THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 20 - 2014   POLITIK 14.05.2014

 

Missverständnisse unter Nationalisten: Mit dem bösen A-Wort machte der Premier von Ungarn der “Regierung” in der Ukraine Angst vor einer zweiten Front

Premier Orbán hat mit seinen aktuellen Äußerungen zum "Recht auf Autonomie" der ungarischen Minderheit in der Ukraine für Unmut gesorgt und "seiner" Minderheit einen ziemlichen Bärendienst erwiesen. Zwar bemühte sich Außenminister Martonyi schnell, die Wogen zu glätten, in dem er kommentierte, dass die Aussagen seines Chefs "keinerlei neue Aspekte" beinhalteten, doch die Übergangsregierung in Kiew reagiert derzeit höchst nervös auf Autonomie-Aufrufe. Die "rechten Sektoren" in beiden Ländern profitieren von der politischen Dummheit Orbáns. Ungarn wird zur Konfliktpartei.

UPDATE, 15.4.: Am Mittwoch nutzte Außenminister Martonyi das Deutungsspektrum des Befriffes “Autonomie” als Schlupfloch, um dem Konflikt zu entrinnen. Auf einer Pressekonferenz mit seinem slowakischen Amtskollegen führte er aus, dass Orbán den Begriff in einem “weiteren Kontext” gebraucht habe und also missverstanden worden sei. Die Regierungspresse wollte einen “Übersetzungsfehler” bei ukrainischen Medien ausgemacht haben und schob den schwarzen Peter - wie üblich - damit an die Gegenseite.

Premier Orbán am Samstag auf dem Weg zu seiner Inaugurationsrede vor dem Parlament, die bei der ukrainischen “Regierung” gar nicht gut ankam.

Unter dem Begriff Autonomie, gern auch auf "territoriale Autonomie" erweitert, versteht man in Europa normalerweise nur ein über rein kulturelle Minderheitenrechte hinausgehende Selbstbestimmung, die auch auf einen geographischen Raum, meist als "historische Siedlungsgebiete" bezeichnet, zugeschnitten ist und u.a. auch Elemente der Steuer- und Lokalverwaltungsautonomie beinhalten kann sowie eine Vertretung in der Legislative. Für einige radikale Separatistenbewegungen,wie z.B. jene - von Fidesz forcierte - der Székler in Rumänien, ist aber auch die komplette staatliche Abspaltung eine Option, die ungarische Regierung wie ihre Statthalter in den Vor-Trianon-Gebieten halten die Defintion dieses Begriffes daher bewußt im Ungefähren.

In der West- bzw. Karpatenukraine betrifft das rund 150.000 ethnische Ungarn (Zensus 2001), bzw. rund 12% der Bewohner der Region Transkarpatien, die vor dem Trianon-Vertrag auf ungarischem Territorium lebten, und ab 1938 nach dem "Wiener Schiedsspruch" als Teil des Horthy-Hitler-Paktes wieder besetzt wurden. Allerdings bilden die Karpatoungarn heute nur noch punktuell die Mehrheit, was eine territoriale Eingrenzung - anders als z.B. in Siebenbürgen - fast unmöglich macht, ohne andere Bevölkerungsgruppen vor den Kopf zu stoßen. Nur im Rajon Berehovo kommen sie noch auf über 50% (76%), doch schon in der Bezirkshauptstadt sind es nur noch 48%, in allen anderen "Ungarngebieten" schwanken die Anteile zwischen 1 und maximal 33% (Ungvárer Bezirk).

Orbán sagte bei seiner Inaugurationsrede am Samstag: "Die 200.000 Ungarn in der Ukraine haben ein Anrecht auf die doppelte Staatsbürgerschaft, Minderheitenrechte und Autonomie". Die Übergangsregierung der Ukraine hält Orbáns Auslassungen für "kontraproduktiv", sowohl was die bilateralen Beziehungen angeht als auch mit Blick auf die - ebenfalls von einer Patronatsmacht unterstützten - separatistischen - und freilich auch auf nationalistisch aufgeheizten Stimmungen wachsenden - Bewegungen im Osten und Süden des Landes, die sich durch den Vorstoß eines EU-Landes in ihren Handlungen legitimiert sehen könnten, denn Autonomie heißt dort schlicht Abspaltung.

