THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 19 - 2014   POLITIK 09.05.2014

 

Ich, Europas Mitte...

Ungarns Premier Orbán breitete in Berlin seine Vision von Europa aus

War es der Einfall eines genialen Scherzkeks` beim WDR oder dem Berliner Hofprotokoll geschuldet? Viktor Orbán ein mit Kanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Barroso höchstrangig besetztes Europaforum in Berlin eröffnen zu lassen, ist in etwa so als würde der AfD-Chef die EZB leiten oder George W. Bush die Ostermärsche anführen - oder als würde Thilo Sarrazin den DJ auf einer anatolischen Hochzeitsgesellschaft geben - ein surreales Bild, ein an Masochismus grenzendes Eigentor. Doch so lustig das alles klingen mag, die Statements auf dem Europaforum waren in Teilen beängstigend. - BERICHT & KOMMENTAR

Orbán, Europas Mitte, am Donnerstag am Pariser Platz. Fotos: MEH, MTI

Orbán beim Europaforum - das ist wie Sarrazin bei einer türkischen Hochzeit

In seiner Eröffnungsrede zum WDR-Europaforum in der Humboldt-Universität, erteilte Orbán den Anwesenden unter dem Motto "Europa am Scheideweg" bzw. "In welchem Europa wollen wir leben?" eine "Lektion", wie sein Amt in einer Pressesendung stolz mitteilte. Sein ihn selbst zu überwältigen scheinender Wahlsieg sei ein "eindeutiger Auftrag an die Kräfte der Europäischen Mitte", weder die "Links- noch die Rechtsextremisten" hätten somit einen Wählerauftrag erhalten.

Wobei hier dem naiv-demokratischen Westler zu erläutern ist, dass in Ungarn heute alle Kräfte links von Orbán (und das sind außer den Nazis alle), zusammengefasst unter "liberal" oder "internationalistisch", als linksextrem eingestuft werden, sobald sie sich gegen dessen Politik artikulieren. Er habe indes hohe Dämme gegen Extremisten aufgebaut, denn, es sei egal wie "hoch die Wellen der Extremisten schlagen", es komme nur auf die "Höhe der Dämme" an.

Merkel und Orbán umschiffen die faschistische Gefahr

Diese suboptimale Faschismus-Präventionsempfehlung - Motto: es ist egal wie viel man säuft, wenn man nur genug dazu isst... - entbehrte angesichts des Umgangs mit dem Thema Ukraine-Russland nicht einiger bitterer Ironie, denn seine Parteifreundin Merkel hat am Tag zuvor - gänzlich damm- und barrierefrei - den ukrainischen Schokloadenoligarchen und Präsidentschaftskandidaten Poroschenko empfangen, um ihn erklären zu lassen, dass die russlandgesinnte Opposition in "seinem" Land "geisteskrank" sei und man mit dieser nichts zu verhandeln habe. Kein Wort fiel bei dem Empfang oder danach über die Kiewer Regierungsbeteiligung der Swoboda und die Menschenjagden des "Rechten Sektors", übrigens offen neonazistischer Kräfte. Das erinnert frappant an die praktischen Auswirkungen der Orbánschen “Null-Toleranz-Politik” gegenüber den landeseigenen Nazitruppen.

Solange es gegen Russland geht, das durchaus sein eigenes trübes Süppchen im Osten kocht, macht sich im NATO-Westen niemand ernsthaft Sorgen über den Zustand der kommenden "Demokratie", so lange sie nur "prowestlich" bzw. (was für eine Frechheit) “proeuropäisch” ist. Was im Falle der Ukraine als "Pragmatik" gilt, ist in Ungarn Kalkül. Orbáns innerer Sturm auf die Demokratie und die - zwar gegen das Gesetz, aber unbehelligt - marschierenden und mit Law-and-Order-Politik gefütterten "Nazi-Garden" erscheinen in diesem Kontext geradezu marginal. Orbán übrigens verfährt im eigenen Land mit dem Thema ungebetener Opposition viel simpler. Mangels Barrikaden genügt ihm bisher der verbale Ausschluss "all jener, die gegen uns sind" aus der "Nation". Er meinte damit aber explizit die demokratische Opposition. Innere Säuberung sozusagen. Vorerst.

