THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 19 - 2014   POLITIK 06.05.2014

 

Circus democraticus: erste Sitzung des neugewählten Parlaments in Ungarn

Exzessive Gesetzesänderungen wie in den vergangenen vier Jahren, wird es in den kommenden kaum geben. Einfach, weil dies nicht mehr nötig sein wird. Vielmehr geht es nun um ein Fine-Tuning und Lückenstopfen, um das geschaffene System der demokratisch lackierten Ein-Parteien-Herrschaft zu vervollkommnen, es wasserdicht zu machen und eine spätere Aufarbeitung zu verhindern.

UPDATE, 7. Mai, 10:30 Uhr:

Präsident: Zeit der Debatten ist zu Ende, Wahl war Volksabstimmung für Fidesz-Verfassung

Die Eröffnungsrede des Staatspräsidenten bei der ersten Sitzung des neugewählten ungarischen Parlamentes fiel in Teilen wirr, aber auch anmaßender aus als erwartet. Staatspräsident János Áder, Fidesz, legte jede zuvor gespielte Überparteilichkeit ab, als er behauptete, dass die Wiederwahl von Fidesz (mit den Stimmen von rund einem Drittel der Wahlberechtigten ergatterte man 68% der Mandate) auch der Beleg für die Unterstützung der neuen Verfassung sei. Daher habe Ungarn nun eine "neue Ära" erreicht, in der "die fruchtlosen Streitereien und sterilen politischen Debatten der Vergangenheit vorüber" seien. Die "ungarische Nation sieht den Regimewechsel mit den Wahlen im Vormonat endgültig vollzogen", so Áder, der damit der Orbánschen Legende folgt, dass erst durch ihn der "Kommunismus" aus Ungarn vertrieben wurde. Es sei "es nicht wert, darüber zu debattieren", ob "Ungarn noch eine Republik" ist oder die neue Verfassung "den Rechtsstaat aufrecht erhält". Die Wähler hätten dies bei den Wahlen längst entschieden.

UPDATE, 7. Mai, 10:30 Uhr:

Tumult vor dem Parlament: Neonazis bedrohen und beleidigen serbischen Ungarnführer

Nach Ende der Eröffnungssitzung kam es auf dem Platz vor dem Parlament zu einem Tumult als Jobbik-Aktivisten angeführt von ihrem Abgeordneten Tamás Gaudi-Nagy den als Ehrengast der Fidesz-Fraktion eingeladenen serbischen Ungarnführer István Pásztor (VMSZ, Vojvodina-Ungarn) bedrängten, am Weitergehen hinderten, bespuckten und als "Bolschewiken" und "Nationenverräter" beleidigten. Dabei sollen Morddrohungen ausgestoßen worden sein, Gaudi-Nagy schrie seine Tiraden durch ein Megaphon. Pásztor, der als fidesz-nah, aber nicht kadavergehrosam einzuschätzen ist, wird die Beteiligung seiner Ungarn-Partei an einer Regierungskoalition mit den serbischen "Sozialisten" der Ex-Milosevic-Partei vorgeworfen. Fidesz begrüßt diese Beteiligung übrigens ausdrücklich.

Fidesz und MSZP verurteilten die Attacke einmütig als inakzeptabel und schändlich, der Jobbik-Vorstand sprach davon, dass Gaudi-Nagy "nicht mehr Jobbik-Mitglied" sei. Pásztor selbst sprach von "beängstigenden Zuständen" und einem "Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit". Weder die bewaffnete Parlamentsgarde noch die Polizei schritten rechtzeitig ein, um den Parlamentsgast zu beschützen, der offenbar auch keine Bodyguards hatte.

UPDATE, 7. Mai, 10:30 Uhr:

Gänsefüsschennazi: Regierungspartei nimmt rechten Schläger - heute Parlamentsvize - in Schutz

Der in den 90ern als Bandenchef und "Zigeunerjäger", später, bei den Ausschreitungen 2006 als radikaler Wort- und Randaleführer bekannt gewordene Neonazi Tamás Schneider, Jobbik, ist am Dienstag auch mit den Stimmen der Fidesz-Abgeordneten zu einem der Vize-Parlamentspräsidenten gewählt worden (zwei weitere von Fidesz, einer KDNP, einer MSZP). Linke und Grüne verweigerten ihm - von einer 24jährigen parlamentarischen Tradition abweichend - die Zustimmung. Die Regierungszeitung "Magyar Nemzet" befleißigte sich daraufhin ein Foto eines MSZP-Funktionärs herauszukramen, das diesen mit Kapuzenpullover bei einer Demo mit Skinheads 1992 zeigt. Tenor: man solle doch den Menschen nicht auf ewig lässliche Jugendsünden vorwerfen. Einen Unterschied zwischen der Performance der Beiden mochte das Regierungsblatt nicht herausarbeiten, stattdessen setzten die Redakteure, wie auch jene von MTI den Vorwurf der Opposition, Sneider sei Vertreter eines faschistischen Gedankengutes konsequent in Gänsefüsschen.