Diese Forderungen (speziell die doppelte Staatsbürgerschaft) seien nicht "im Einklang mit ukrainischen Gesetzen", sagte der Sprecher des Außenministeriums in Kiew dazu, wobei aufgrund der mangelnden Legitimität der Kiewer Übergangsmachthaber ohnehin nicht klar ist, welche Art von Gesetz derzeit angewandt wird, bestehendes Recht oder das Recht des Stärkeren? Jedenfalls bestellte das ukrainische Außenministerium den ungarischen Botschafter in Kiew ein, um ihn zu "mehr Zurückhaltung" bei "derart sensiblen Themen" anzuhalten.

Orbán Ende Februar vor einem Patrouillen-Flug an die ukrainische Grenze. “Wir sind auf alles vorbereitet”, sagte er als er aus dem russischen Helikopter-Modell MI-2, NATO-Code: Hoplite, ausstieg.

Für die ukrainischen Machthaber klingen Orbáns Auslassungen im aktuell Kontext, der keinen Platz für Zwischentöne lässt, fast nach der Eröffnung einer zweiten Front: immerhin hat man es im Westen des Landes auch noch mit Ruthenen (ein ostslawisches Mischvolk mit Ambitionen Richtung Russland), Rumänen bzw. Moldawiern, im Süden mit Bulgaren zu tun. Räumt man denen irgendwelche Autonomierechte ein, z.B. um der EU einen Gefallen zu tun, kann man selbige Rechte den sich als Russen bekennenden Ukrainern wohl kaum verwehren. Das aber wiederum wäre gegen jedes Selbstverständnis der heute dominierenden nationalistischen Ukrainer (die übrigens selbst - wie alle Völker Europas - ein "reines" Mischvolk sind...). Einzig bei den ukrainischen Roma sind sich Russen, Ukrainer und Ungarn einig. Die haben in keinem der Länder irgendetwas selbst zu bestimmen. Dass es ganz allgemein zunächst um Menschen- und Grundrechte für alle gehen sollte, geht in der Hitze des Gefechts der Kalten und neuen lauwarmen Krieger einfach unter.

Die ungarische Regierung reagierte auf die Kritik aus Kiew. Minimal. Sie ließ ihre englischsprachige Pressemeldung über Orbáns Statements über Nacht von der Regierungswebseite verschwinden, Minister Martonyi, der Anfang März mit hektischer Reisetätigkeit versuchte, sich Klarheit über die Lage im Nachbarland zu verschaffen, sagte, dass alle ungarischen Regierungen der letzten 25 Jahre die gleiche Politik hinsichtlich der ungarischen Minderheiten betrieben (was 1. nicht stimmt und 2. nach innen von Fidesz auch ganz anders kommuniziert wird.), Orbáns Rede enthalte "keinen einzigen neuen Aspekt", "Wir weisen jede Art von Fehlinterpretation zurück, ob sie in gutem oder schlechtem Glauben geäußert werden", so Martonyi, nach einem Meeting mit seinen EU-Amtskollegen am Dienstag.

Sogar der polnische Ministerpräsident Donald Tusk äußerte sich am Dienstag dazu und befand Orbáns Bemerkung “äußerst unglücklich”. Bei einem Visegrád Vier-Treffen am Mittwoch in Bratislava wolle er seinem Amtskollegen “direkt sagen, was er davon hält, auch wenn das die Stimmung verdirbt.” so Tusk vor Medienvertretern.

Die ukrainische Seite begrüßte, dass sich die ungarische Regierung zumindest von den "weiterführenden Forderungen" der (neonazistischen) Partei Jobbik, die eine "Volksabstimmung" nach dem Muster der russischen Separatisten im Osten auch für den Westen forderte, distanzierte. Immerhin nimmt Kiew Jobbik als einen politischen Faktor wahr, kein Wunder, man selbst hat sich ja in noch direkterem Maße von der Stimmungsmache faschistischer Kräfte für den eigenen Machterhalt abhängig gemacht.

