THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 34 - 2014   POLITIK   21.08.2014

 

Forcierter Identitätsverlust: Sind die "Nationalitätenwahlen" in Ungarn demokratisch?

Von Jenő Kaltenbach *

Bei den vergangenen Parlamentswahlen in Ungarn gab es für bekennende Angehörige der "nationalen Minderheiten" erstmals die Möglichkeit, seine Stimme für die "Minderheitenliste" seiner Wahl abzugeben, - zum Preis der Aufgabe des Wahlrechts für eine allgemeine Parteienliste. Auch bei den Kommunalwahlen im Oktober ist diese Option gegeben. Der Autor dieses Gastbeitrages gewährt einen Einblick in die "demokratische" Praxis dieser "Minderheitenwahl", am Beispiel der Ungarndeutschen, denen er selbst entstammt.

Im Lichte der beschriebenen Wahlmodi für nationale Minderheiten, bekam der Begriff “seine Stimme abgeben” in Ungarn eine buchstäbliche Bedeutung.

 

Eine ethnische bzw. nationale Minderheit kämpft stets um ihren Fortbestand gegen eine Mehrheit, die sie mit spontaner oder bewusster Assimilisation, also mit "Einverleibung" bedroht. Das gilt umso mehr als die neue, von der Regierungspartei im Alleingang verfertigte Verfassung einen Unterschied zwischen "nationen- und staatsbildenden" Elementen macht, womit die im Ausland lebenden Ungarn  einen "höheren" Verfassungsstauts zuerkannt bekommen als im Lande lebende Minderheiten und das Ungarntum selbst als gefährdete Minderheit im europäischen Maßstab politisiert wird.

In einer solchen Situation gewinnt die Einheit innerhalb der jeweiligen Gruppe an besonderem, möglicherweise existentiellem Gewicht und das passiert natürlich auf Kosten der inneren Pluralität, also es gefährdet die demokratische Funktionsweise. Dies gilt für Ungarn im Ganzen wie für die Mechanismen in den anerkannten Minderheiten. Dieser Vorgang wird für die Minderheiten gravierender, wenn ein Staat und dessen Regierung auch selbst an der Homogenisierung der Minderheitengemeinschaften für ein größeres "nation building" interessiert ist.

In Ungarn sind 13 Minderheiten gesetzlich anerkannt und normiert, 12 als "nationale", eine, die Roma als "ethnische" Minderheit. Insgesamt bekennen sich rund 4% der Bevölkerung zu einer dieser Minderheiten, doch Schätzungen gehen allein bei den Roma von einem Bevölkerungsanteil von 7-10% aus.

Das bei uns in Ungarn erfundene Selbstverwaltungssystem für die nationalen Minderheiten weist neben einigen positiven Aspekten den großen Nachteil auf, dass es die Zivilgesellschaft entleerte. Besonders scharf zeigt sich das bei den Wahlen. Im Normalfall sind die demokratischen Wahlen eine Angelegenheit der Zivilgesellschaft, wobei die miteinander konkurrierenden Organisationen, Parteien das Endergebnis entscheiden, wozu der Staat (die Verwaltung) ein neutrales Verhältnis pflegen sollte.

Wie die dominierende Partei im nationalen Maßsstab, nehmen bei uns auch die Nationalitätenselbstverwaltungen, also die „Nationalitätenverwaltung” selbst jedoch großen Einfluss auf die Umstände der Wahlen. Möglichst wenig soll hier dem Zufall, also der freien Willensbildung der Wähler bzw. Bürger überlassen werden. Im Zeichen der großen, notwendigen Einheit entscheiden gewisse Nationalitätenselbstverwaltungen im Alleingang, wer Kandidat sein kann und wer eine Chance auf die Mehrheit hat. Das geht soweit, dass die Selbstverwaltungen zivile Pseudoorganisationen zu dem Zweck gründen, dass sie bei den Wahlen als eine Organisation antreten kann, die wiederum Kandidaten nominieren kann.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Bei den Ungarndeutschen herrscht seit mehreren Wahlperioden die Praxis, dass der amtierende Vorsitzende seine Komitatsvasallen einberuft und die sich - bei Berücksichtigung bestimmter Anteilszahlen - über die Verteilung der Mandate verständigen. Über die Kandidaten der so enstandenen „Einheitsliste” entscheidet dann der Verband der Deutschen Nationalitätenselbstverwaltungen in Nordungarn (praktisch der Vorsitzende) als „zivile” Organisation. In Ungarn hat man ja die „zivile” Organisation erfunden, die kein einziges ziviles, "natürliches" Mitglied hat, da jedes Mitglied eine Selbstverwaltung, also eine Organisation ist.