In raschelndes Bonbonpapier der Krisenbewältigung verpackte Europafeindlichkeit

Im Fahrwasser der transatlantischen Dienstbarkeit der deutschen - überwiegend noch im Kalten Krieg geschulten und sozialisierten - Polit- und Medienelite, moderiert vom WDR-Intendanten und langjährigen Washington-Korrespondenten der ARD, Tom Buhrow, konnte Orbán recht ungeniert seine im Grunde europafeindlichen, aber in raschelndes Bonbonpapier unkonventioneller und volksnaher Krisenlösung verpackte Ideologie verbreiten. Message: sein Ungarn ist stabil. Und das ist es auch, was Barroso und Merkel heute genügt. Frieden. Und sei es der Frieden der sozialen Friedhöfe.

Er, Orbán, habe das Land nicht nur reformiert, sondern geradezu neu erfunden. Und der - man höre: an sich selbst scheiternde - Westen möge ihm bitte eigene Wege zugestehen, freilich im Rahmen: "europäischer Kooperation, menschlicher Würde und wirtschaftlicher Rationalität". Wer sich tiefer auf diesen Seiten eingelesen hat, kann die Orbánschen Neusprech-Codes, die hinter diesen Begriffen stehen, spielend entziffern. Nur so viel: sie bedeuten wenig Gutes für das "gemeine Volk".

Sein Mitteleuropa wird - so Gott will - der Wachstumsmotor Europas?!

Orbán kündigte für sein Land "Vollbeschäftigung" an, notfalls müsse eben "der Staat für Jobs sorgen, wenn das die Privatwirtschaft nicht könne". Dass sie es - unter seiner "unorthodoxen" Politik - einfach nicht will, kommt ihm nicht in den Sinn. Wie der Staat diese Vollbeschäftigung umsetzen will,
ist hier näher beschrieben. Er brüstete sich offen damit, die Bezugsdauer und -höhe staatlicher Existenzsicherung radikal gekürzt zu haben. Bravo!

Er erklärte weiter, dass die vorzeitige Rückzahlungen des einstigen IWF-Hilfskredites der Beleg dafür sei, dass er nicht gedenke, "ökonomische Versprechungen mit anderer Leute Geld zu erfüllen". Das ist bei einer Staatsschuldenquote von - unverändert - um die 80% (und absolut den höchsten Schulden ever) ein wirklich mutiger Satz. Weiterhin erklärte er dem Westen, dass "billige Energie" das Gebot der kommenden Jahre sei. Nur wenn man die Energiepreise auf das Niveau der USA drücke, könne Europa überhaupt noch wettbewerbsfähig bleiben, “gegen Amerika und Asien”. Billige Energie, “alles andere ist zweitrangig.” Schicksal, dass das wahrscheinlich nur mit Atomkraft machbar ist...

Seine Region, also "Mitteleuropa", wird der "Wachstumsmotor" der europäischen Gesundung werden, versprach Orbán, auch wenn ihm die Bauteile, sprich die qualifizierten und studierten Menschen derzeit in Scharen Richtung Westen davonlaufen. Damit alles gut wird, solle Europa sich endlich wieder auf "christliche Werte" besinnen und damit wäre auch das "eigentliche Problem" identifiziert.

Sein Land sei auch hier - wie in der Wirtschaft - Vorbild, schließlich hat Orbán GOTT nicht nur als erstes Wort seiner Verfassung etabliert, auch sonst frömmelt es in den Schulen und Ämtern, im staatlichen Kulturbetrieb und sogar im Kindergarten, findet sich der eigentlich immer säkularer eingestellte Ungar (Religionsbekenntnis nahm seit der Wende um weitere 20 Prozentpunkte ab) in einem national-klerikal Ständestaat reinster Ausprägung wieder.