Die Vorwürfe der demokratischen Opposition hinsichtlich Sneiders sind insofern absurd, da es sich bei der Jobbik ganz prinzipiell um eine neonazistische Partei handelt, es also irrelevant ist, wen sie letztlich für das Verfassungsamt nominiert. Die Frage aufzuwerfen, warum die Jobbik - das offen verfassungsfeindlich, grundrechtswidrig agiert - nicht längst verboten wurde, traut sich in Ungarn heute niemand, denn die Partei ist, auch Dank des Kalküls der Regierungspartei und der ihr zugewiesenen Funktion als Ventil und Bindung von Protestpotential, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Premier Orbán am Montag zum Gabelfrühstück bei Parteifreund und Staatspräsident Áder,
der ihm die dritte Regierungsbildung übertrug. Foto: MTI

Am Dienstag, 6. Mai, trat das am 6. April gewählte ungarische Parlament, das siebente seit der Systemwende 1989 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Den Posten des Parlamentspräsidenten wird wieder László Kövér übernehmen, auch die Fraktionsvorsitzenden von FIDESZ-KDNP (Rogán und Harrach), MSZP (Mesterházy), Jobbik (Vona) und LMP (Schiffer) bleiben zunächst die gleichen wie bisher.

Fidesz-KDNP verfügen über 133 Mandate, genau 2/3, die sich auf 96 Direktmandate über die relative Mehrheit sowie 2,26 Mio. Zweitsttimmen der knapp 10 Mio. Einwohner Ungarns stützen. Die MSZP erhielt über die Liste des
nach der Wahl blitzartig zerfallenen Oppositionsbündnisses "Regierungswechsel" 19 Mandate und gewann 10 Direktmandate, mit 29 Sitzen ist man so stärkste Oppositionskraft, knapp vor der neonazistischen Jobbik mit 23 Mandaten. Die grün-liberale LMP schaffte um Haaresbreite den Wiedereinzug und errang 5 Mandate. Insgesamt neun Abgeordnete aus dem ehem. Linksbündnis (4 E2014-PM, 4 DK, 1 MLP) werden als "Unabhängige" firmieren, das Quorum für die Fraktionsbildung liegt bei 5.

Nichtregierungsnahe Medien stießen sich an dem Umstand, dass die Provinzabgeordneten im Luxushotel Le Meridien untergebracht werden, einige Oppositionelle verweigerten diese Unterbringung.

Parlamentspräsident mit eigener, bewaffneter Garde: László Kövér, Fidesz.
Hier die und seine Highlights aus den vergangenen vier Parlamentsjahren-

Ersten Streit gab es bereits um den Jobbik-Kandidaten für einen der Vizepräsidenten-Posten, bei dem es sich um einen landesbekannten Neonazi handelt. Man habe aber "keinen Plan B", falls die anderen Abgeordneten die Zustimmung verweigern, hieß es aus den Reihen der neonazistischen Partei, die sich auf die "parlamentarischen Gepflogenheiten" beruft, nach welcher die anderen Parteien auch den Kandidaten der Gegenseite zustimmen. (siehe dazu auch das Update oben)

Die 199 Abgeordneten (
hier die vollständige Liste) werden, der neuen "Hausordnung" folgend, die meiste inhaltliche Arbeit in 15 Ausschüssen verrichten, auch dort erhält Jobbik in zweien den Vorsitz, ausgerechnet für "Bildung und Kultur" sowie "Wirtschaftsentwicklung". Das Plenum ist nur noch für Generaldebatten und Abstimmungen vorgesehen, damit, so die Begründung Kövérs, die Abgeordneten mehr Zeit hätten, sich um ihre Wahlkreise zu kümmern und "unnötige Debatten" vermieden werden könnten. Ohnehin, so die Meinung des obersten Parlamentshüters, sollte die Regierung mehr mit Dekreten agieren und sich nicht ständig vom Parlament aufhalten lassen.

