Arbeitsmigranten aus Ungarn wuchs seit 2009 kontinuierlich. Besonders ernüchternd: laut Weltbank leben heute 12,3%, also fast jeder siebente Ungar mit Universitätsabschluss im Ausland. Jeder Vierte, der heute in Ungarn Studierenden sieht sich schon bald im Ausland, bei den Facharbeitern (ausgenommen jene in der Automobil- und Zuliefererbranche) sind es gar fast ein Drittel.

Quelle: Világgazdaság. Veränderung der Auswanderungszahlen in einzelne Länder binnen 10 Jahren. Das Argument, das liege alles an EU-Beitritt und späterer Freizügigkeit zieht nur sehr bedingt. Personalchefs, die versuchen Arbeitnehmer nur von Ostungarn nach Westungarn zu locken, können bestätigen, wie viel mehr als ein paar Forint (oder Euro) es braucht, um einen Ungarn von seiner Scholle zu lösen. Es braucht Verzweiflung.

Ungarn manifestiert Rolle als sekundärer Wirtschaftsstandort des Westens

Dieser seit Jahren anhaltende ungarische "brain drain" ist ein wirkliches Problem, da er schwer reparable strukturelle Veränderungen zeitigt, das Land also mittel- und langfristig weiter auf die Rolle als sekundären Produktionsstandort, also westliche Werkbank festlegt und ansonsten weiter in die Agrar- und Tourismusrichtung drängt, anstatt Ressourcen für einen guten Mix, einen Wissens- und Entwicklungsstandort und damit zukunftsfähige Industriezweige zu entwickeln, die mittelfristig ein Aufholen auf das EU-Durchschnittsniveau ermöglichen. Nur vielfältige Entwicklungsperspektiven in die verschiedensten Richtungen, natürlich bei Beachtung der Landesspezifika, machen ein Land krisenresistent.

 

Wenn solche Tendenzen auch nicht von heute auf morgen per Dekret zu unterbinden, in gewisser Weise natürlicher Begleiter der materiellen Transformation sind, sollten sie doch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eines Staates aufmerksam berücksichtigt werden. Das ist im heutigen Ungarn, dass zwar mit großen Sprüchen, aber in der Praxis eher mit hektischen ad hoc-Maßnahmen regiert wird, kaum der Fall.

Ideologie und Wahltaktik zur Machtsicherung sind Orbán wichtiger als die jungen Leute

Budapest kümmert sich heute - aus politisch-ideologischen und wahltaktischen Gründen - mehr um die Ungarn, die nie in Ungarn gelebt haben und das auch in Zukunft nicht werden, also nichts zum BIP und auch nichts zur Gesellschaft beitragen, nämlich die ethnischen Minderheiten in Rumänien, der Slowakei, Serbien usw.; jene, die aus wirtschaftlicher Not oder frustrierenden Perspektiven heraus das Weite suchen, werden in der Heimat eher noch bürokratisch und moralisch schikaniert und bekommen, z.B. im Bau und in der Gastronomie, also ohnehin Niedriglohnsektoren, noch zusätzliche, nicht zu unterbietenden Konkurrenz, z.B. aus der Ukraine, vor allem aber Rumänien und Serbien.

Man behauptet zwar das Gegenteil, doch für die Rückkehr der Ungarn in Großbritannien, Deutschland oder Österreich tut man fast nichts. Beste, also schlechteste Beispiele für die Kurzsichtigkeit der Orbán-Regierung sind das Gesundheitswesen, das - fast komplett verstaatlicht - immer mehr am Stock geht, dem - laut Ärztekammer - 6.000 Mediziner fehlen sowie der Umgang mit den Studierenden, die durch die Zwängung in die ständische Ordnung geradezu ins Ausland getrieben werden.

Die materiellen Bedingungen für Berufsstarter sind eine Katastrophe, (“Dank” hier auch an die so verantwortungsvollen Auslandsinvestoren (von einer handvoll wirklich guten Beispielen abgesehen)), die staatliche Wissenschaftsmafia vertreibt die besten Jungforscher schon, bevor sie das erste Reagenzglas in Händen hielten. Die Jungen, aber auch Familienväter gehen massenhaft, weil in ihrer Heimat das notwendige Minimum fehlt. Ungarn verliert mit jedem Einzelnen ein Stück Zukunft. Hier muss ein Politikwechsel her, der nur mit einem Machtwechsel zu erreichen ist. Leider bietet die (messbare) Opposition bisher nur Letzteres an.

Detaillierte Belege für die oben angeführten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Verfehlungen finden Sie u.a. im Ressort Wirtschaft etc.

red.

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