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(c) Pester Lloyd / 43 - 2014   POLITIK  24.10.2014

 

Alle wollen Imre Nagy sein: Die verschiedenen Ungarns begingen den Nationalfeiertag

Die Feierlichkeiten zum Gedenken an den Ungarischen Volksaufstand 1956 verliefen - wie seit über einem Jahrzehnt üblich - streng getrennt nach politischen Lagern. Mieses Wetter, ein verlängertes Wochenende und politische Lustlosgikeit sorgten am Donnerstag für dürftigste Mobilisierung. Wie immer sah sich jeder als Erbe der Volksbefreiungsbewegung und interpretierte seine Weltsicht in die Festreden - wie absurd immer sie sein mochte. Die Regierung demonstrierte den Spirit von 1956 am eindrücklichsten: man ließ eine Oppositionsdemo einfach verbieten...

Alljährlicher Ritus. Das Hissen der Flagge vor dem Parlament.

Neben den traditionellen staatlichen Riten in Budapest: Fahne hissen, Parzelle 301 auf dem Zentralfriedhof besuchen, Ansprache am Széna tér, sandten Regierung und Regierungspartei ihre Minister und Funktionäre über Stadt und in die Lande, um die Botschaft vom "moralisch einwandfreien Befreiungskampf" mit dem entsprechenden Subtext Richtung der heutigen "Feinde der Nation" und "Fremdbeherrscher" in allen möglichen Provinzstädten und auch in den Trianon-Gebieten unters Volk zu jubeln. Nur Orbán machte sich dünn, er hatte in Brüssel zu tun.

Staatspräsident Áder bei der Inszenierung von Erinnerung in der Staatsoper. Wegen dieser Show wurde eine Demo unweit der Oper, auf der ein 56er Veteran sprechen sollte von der Antiterroreinheit verboten...

 

Bei ihren Ansprachen ließen die Volksbefreier von heute geflissentlich außer Acht, dass der Führer der damaligen Bewegung, Imre Nagy, ein bekennender Sozialist, irrwitzigerweise dazu noch mit demokratischen Ambitionen war. Also mindestens zwei Eigenschaften besaß, die ihn heute zu der Gruppe "Linksextremisten" (Fidesz-O-Ton für Oppositionelle) gehörig macht, deren Einstellung sie "aus der Nation ausschließt" (Orbán), weil sie gegen deren Einheit, repräsentiert von Fidesz und der Liebe des Volkes (O-Ton CÖF), im Interesse "fremder Mächte" arbeitet.

Wirtschaftsminister Varga am Széna tér, einem der heftig umkämpften Orte beim Aufstand 1956.

Die verschiedenen Oppositionsgruppen drehten den Spieß um und vermeldeten, jeder in dem ihm gegebenen Duktus, dass sich "ein Aufstand lohnen" kann, wenn er nur richtig angegangen wird, wobei die liebevolle Regierungskunst der Orbán-Administration dabei in die Nähe der stalinistischen Machthaber von 1956 diffamiert wurde, verbunden mit dem Aufruf, dass sich das Volk dann gefälligst wieder mehr bemühen müsse, den eigenen Willen zu repräsentieren und sich von den Tyrannen zu befreien, den äußeren wie inneren.

Jobbik-Anhänger mit Fackeln am Corvin köz.

Am Ende wollte also wieder jeder Imre Nagy sein, auch die rechtsextremistische Jobbik beansprucht für sich, die "wahren" Erben der damaligen "Revolution" zu sein, deren Geist es gilt ins Heute getragen zu werden. Wenn man schon kein Gemetzel mehr anrichten darf, dann soll man doch den "Befreiungskampf" von damals wenigstens "spirituell" beleben, z.B. in dem man durch das Zeugen eines bzw. mehrerer Babies den Überlebenskampf der magyarischen Rasse unterstützt. Das ist kein Witz, das war die Forderung der Jobbik bei ihrer Manifestation am gestrigen Tage, die mit einem Fackelzug entlang der "Revolutionsroute" am Corvin Ring führte.

Orbán war beim EU-Energie- und Umweltgipfel in Brüssel in lustiger Runde mit Rumäniens Basescu.

Desweiteren gab es am Abend einen zentralen Festakt in der Ungarischen Staatsoper mit dem ungarischen Staatspräsidenten. Was dort stattfand, verlor an Bedeutung im Vergleich dazu, was daneben nicht stattfand. Die Polizei hatte eine von der übergewerkschaftlichen Bewegung Szolidaritás für den Nachmittag angemeldete Demonstration zum Thema 1956 verboten. So kurzfristitig, dass nicht einmal eine Neuanmeldung an einem anderen Ort mehr möglich war.