Die Sitzverteilung im neuen Parlament (dunkelgrün müsste eigentlich dunkelbraun sein, aber MTI fürchtete wohl die - natürlich rein - optische Nähe zum sandorange der Regierungspartei)

Die LMP drängt trozdem auf einen Sonderausschuss zur Untersuchung von schwerwiegenden Vorwürfen gegen das Finanzamt, das systematischen, bandenmäßigen Steuerbetrug zumindest zugelassen, vorwurfsweise sogar dazu angestiftet haben soll. Die demokratische Opposition, vor allem die LMP, wirft der Regierung hier Hinhalte- und Vertuschungstaktik vor, weil man mit den Ermittlungen "bestimmte Interessen berührt." Der Kronzeuge des Steuerskandals, der Ex-Beamte Horváth, wurde von der Staatsanwaltschaft systematisch kriminalisiert, die regierungsnahen Medien überzogen ihn mit einer Diffamierungskampagne.

Am Montag erhielt Premier Orbán von Staatspräsident Áder den Auftrag zur Regierungsbildung, bei einer Sondersitzung am Samstag, wird sich Orbán zum Premier wählen lassen, die Inaugurationsfeier soll im und danach auch vor dem Parlament bei einem “Volksfest” bzw. einem “Fest der Demokratie” (Rogán) stattfinden, an beiden Orten will Orbán eine Rede halten.

Die Regierungsaufstellung wird sich jedoch bis nach den Europawahlen am 25. Mai (übrigens der Tag des Heiligen Orbán) verzögern. Wie berichtet, sind einige Rochaden vorgesehen, die dem inneren Führungszirkel um Orbán noch mehr direkte ministerielle Macht verschaffen sollen. Offen ist, ob der jetzige Justiz- und Verwaltungsminister Navracsics nur übergangsweise das Außenamt übernehmen wird, um dann die Kommissarsstelle in Brüssel anzutreten oder ob er - wie es Orbán lieber wäre - in Budapest bleibt.

Erste heiße Tagesordnungspunkte werden der Atomdeal mit Russland über den Ausbau des AKW in Paks
sowie die umstrittene Finanzierung über einen alle Kräfte übersteigenden Kredit aus Moskau sein. Der bilaterale Vertrag soll recht bald in Gesetzesrang erhoben werden, obwohl den Abgeordneten längst nicht alle Details, vor allem des Kreditvertrages und seiner Nebenabsprachen vorliegen. Weitere wichtige Gesetzesanpassungen drehen sich um das am 1. Mai in Kraft getretene Bodengesetz sowie um eine Lösung des Problemkreises der Forex-Kredite, die sich wohl bis in den Herbst ziehen wird, da sowohl einheimische wie auch EU-Gerichte der Regierung einen Freibrief für ein pauschales Verbot bestehender Forex-Kredite mit Zwangsumtausch verweigerten.

 

Allgemein ist davon auszugehen, dass die 3. Orbán-Regierung keine derart exzessiven Gesetzesänderungen (über 500 in der vorigen Legislaturperiode, einschl. einer neuen Verfassung) mehr vornehmen wird, einfach, weil dies nicht mehr nötig sein wird, sondern vielmehr um ein Fine-Tuning und Lückenstopfen bemüht sein wird, um das geschaffene System der demokratisch lackierten Ein-Parteien-Herrschaft zu vervollkommnen. Hier ist vor allem auf dem Gebiet des Ausschreibungs- und EU-Geldvergabewesens noch Handlungsbedarf, denn Brüssel erscheinen die bisher getätigten Umbauarbeiten noch nicht regelkonform genug (und auf den Schein kommt es an). Es bedarf noch einiger Anstrengungen, eigentlich Illegales legal zu machen, um eine spätere Verfolgung des Beutezuges zu verhindern.

Fest stehen bereits einige weitere "Versorgungsprojekte" hinsichtlich Handelsmonopole für "erwählte Kreise" (im Gespräch: Alkohol, Lotto-Lose), auch die weitere Ausformung des Ständestaates über eine entsprechende Steuer-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ist bereits konzipiert. Im Fokus der "Nationalisierung"- bzw.  Umprivatisierungsstrategie steht in den kommenden Jahren vor allem der Bankensektor. Unter besondere Beachtung ist das Gebahren auf dem Gebiet der Staatsfinanzen / Schuldenfinanzierung / Notenbankpolitik zu stellen, die Achillesverse des Orbánschen Staatskonstrukts.

Mehr dazu auch in: Viktor allmächtig?

red.

Der Pester Lloyd bittet Sie um Unterstützung.

 

 

 

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.