THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 18 - 2014   GESELLSCHAFT 28.04.2014

 

Lebende gegen Untote: Holocaustgedenken in Ungarn im Angesicht amtlicher Geschichtsfälschung und marschierender Nazis

Am Sonntag versammelten sich rund 30.000 Menschen in Budapest zum 12. "Marsch der Lebenden" im Gedenken an den Holocaust in Ungarn vor 70 Jahren. Auch Regierungsvertreter und der Staatspräsident hielten Ansprachen. Doch die Fidesz-Regierung schafft gleichzeitig weitere Fakten des Geschichtsrevisionismus´, die Administration lässt auch Neonazis weiter gewähren. Einer will nun sogar Vizepräsident des Parlamentes werden.

Die Rekordbeteiligung beim diesjährigen "Marsch der Lebenden", dem 12. dieser Art in der ungarischen Hauptstadt, war nicht nur dem runden Jahrestag geschuldet, sondern stellte für viele Beteiligte auch eine Reaktion auf das aktuelle Wahlergebnis dar. Am 6. April hatte die neonazistische Jobbik 20,5% der Wählerstimmen eingefahren, sie ist damit die zweitsärkste rechtsradikale und die stärkste rechtsextreme bzw. nazistische Kraft im Parlament eines EU-Staates.

Neben Opferverbänden, Antifa- und Bürgerrechtsgruppen und dem demokratischen Parteienspektrum, waren auch der Staatspräsident, mehrere Regierungsvertreter sowie Botschafter bei der Kundgebung vertreten, die von einem Konzert vor dem "Haus des Terrors", Reden und einer Denkmaleinweihung (etwas Abstraktes auf der Pester Seite der Elisabethbrücke, siehe Foto 2) umrahmt wurde, bevor der Marsch bis zum Keleti Bahnhof führte, jenem Ort des damaligen Geschehens der Deportationen, der für den Höhepunkt der Vernichtungsstrategie steht, die mehr als einer halben Million jüdischer Ungarn das Leben kostete. Dort verließ ein Zug mit 600 Passagieren Budapest in Richtung Auschwitz, ein Fahrgast symbolisch für je 1.000 Deportierte... In Auschwitz wurde am Montag eine weitere Gedenkveranstaltung, ebenfalls in Anwesenheiten des ungarischen Präsidenten, abgehalten.

Während Staatspräsident Áder, an anderer Stelle auch Vizepremier Navracsics und andere Vertreter der Regierung - wieder einmal - die passenden Worte zum Anlass fanden, weisen eine Reihe aktueller Ereignisse daraufhin, wie aktuell Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und nazistische Umtriebe in Ungarn sind.

So treibt die Regierung - zeitgleich mit dem Gedenken - den Bau des
geschichtsfälschenden Okkupationsdenkmals am Freiheitsplatz trotz anhaltender Protest- und Störaktionen weiter voran und scheut sich nicht, die Demonstranten am Bauzaun der Anlage, unter denen auch Holocaust-Überlebende sind als - wörtlich - "Linksextremisten" zu diffamieren und mit polizeilichen Vorladungen zu schikanieren. Bis Ende Mai, so schreibt es ein Regierungsdekret vor, soll der ungarische Erzengel stehen, auf den ein bronzener deutscher Reichsadler hinabfährt. Stehlen und Tafeln sollen "alle Opfer des Nationalsozialismus in Ungarn" repräsentieren, im Zentrum steht aber das Unschuldslamm: der ungarische Staat. Wie der sich verhält, wenn die Proteste den Fertigstellungstermin ungebührlich verzögern, wird zu beobachten sein.

Gleichzeitig mit den rührenden Ansprachen und Aussendungen von Staats- und Parteispitzen wurde bekannt, dass das im Rahmen des Holocaust-Gedenkjahres neu konzipierte Holcaust-Gedenkzentrum, "Haus der Schicksale" (Holocaust ein Schicksal?), eine Art nationalkonersvativer Gegenentwurf zum offenbar zu stringent dokumentierenden Holocaust Memorial Center, einen Kooperationsvertrag mit jenem staatlich initiierten "Geschichts"-Institut Veritas abgeschlossen hat, dessen Direktor Deportationen von jüdischen Ungarn in von Nazis besetzte Gebiete (vor der Okkupation 1944) als "fremdenpolizeiliche Maßnahme" bezeichnet hatte.
Details hier beim Blog Pusztaranger. "Veritas", der Name erinnert nicht mehr nur, sondern ist dem Orwellschen "Wahrheitsministerium" geradezu entnommen, "Veritas" wird künftig übrigens auch die ungarischen Geschichtsbücher für die Pflichtschulen absegnen.

