THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 11 - 2014   GESELLSCHAFT 12.03.2014

 

Der Geist der Freiheit und die Geisterjäger

Rituale, Proteste und ein bisschen Zensur: Veranstaltungen und Gedanken zum Nationalfeiertag des 15. März in Ungarn

Während das offizielle Ungarn die erstarrten Rituale rund um das Gedenken an den Freiheitskampf gegen die Habsburgerherrschaft von 1848/49 abspult, Orbán und Kövér in Reden klar machen werden, was das Erbe des Unabhängigkeitskampfes zu bedeuten hat und wo der Feind steht, hat das linke Oppositionsbündnis eine letzte Chance Massen für den angestrebten Regierungswechsel zu mobilisieren. Die Regierungspartei verlegte ihren Großaufmarsch direkt vor die Wahl. Wie es um den Geist von 1848 heute bestellt ist, demonstrieren eindrücklich Kulturfunktionäre und TV-Zensoren.

"Und ein heller Strahl des Völkerfrühlings drang in die Seele der ungarischen Nation, weckte zu selbstbewusstem Leben... Das war die Zeit der Wunder ohnegleichen! Von fremden Meeren her eine Woge zog in unser Land herein und trieb alles stagnierende Gewässer zu wildbewegter Fluth zusammen, da zerfiel deine morsche Welt in Nichts und wie auf des Allmächtigen Geheiss stieg einen neue Schöpfung herauf, herrlich vollendet schon am ersten Tage." Max Falk, fast 40 Jahre Chefredakteur des Pester Lloyd, erinnert sich 1898 an die Revolutionsereignisse.

Die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag des 15. März, Erinnerung an den Aufstand gegen die Habsburgerherrschaft 1848, beginnen am Tag zuvor mit der Verleihung staatlicher Auszeichnungen durch Staatspräsident Áder im Parlament um 15 Uhr, auch Premier Orbán wird dabei anwesend sein. Wie üblich wird am Nationalfeiertag selbst um 9 Uhr die Flagge vor dem Parlament in einer militärischen Zeremonie gehisst, Parlamentspräsident Kövér wird die Festrede halten, ein erstarrtes, ja scheintotes Ritual, das nur durch die zu erwartenden Auslassungen des erzreaktionären Parlamentshausmeisters Kövér eine gewisse Würze erhalten wird.

Im Anschluss ziehen - auch wie jedes Jahr - Reiter in operettigen bis historisierenden Uniformen in einer Prozession über die Kettenbrücke zur Burg, wo bis 17 Uhr "Familienprogramme" geboten werden, also Konzerte, Volkstanz, traditionelles Handwerk, Speis und Trank etc. Ebenfalls am Vormittag, ab 10.30 Uhr gibt es die Zeremonie am Nationalmuseum, einem der Schauplätze des Unabhängigkeitsstrebens, im Anschluss daran einige Darbietungen von Folkloreensembles sowie eine "formelle" Ansprache von Premier Orbán, teilt uns MTI mit, was wohl heißen soll, was immer er für Giftpfeile verschießt, sie sind amtlich, nicht parteipolitisch.

Wie ebenfalls üblich, zelebrieren die politischen Parteien jeweils ihre eigenen Interpretationen zum Nationalfeiertag, selbstredend in diesem Jahr im Zeichen der in drei Wochen abzuhaltenden Wahlen stehend.

Das Hauptevent hält diesmal das linke Oppositionsbündnis "Regierungswechsel" (formerly known as "Zusammenschluss", also die Parteien MSZP, DK, E2014-PM, MLP) um 15.15 Uhr auf der Straße der Pressefreiheit ab. Vom Ferenciek tere bis zum Pester Kopf der Elisabeth-Brücke werden dazu mehrere Zehntausend Teilnehmer erwartet. Die Kundgebung, bei der einmal mehr die Grundlage "für eine neue Republik" gelegt werden soll, kann als Hauptwahlevent der demokratischen Opposition gelten. Es wird Sonntag sein und das Wetter angenehm, der Grad der Mobilisierung wird einen sanften Hinweis darauf geben, ob sich das Bündnis überhaupt noch Chancen ausrechnen darf, in die Nähe eines Machtwechsels zu gelangen. Dazu hätte man sich vielleicht etwas mehr überlegen können als die üblichen Ansprache vor einer starren Masse, sei sie auch groß...