Natürlich gehört hier auch der "besondere Schutz der Ehe", mittlerweile ein etablierter Code für Homophobie, dazu. Im Übrigen sei "Masseneinwanderung keine Lösung für die demographischen Probleme" Europas, es habe sich nämlich “historisch herausgestellt, dass Völker, die sich biologisch nicht reproduzieren können, dem Untergang geweiht sind.” Das mag rein statistisch stimmen, ist in Ungarn aber rassenideologisch gemeint. Das Land registrierte gerade die niedrigste Geburtenrate seit Ádám und Éva. Dafür kann man natürlich Orbán mit seinen fünf Kindern und schon gar nicht mit seiner Politik verantwortlich machen. Es ist der liberale Zeitgeist der am Magyarentum nagt...

Orbán parierte die "gestellten" Fragen

 

Kritischen Nachfragen zu Wahlrecht und Grundrechten begegnete Orbán gewohnt arrogant und zickig: in Großbritannien sei es schließlich noch extremer und man solle doch im Westen bitte Respekt vor nationalstaatlichen Besonderheiten haben. Fragen zur sozialen Ungerechtigkeit des Steuerssystems, der Behandlung der Roma u.a. im Rahmen der Kommunalen Beschäftigungsprogramme, die verfassungsrechtliche Kriminalisierung von Obdachlosen, der Raubzug durch die EU-Milliarden, die klientelorientierte Verteilung von Land und Handelslizenzen, der Atomdeal mit Russland und dessen Folgen, die Aushöhlung der Gewaltenteilung, die Entmachtung des Verfassungsgerichtes, die unkontrollierte Medienmacht der Partei, oder: ganz aktuell, zur amtlichen Geschichtsfälschung, kurz kritische Fragen zur Scheindemokratie unseres neuen Ein-Parteien-Staates Ungarn, fehlten, für diese war bei den im doppelten Sinne "gestellten" Fragen wohl kein Platz mehr.

Außerdem ist Europawahlkampf und Viktor ein EVP-Kamerad. Auch hätte Buhrow einmal fragen können, warum Orbán zwar ungeniert EU-Milliarden kassiert, ohne die sein Land im Investitions-Koma läge, dafür aber die "Brüsseler Bürokraten" ständig des "Angriffs auf ungarische Familien" bezichtigt, ja Brüssel sogar als "das neue Moskau" titulierte? Dazu hätte es aber eines kritischen und nicht eines öffentlich-rechtlichen Geistes bedurft.

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red. / m.s.

Für die Macht in Europa nimmt die EVP auch Demokratieabbau in Kauf

Premier Orbán erhielt für Berliner Verhältnisse etwas zu viel Zustimmung zu seinen wahrlich fantastischen Thesen, offenbar war die Fankurve vorbereitet. Protestiert wurde dagegen vor der Uni - gegen Barroso und den unsozialen und bankenfreundlichen Sparkurs der EU in den Krisenländern - dazu ein Handshake vom Ratspräsidenten und ein Vier-Augen-Gespräch mit PK und Fototermin mit Kanzlerin Merkel und das Wellnessprogramm für Orbáns Seele war perfekt. Sicher hat die Kanzlerin wieder "gemahnt", dass man mit "großen Mehrheiten besonders verantwortungsvoll" umgehen solle.

Doch der Franzose Joseph Daul, Chef der Europäischen Volkspartei sprach kürzlich aus, was Europas Konservative wirklich denken. Der feierte Orbán nämlich beim Fidesz-Wahlkampf in Budapest auf offener Bühne als Einen, der "seinem Volk stets die Wahrheit gesagt hat" und "mutige Maßnahmen zur Krisenbewältigung" umsetzte. Orbáns asoziale, rechtspopulistische Politik wird von den "Volksparteien" also goutiert, sein System ist in Europa arriviert.

Das, liebe westliche Freunde, ist der ernste und besorgniserregende Kern, die wirkliche Lektion des eigentlich lächerlichen Auftritts unseres in Eitelkeit und Größenwahn gefangenen Premiers an der Spree. "In welchem Europa wollen wir leben?" fragte das WDR-Forum programmatisch. Das ist reiner Luxus, "In welchem Europa können wir noch leben?" Das ist die Frage der Stunde!

cs.sz. / a.l.

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