Blick auf das Protestcamp der Gegner des Okkupationsdenkmals am Freiheitsplatz.

Beide Maßnahmen, also Denkmal und Gedenkzentrum, stehen im Rahmen des regierungsamtlichen Holocaust-Gedenkjahres, das eben wegen dieser Umsetzung von den größten jüdischen Dachverbänden, voran der Mazsihisz, aber auch vom Yad Vashem Institut boykottiert wurde. Eigentlich wollte Premier Orbán nach Ostern, wenn sich der Pulverdampf des Wahlkampfes gelegt hat, mit dem Mazsihisz-Vorstand über genau diese Punkte verhandeln, mehr als ein weiterer Brief voll warmer Worte kam aber bis dato nicht zu Stande. Stattdessen schafft man weiterhin Fakten und die Vertreter des jüdischen Ungarn durften sich von Orbáns Amtschef Lázár zudem noch als "Spalter" der Gesellschaft abkanzeln lassen. Mehr zur neuen "Judenfrage" und dem Gedenk-Streit hier.

Die mit Jobbik verbundenen "Garden", auch "Bürgerwehren" oder "Milizen" hielten, -unbehelligt von einem gesetzlichen Verbot zu uniformiertem Marschieren in bewohnten Orten - am Vorabend des "Marschs der Lebenden" einen ihrer berüchtigten Aufmärsche in Tiszafüred ab. Kurz zuvor hatte eine Richterin die Auflösung einer Nachfolgeorganisation der 2009 verbotenten "Ungarischen Garde", eine sog. Bürgermiliz für nicht notwendig erklärt und der Gruppe eine gesellschaftlich relevante Rolle zuerkannt, die sie - mit offen rassistischen Floskeln - aus der "Zigeunerkriminalität" ableitete. Details hier beim Blog Pusztaranger.

Die neonazistische Partei Jobbik hat den landesweit bekannten ehemaligen Führer einer Nazi-Schlägertruppe, Tamás Sneider, der in den 90er Jahren regelrechte Bandenkriege in und um Eger mit Roma anzettelte zu ihrem Kandidaten für den Posten des stellvertretenden Parlamentspräsidenten gekürt. Details. Üblicherweise stimmt die Parlamentsmehrheit den Oppositionskandidaten bei der Sprecher-Wahl zu. Durch Abweichen von dieser Gepflogenheit am 6. Mai, der Inauguration des neuen Parlamentes, könnte die Fidesz-Regierung immerhin einmal wenigstens symbolisch beweisen, wie ernst es ihr mit der stets postulierten Null-Toleranz-Politik gegenüber Antisemitismus und Rassismus ist. Denn mehr als Symbolpolitik ist in dieser Sache von Fidesz nicht zu erwarten, solange die Jobbik für die Regierungsstrategen kein Problem, sondern ein Kalkül darstellt.

 

Dementsprechend verlief auch die Berichterstattung in den Staats- und Parteimedien, die den "Marsch der Lebenden" als Ereignis gesellschaftlicher Geschlossenheit präsentierten, wie die Anweisenheit von Staatsspitze und Regierungsvertretern beweisen sollte. Die oben genannten Problemfelder und den völlig absurden Umstand, dass es die Regierungspolitik soweit brachte, dass das Gedenkjahr an die Juden des Landes heute ohne die Beteiligung der Juden stattfindet, sparten M1 und Co. zu Gunsten des Bildes einer heilen Welt und eines antifaschistischen Schulterschlusses zwischen NGO´s und Regierung lieber aus. Die Parteizeitung "Magyar Nemzet" meldete am Abend Vollzug, die "Veranstaltung sei ohne Rechtsverstöße zu Ende gegangen". Na dann...

red. / m.s. / Fotos: MTI

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