THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 18 - 2014   GESELLSCHAFT 02.05.2014

 

Partielle Holocaustleugnung

Gedenkstreit in Ungarn: Orbán stößt das jüdische Ungarn wieder vor den Kopf

Die Spannungen zwischen der ungarischen Regierung und dem größten jüdischen Dachverband MAZSIHISZ im Gedenk- und Denkmalstreit bleiben auch nach einer direkten Gesprächsrunde zwischen Premier Orbán, Minister Balog und Staatssekretär Lázár auf der einen und dem Verbandsvorstand auf der anderen Seite bestehen. Orbán definierte - natürlich rein zufällig - am selben Tag in einem "Essay" das amtliche Geschichtsbild, in dem er mit teils wirren, teils haarsträubenden Argumenten Positionen vertritt, die jede weitere Debatte überflüssig machen. Die Denkmalbaustelle wurde inzwischen von der Polizei geräumt.

Besteht auf seiner Geschichtsinterpretation: Premier Viktor Orbán

In dem vierseitigen Schreiben, das an die 92jährige Historikerin Katalin Dávid adressiert war, die zuvor in einem für Orbán akzeptablen Tone ihre Bedenken zu dem - aus der Sicht der Kritiker - vorsätzlich geschichtsfälschenden Monument geäußert hatte, spricht Ministerpräsident Orbán zwar mit Engelszunge, aber imperativ davon, dass das geplante Okkupationsdenkmal in der vorgesehenen Form "moralisch richtig und makellos" sei.

Seiner Meinung nach waren "es nicht Nazis, sondern Deutsche, die Ungarn (1944, Anm.) besetzt" hätten, daher sei an dem Symbol des Reichsadlers auch "kein Zweifel möglich" und man solle zwar die ungarische Administration für die damaligen Vorkommnisse mitverantwortlich machen, das Denkmal jedoch sei den "unschuldigen Opfern" gewidmet, die durch den Erzengel Gabriel in Opferpose symbolisiert seien. Die Kritiker sehen genau in dieser Konstellation den Versuch der Reinwaschung der Horthy-Administration samt der ungarischen Nation, das zum Opfer stilisiert würde, denn im Entwurf des Bildhauers sind die den Engel umgebenden Säulen als Symbole für die verschiedenen Opfergruppen gedacht gewesen, der Engel selbst aber das Symbol für die Nation an sich. Orbán biegt die Sache nun zurecht, wenn auch ziemlich krumm, zumal seine Genossen die ersten sind, die sich jede Art von Kollektivschuldthesen immer so vehement wehren. Bei "den Deutschen" ist man da nicht so sensibel, denn die haben keine Ausreden.

Ohne Deutsche keine Deportationen?

Dabei hatte Orbán bereits in früheren Interviews erstaunliche Geschichtseinsichten gezeigt, als er u.a. den Nazismus als rein deutsches Phänomen definierte und den Zweiten Weltkrieg als "Bürgerkrieg zwischen christlichen Nationen" interpretierte, Horthy-Huldigung sei eine "lokale Angelegenheit" und der Reichsverweser "ganz sicher kein Diktator" gewesen. Nun geht er sogar davon aus, dass es "ohne die deutsche Besetzung im März 1944 keine Deportationen (von Juden aus Ungarn, Anm.) gegeben hätte." Fakt ist, dass es bereits vor der Besetzung durch Nazideutschland, also unter der alleinigen Verwantwortung der Regierung Horthy Deportationen von Juden gegeben hat. Orbán lügt also. Er begeht partielle Holocaustleugnung.

Der MAZSIHISZ-Vorstand zeigte der Regierung die rote Karte.

Diese von ungarischen Behörden organisierten und umgesetzten Deportationen waren eine direkte Folge des Horthy-Hitler-Paktes. So wurden im Schlepptau der später aufgeriebenen ungarischen Donarmeen mehrere Zehntausend Juden aus ungarisch verwalteten Gebieten in die Zwangsarbeit - und damit meistens in den Tod - getrieben. Weiterhin wurden auch direkt Deportationen aus zurückeroberten Trianon-Gebieten in von Hitler-Deutschland besetzte Gebiete (Ukraine, Polen) vorgenommen.

Diese Ereignisse deklarierte der Chef des von der Regierung gegründeten Veritas-Geschichtsinstituts als "fremdenpolizeiliche Maßnahme", was letztlich das Fass bei den jüdischen Verbänden in Ungarn zum Überlaufen brachte und zu dem Boykott des amtlichen Holocaust-Gedenkjahres führte. Veritas wird in Zukunft sein Geschichtsbild auch im Holocaust-Gedenkzentrum in der Páva utca verbreiten dürfen, dem ein neuer Direktor und eine "Kooperationsvereinbarung" übergestülpt wird. Und auch das "Haus der Schicksale" darf sich auf durchinterpretierte Inhalte aus dem "Wahrheits"-Institut freuen.