Die auf die Übergangsregierung großen Einfluss ausübenden und auch in ihre vertretenen nationalistischen und neofaschistischen Kräfte von Swoboda und dem "Rechten Sektor" sehen bereits ein Komplott Orbáns mit Putin gegen die Ukrainer am Werk, eine konstruierte Allianz, die für die Betroffenen nichts Gutes verheißt: Sturmtruppen hatten bereits Ende Februar u.a. den von Karpatoungarn dominierten Stadtradt von Beregszász, der zudem als Janukowitsch-nah gilt, gestürmt, die Sitzung unterbrochen und Amtsgebäude besetzt, auf den hungaroukrainischen Bürgermeister von Ushgorod / Ungvár, der wiederum der Maidan-Bewegung nahe steht,
wurde Anfang März ein Messerattentat verübt.

Ethno-linguistische Karte der Ukraine und Hot-Spots der Minderheiten.

Auch in anderen Orten gerieten die Karpatoungarn immer wieder zwischen die Fronten, kommunale Amtsträger wurden willkürlich abgesetzt, teilweise mit Gewalt traktiert. Orbáns aktuelle Äußerungen dürften ihre Lage kaum verbessern. Den ungarischen Ukrainern wurde, genauso wie den russischsprachigen Ukrainern von der Maidan-"Regierung" der Gebrauch ihrer Minderheitensprache als Amtssprache zunächst verboten, der Erlass wurde wieder rückgängig gemacht, eine Lösung liegt - aufgrund des Bürgerkrieges - derzeit auf Eis. Allerdings ist es derzeit ausgeschlossen, es auf einem Maidan-regierten Amt in der Westukraine zu wagen, das Ungarische zu benutzen. Mehr über "Ungarn zwischen den Fronten in der Ukraine" in diesem Beitrag.

Seit Monaten rollt eine nicht so kleine, aber weitgehend verschwiegene Flüchtlingswelle aus der Ukraine nach Ungarn, mehrheitlich von Karpatoungarn (oder Leuten, die sich erfolgreich dafür ausgeben konnten) mit neuen ungarischen Pässen sowie von "Deserteuren", die sich der Mobilmachung der nationalistischen "Übergangsregierung" in Kiew entziehen wollen. Während die Regierung von "einigen Hundert" Menschen spricht, berichten Bürgerrechtsgruppen bereits von einer täglich wachsenden Flut und bereits "über 10.000 Menschen", von denen die meisten wegen ihrer Doppelstaatsbürgeschaft jedoch im Lande versickern, den Behörden bleibt so - vorerst - das verstörende Bild von provisorischen Flüchtlingslagern erspart.

Die offizielle Außenpolitik Ungarns hinsichtlich der Ukraine folgt zwar der EU-Linie, allerdings sitzt das Land nicht nur wegen der "eigenen" Minderheit zwischen allen Stühlen. Auch die neue, von Orbán über den Atomdeal und den 10-EUR-Milliardenkredit forcierte Nähe zu Moskau, führt zu einer Art Schaukelpolitik, bei der man möglichst keiner Seite auf die Füße treten will und sich daher auf die "Minderheitenrechte" konzentriert.

 

Dass Orbáns Äußerungen zur Autonomie mit Putin akkordiert sein könnten, wie in der Ukraine gemutmaßt wird, kann als äußerst unwahrscheinlich - aber keinesweges ausgeschlossen - gelten. Das Dümmste, was Orbán im jetzigen Moment machen konnte, war es, das stille Parkett diplomatischer Hintergrundarbeit zu verlassen und die Hungaroukrainer durch seine Nationalrhetorik wiederum ins Schweinwerferlicht ukrainischer Nationalisten zu bringen. Genau das hat er getan: er hat Ungarn zur Partei im Ukraine-Konflikt gemacht. Genüsslich berichtet die russische Staatsagentur RIA NOVOSTI von dem Vorfall und erklärt wissend: "Orbán gab seine Erklärung vor dem Hintergrund einer Sonderoperation ab, die Kiew im Osten der Ukraine zur Niederschlagung der Anhänger einer Föderalisierung durchführt."

red., m.s.

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