Stammestänze vor dem Parlament.

Üblicherweise werden in Neu-Ungarn für derartige Verbote formale Gründe, Gebote der Verkehrssicherheit oder das Sodbrennen des Polizeipräsidenten angeführt, diesmal jedoch hieß das Verdikt: Das Ziel der Veranstaltung sei nicht erkennbar. Außerdem habe die Präsidentengarde TÉK das Gebiet ab dem Mittag zur Sicherheitszone erklärt. Und was sind schon die Deklaration der Grundrechte gegen einen Anruf des TÉK-Kommandeurs. Szolidaritás, nicht gerade als Hooligan-Truppe bekannt, hatte als Redner Imre Mécs geplant, einen Kämpfer der 1956er Bewegung, von den Stalinisten zum Tode verurteilt, später zu jahrelanger Haft "begnadigt". Dass sie auf das Demoverbot mit einer Erklärung reagierten, dass die "heutigem Machthaber, denen von 1956 immer ähnlicher werden", überrascht nicht, wenn die Administration ihnen die Argumente dafür auf einem Polizeischild serviert. Halten wir fest: die Staatsmacht schätzt einen 56er Veteran als Sicherheitsrisiko ein.

Rund 1.000 Demonstranten bei der “Humanistischen Plattform”.

Damit wäre genug erzählt, doch immerhin gab es doch eine (in Worten: eine) überparteiliche Veranstaltung gestern, auch wenn die Regierung sie bedenklos dem “linksextremen Lager” zurechnen wird. Am Blaha Lujza tér versammelte die "Humanistische Plattform", eine Allianz mehrerer führender Bürgerrechtsgruppen, darunter der TASZ, am Nachmittag rund 700 bis etwas über tausend Menschen und demonstrierte unter dem Motto "Befreie Dich selbst!" gegen zahlreiche unsoziale und gegen die Freiheit gerichtete Regierungsmaßnahmen.

Verschiedene Reder kamen alle zu dem gleichen Punkt. Es gibt keine Freiheit, wenn die Menschen sie nicht selbst besorgen. Jeder habe das Recht, sein Schicksal selbst zu wählen - und genau das ist der Gegenentwurf zur Ideologie der nationalen Zwangsbeglückung in der "illiberalen Demokratie" aus der Vorstellungswort des Orbán-Regimes. Es sei genug, dass "die Politik seit der Wende von einer handvoll Menschen" bestimmt wird, die Bürger sollten Kontrolle über die Politik zurückfodern und -nehmen und "keine Angst vor Politik" haben. Wobei man hier einwenden könnte, dass "den Bürgern" in der Mehrheit eher die Lust daran vergangen ist.

Parzelle 301, seit 1989 Begräbnisstätte für Imre Nagy und Mitkämpfer und der zentrale Erinnerungsort für 1956.

 

Es gab konkrete Forderungen: Beschäftigte in den Kommunalen Billigstarbeiterprogrammen, die bald für alle Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger zur Pflichteinrichtung werden, haben einen Anspruch auf den "gesetzlichen Mindestlohn". Bisher sind sie auf gesetzliche Diät gesetzt und erhalten etwa die Hälfte dessen, was arbeitende Normalbürger zu beanspruchen haben. Die geplante Internetsteuer ist abzusagen, denn "Niemand wird sie zahlen!". Die Vorkommnisse beim Finanzamt (mutmaßliche Strafvereitelung im Amt, Anstiftung zum Steuerbetrug) im Zusammenhang mit den US-Einreiseverboten sind lückenlos aufzuklären. Im übrigen solle man nicht auf die USA warten, um die Demokratie in Ungarn wieder in Gang zu bringen, sagte einer der Redner und mahnte wiederum an die Ereignisse von 1956 und 1989: man müsse es selbst tun!

Für den Sonntag ist speziell gegen die Internetsteuer und die in ihrem Geiste stehenden Anmaßungen der Regierung eine größere Demo mit mehreren Zehntausend Teilnehmern geplant. 18 Uhr, József Nádor Platz.
Weitere Infos hier.

Zum Thema:

Entfernte Freiheit. Ungarn - ein Zustand: Gedanken zu einem Tag, der kein Feiertag mehr ist. Diesen Text publizierten wir bereits 2012. Leider hat er weder an Aktualität noch an Brisanz verloren. Im Gegenteil.

Und ein weiterer Lesetipp: György Konrád: Budapest 1956 - Erinnerungen zum 50. Jahrestag, erschienen: 2006.

red.

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