Orbán besteht auf der geschichtlichen Deutungshoheit

Orbáns Aufgabenstellung für das Memorial am Freiheitsplatz (Entwurf siehe Abb. oben), der zentrale Knackpunkt im Streit mit MAZSIHISZ, spart alle historische Fakten aus, die Horthy und sein Regime belasten könnten. Neben den unmittelbaren Gewaltaktionen, darunter übrigens auch Massaker, auch alle weiteren Aspekte, wie das Erstarken der Pfeilkreuzler, den Erlass von Judengesetzen, der angewandte Antisemitismus, die Verfolgung Andersdenkender. Es negiert, dass es vor der Okkupation überhaupt Opfer gab. Orbán verweigert dazu jede wirkliche Debatte, er hat sich festgelegt, ja, er besteht sogar auf einer regelrechten Gedenkdoktrin, offensichtlich als ein ideologischer Grundstein für seine an der Horthy-Ära angelegte Reinkarnation eines (groß)ungarischen Ständestaates. In seinem hahnebüchenen “Essay” greift er sogar auf die Verfassung zurück, die schließlich festlege, bis wann und ab wann wieder die ungarische Nation souverän war. Dass diese Verfassung von Fidesz allein geschaffen wurde, sparte der Fidesz-Chef aus.

Seine "Interpretation sei weniger politisch-militärisch, dafür mehr spirituell" und niemand könne doch etwas gegen ein Denkmal für "Hunderttausende unschuldige Opfer haben", das sei "nicht nur die richtige Sache, sondern eine moralische Pflicht!" schreibt er in plumper Umkehrtaktik, die den Kritikern seines Projektes Herzenskälte und Geschichtsvergessenheit unterzuschieben versucht. Man hört hier den Satz von Orbáns Amtschef Lázár widerhallen, der vor Wochen sagte, dass es der Boykott des Gedenkjahres seitens der jüdischen Organisationen war, der "die Gesellschaft spalte".

Warme Worte, aber keinerlei Annäherung

 

Was also gab es unter diesen Vorgaben am Mittwoch mit MAZSIHISZ noch zu besprechen? Hinsichtlich des Denkmals sagte Orbán seinen Gegenübern ins Gesicht: "Ich habe keinen Manövrierraum" mehr. Das Denkmal wurde übrigens per Regierungsdekret erlassen, Orbán ist bekanntlich Regierungschef, er hat also allen “Raum” der Welt. Doch er will nicht.

Man wolle immerhin "gemeinsam einen letzten Versuch unternehmen", das Projekt "Haus der Schicksale" (Holocaust ein Schicksal?) "zu retten", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung, auch ein anderes Projekt, das "Haus der Koexistenz", wolle man mit gutem Willen besprechen. Demnächst. Von einer Annäherung kann also nicht einmal im Ansatz die Rede sein, was eigentlich schon klar war, nachdem die Bauarbeiten am Denkmal begannen, bevor Orbán den vorher angekündigten Termin mit Mazshisz ansetzte.

Orbáns Haltung ist klar, die Mitarbeit der jüdischen Organisationen an "seinem" Gedenkprojekt ist ihm willkommen, aber nicht zum Preis auch nur der geringsten Aufgabe der historischen Deutungshoheit. Er sagte im Anschluss an das Treffen doch tatsächlich, dass, "sollten Prinzipien, die Mazshisz für wichtig erachtet, als verletzt angesehen werden, dann wird die Regierung das Projekt (außer dem Denkmal) neu bewerten". Übersetzt: Er hat andere Prinzipien, sogar beim Gedenken an den Holocaust.

Imre Mécs, 1956er Veteran und einst liberaler, später sozialdemokratischer Abgeordneter des ungarischen Parlamentes wird “entfernt”.

Am Dienstag gab es dann doch noch eine "Annäherung", da entfernte die Polizei nämlich erstmals seit Beginn der Proteste vor einem knappen Monat Demonstranten mit Gewalt von der Baustelle des Okkupationsdenkmals am Freiheitsplatz. Mehrere Dutzend Menschen wurden weggetragen und angezeigt, nachdem sie der Aufforderung zur Räumung nicht Folge leisteten, rechtsstaatlich einwandfrei, versteht sich. Darunter befand sich auch die Überlebende des Holocaust, Alice Fried und ein Veteran des Volksaufstandes von 1956...

Zum Thema (darin weiterführende Links): Hat Ungarn wieder eine Judenfrage?

red.

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