Der ungarndeutsche Wähler soll sich offensichtlich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wen er zu seinem "Verwalter" wählt, denn es gibt keine Alternativen, auch nicht beim Wettstreit der Programme, denn es gibt keine Programme. Diese Funktionsweise liefert gleich die Antwort auf die Frage, wie die beeindruckende personelle Stabilität der Nationalitätenvertretung zu erklären ist. Die Mehrheit der Vorsitzenden und die Führungsriege sind praktisch von Anfang an, also seit beinahe zwanzig Jahren im Amt. Bei den Ungarndeutschen ist seit Jahrzehnten Ottó Heinek der führende Funktionär. Dieser verzichtete für die Fortführung seiner Funktionen sogar auf sein im April errungenes Minderheitenmandat im Parlament.

Einen ähnlich zentralistischen und undemokratischen Mechanismus konnte und kann man bei der Landesselbstverwaltung der Roma bewundern, wo ein von Orbán goutierter Vorsitzender über die Geschäfte und die Kandidaten wacht. Mögen hier die politischen Motive dominieren, sind es da auch "praktische", schließlich geht es um - wenn auch lokal begrenzte - Macht und materielle Ressourcen.

 

Zu welchen Absurditäten dieses System noch führen kann, dazu ein weiteres Beispiel. Wie wir wissen konnte man heuer zum ersten Mal für einen Nationalitätenkandidaten bei den Parlamentswahlen stimmen (dieser erhält im nationalen Parlament allerdings nur Rede-, kein Stimmrecht). Die Bedingung dafür war, wer darauf Anspruch erhebt, der schließt sich automatisch vom aktiven und passiven Wahlrecht für eine Parteiliste aus. Die Nationalitätenführer murrten zwar ein wenig, aber Widerstand gab es letztlich natürlich keinen. Dass sie bezüglich dieser entscheidenden Frage eventuell ihre Wähler befragen, schien ihnen wahrscheinlich zu umständlich, die Macht ließ ihnen ohnehin keine Zeit (jedenfalls lautete so ihre Erklärung). Es wäre aber nicht sinnlos gewesen, denn es stellte sich heraus, dass ein Großteil der Nationalitätenwähler diesen Wahlmodus abgelehnt hat.

Bei den Deutschen stimmte weniger als 20 % für die eigene Liste. Man würde denken, dass die Führungspersönlichkeiten danach Selbstkritik üben, aber es passierte das Gegenteil. Zwecks der Vorbereitung der Kommunalwahlen am 12. Oktober gab es eine erneute Abstimmung der Führungsriege, wo man nicht nur über die üblichen Dinge (Liste, Verteilung usw.) entschied, sondern auch darüber, dass wer sich für die Parlamentswahlen nicht für die ungarndeutsche Liste registriert hat, auch kein Kandidat bei den Kommunalwahlen sein darf.

Bravo! Die Machthaber kommen zusammen und schließen 80 % der Gemeinschaft aus, beziehungsweise entziehen ihnen das passive Wahlrecht. Danach stellt sich zurecht die Frage, wen diese neue deutsche Landesselbstverwaltung vertreten wird außer sich selbst, denn die Gemeinschaft mit Sicherheit nicht. In jedem Rechtsstaat wäre das unvorstellbar.

Natürlich könnte man diesen Sachverhalt gerichtlich angehen, doch dazu bräuchte es, wie oben ausgeführt, ein neutrales Verhältnis der Gewalten zur Politik, einen demokratischen Willen und rechtsstaatliche Garantien. Diese Voraussetzungen sind im Rahmen der von der Orbán-Regierung als "Regierung der nationalen Kooperation" umschriebenen Zustände jedoch kaum mehr gegeben.

Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, wenn der Nationalitätenwähler immer mehr sein Interesse verliert und das System mit dem Argument seiner Schaffung gerade das Gegenteil bewirkt. Er trägt nicht der Bewahrung der Identität der nationalen und ethnischen Minderheiten bei, sondern befördert ihr Sterben. Ist es denkbar, dass das kein Zufall ist?

*Der Autor, Professor Jenő Kaltenbach (Foto), ist Rechtswissenschaftler und Staatsrechtsexperte und war von 1995 bis 2007 parlamentarischer Ombudsmann für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten. Heute ist er bei der Oppositionspartei "Dialog für Ungarn" in der Budapester Stadtversammlung engagiert.

Zum Thema:

Romapartei kritisiert Wahlmodus für Minderheiten in Ungarn als undemokratisch

Betreutes Wählen - Sind in Ungarn noch freie Wahlen möglich?

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