 

Die Regierungspartei, in Fragen des Timings und der Mobilisierung den Demokraten um Lichtjahre voraus, verlegte ihr sonst übliches Großevent zwei Wochen nach hinten, um - so die offizielle Erklärung - "das Gedenken an die Märtyrer des ungarischen Freiheitskampfes nicht der Parteipolitik zu opfern". Der Opfer- bzw. "Friedensmarsch" der Fidesz-Vorfeldorganisation CÖF, unter Anderen angeführt von Friedensengel und Feingeist Zsolt Bayer, wird am 29.3. stattfinden, also eine Woche vor der Wahl. Diese Terminnähe ist, neben der Verfügbarkeit von genügend Überlandbussen auch der einzig wirkliche Grund für die Verlegung, ein Putsch seitens der EU, ein rumänisches Geheimdienstkomplott oder ähnliche Widrigkeiten wie in den Vorjahren, werden dieses Jahr nicht befürchtet.

Allerdings hatte die Orbán-Partei noch nie Probleme damit, staatliche Feiertage für die Verbreitung ihrer Ideologie zu benutzen, wie Orbán am 23. Oktober besonders deutlich demonstrierte, als er bei einer offiziellen Ansprache als Regierungschef mal eben die Opposition aus der Volksgemeinschaft ausschloss. Und auch am 15.3. werden die "offiziellen" Reden von Kövér und Orbán klar machen, wer hier das Erbe des Unabhängigkeitskampfes verwaltet und wo der Feind steht.

Es waren die ungarischen Magnaten als die feudale Herrschaftsklasse, die Kossuth, Krokodilstränen nachweinend, im lebenslangen Exil hielten und sich das Land nach dem Scheitern der Revolution wieder aufteilten. Dieselben bogen die bürgerliche Revolution zu einem Aufstand gegen Fremdbeherrschung, es ging ihnen nicht um die Freiheit der Ungarn, sondern ihre Freiheit, die Ungarn selbst zu beherrschen. Insofern sind Orbán und seine "Familie" womöglich wirklich die "würdigen" Erben der Vorgänge von vor 165 Jahren...

Während die Grünen von der LMP sich wieder mit einem kleineren Revolutionsfrühstück im und am legendären Café Pilvax begnügen werden, bei dem schon mal mehr Journalisten als Teilnehmer auflaufen, ruft die neonazistische Jobbik wie üblich zu ihrer Demo an den zentral gelgenen Deák tér, dort werden mehrere tausend Anhänger erwartet, viele auch wieder uniformiert in Trachten der verbotenen Ungarische Garde. Die Polizei wird wieder zuschauen.

Wie es um den "Geist von 1848" im heutigen Ungarn bestellt ist, belegt eine aktuelle Episode aus dem Erkeltheater, der zweiten Spielstätte der Staatsoper. Dort wird am Nationalfeiertag eine Festveranstaltung (Eintritt: 1848 Forint!) abgehalten und live im TV übertragen, bei der auch von den elf Performern des Projektes "Pilvaker - die Wortrevolution" ein Rap-Poetry-Slam veranstaltet werden sollte. Am Wochenende sagte das, u.a. von der OTP-Bank und dem Brausehersteller Red Bull gesponserte Projekt die Sache ab, weil die Theaterleitung ihnen "jeglichen Bezug auf heutige Verhältnisse" in ihren Auftritten untersagen wollte. Die Truppe hatte sich dummerweise das berühmte 12 Punkte-Programm der Revolutionäre um Lajos Kossuth vorgenommen (Es beginnt mit Pressefereiheit und endet mit: Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit), um den Geist der Freiheit auf die Bühne zu bringen. Nichts da, keine Politik, sagten die Geisterjäger und Kulturfunktionäre - wie man hört nach direkter Vorgabe aus dem Staatsfernsehen.

Das ist natürlich ein interessanter Ansatz, den Tag, an dem 1848 die Meinungs- und Pressefreiheit deklariert und unter hohen Blutopfern verteidigt wurde, zu begehen. Zensur am Feiertag der Abschaffung der Zensur. Deutlicher kann man den Zustand der Freiheit im heutigen Ungarn kaum illustrieren.

27 Tage vor der Wahl ist mehr denn je sichtbar geworden, dass die Ungarn einen Unabhängigkeitskampf gegen ihre eigene Politikerelite führen müssen. Denn niemand kann angesichts der Demagogen auf Budapests Straßen wirklich behaupten wollen, dass jedes Volk die Politiker habe, die es verdiene..." Pester Lloyd vom 15. März 2010, kurz vor der damaligen Parlamentswahl.

Berichte vom Vorjahr
Schneechaos in Ungarn - Notstand ausgelöst, Nationalfeiertag abgesagt
Ersatzdemos

red / ms.

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