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(c) Pester Lloyd / 44 - 2014 POLITIK 27.10.2014
Beginnender Kontrollverlust: Orbán und Ungarn am Scheideweg
Eine geschlagene Woche nach Bekanntwerden der US-Sanktionen gegen sechs ungarische Offizielle äußerte sich auch Premier Orbán erstmals öffentlich zur Sache. Er gab dabei die Quersumme der Äußerungen seiner Adjudanten wieder und offenbarte eine eklatante Unentschlossenheit. Politisch lässt sich die außenpolitische "Strategie" Orbáns kaum mehr nachvollziehen, denn jede Variante führt in ein Schachmatt. Psychologisch kommt man der Sache näher. Doch hier ist die Prognose finster. Und selbst im inneren Zirkel der Partei beginnt es zu rumoren.
War schon mal lockerer: Premier Orbán am Freitag in Brüssel... Foto: MTI
Hinsichtlich des eigentlichen Vorwurfs hinter den US-Einreiseverboten, also der Verschleppung bzw. Verhinderung von Ermittlungen zu konkreten Korruptionsfällen, die von einem US-Unternehmen in Ungarn angezeigt wurden, zog es der Regierungschef - am Rande des EU-Klimagipfels in Brüssel am Freitag - weiter vor, zu mauern. Er will keinen Schatten auf seine Exekutive und Judikative fallen lassen und tut, als wäre da nichts. Er wolle Beweise von den USA, denn, "weil Ungarn ein Rechtsstaat ist", könne man "ohne Beweise keine Ermittlungen" durchführen. Liegen diese "glaubhaften" Beweise vor, werde man "ohne Verzögerung" ermitteln.
Freilich genügt in wirklichen Rechtsstaaten ein begründeter Anfangsverdacht, um Ermittlungen in Gang zu setzen, der auch schon seit längerem besteht und u.a. auch von einem Ex-Finanzamtsinspektor vorgebracht wurde. Man zog es jedoch vor, dessen Beweise verschwinden, das Verfahren "in Frieden" ruhen zu lassen und den Whistleblower zu kriminalisieren (US-Taktik?. Bei den - aus offen politischen Gründen "feindliche Agenten" (Orbán) - inkriminierten NGO´s war keinerlei Beweis nötig, um gegen diese staatanwaltschaftlich und polizeilich vorzugehen und sie - auf Regierungszuruf - geschäftsunfähig zu machen - durch die gleiche NAV-Chefin, die jetzt im Fadenkreuz der Vorwürfe steht.
Zwar könnten die "ungarischen Geheimdienste herausfinden, wer von dem Einreiseverbot betroffen ist," brüstete sich Orbán vor internationaler Presse und in fließendem - Ungarisch. Jedoch "müsste Jeder, der Vorwürfe erhebt auch die benennen, die sie betreffen." Warum Orbán diese Geheimdienste nicht einsetzen möchte, um die Grundfesten des Staates erschütternde Korruption zu untersuchen? Andererseits, sei es schon Sache der USA, "zu entscheiden, wen sie in ihr Land lassen." Ungarn werde "diese Entscheidungen zur Kenntnis nehmen." - Im Mafia-Jargon wäre das eine unverhohlene Drohung, im Falle Orbáns darf es diesmal jedoch eher als Statement des Trotzes gewertet werden.
Inzwischen hat sich aus den Äußerungen der US-Diplomaten sowie dem, was in weiten Teilen der Medien und der Öffentlichkeit kommentiert wird, die Einsicht durchgesetzt, dass die US-Aktion drei Beweggründe hat:
1. die ausgeuferte Korruption, die direkt US-Unternehmen benachteiligt und bananenrepublikanisch behandelt wird,
2. die immer unverhohlenere Unterstützung des NATO-Partners Ungarn für die russische Politik (Stichworte: Sanktionsablehnung und -umgehung, Gaslieferstopp an die Ukraine, South-Stream-Alleingang, Autonomiedebatte für die Karpatoungarn, Atomdeal plus Milliardenkredit mit Rosatom, Schließung der Botschaft in Estland etc. etc.)
3. die sich außerhalb des Toleranzbereiches bewegenden Maßnahmen gegen Bürgerrechtsgruppen - als ein Symptom für den erodierten Stand von Rechtsstaat und Demokratie in Ungarn, also die Aufkündigung des europäischen und westlichen Grundkonsenses.
Interessanterweise verneint der US-Gesandte in Budapest genau diese politischen Aspekte vehement, nur um im Nachsatz wieder auf diese zurückzukommen. Eindeutiger kann ein Diplomat gar nicht sein.
Der transatlantische Konsens ist: Ungarn hat es übertrieben, Orbán sind die Grenzen aufzuzeigen. Ein russisches U-Boot in pannonischer Steppe wird ebensowenig akzeptiert, wie ein subventionierter Mitspieler, der sich permanent nicht an die Grundregeln hält. Nach Norwegen zeigt nun ein mächtigerer, aber noch EU-externer Partner der Regierung die gelbe Karte, mäßigt sich Orbán nicht, wird auch die EU anziehen müssen.
Die EU wird Orbán einen Katalog zusenden...
Artikel 7-Verfahren hin, Grundrechte-Monitoring her, man wird einen "informellen" Weg finden, den für Ungarn überlebensnotwendigen Kapital-Input (Staatsanleihen, Bankenkredite, Direktinvestitionen, EU-Mittel) so auszudünnen, dass Orbán alsbald die Puste ausgeht. Die Mehrheit des Volkes kann keine zusätzlichen Bürden mehr tragen, es lebt bereits zu 40% unter der Armuts- und über der Schmerzgrenze. Schon eine "Internetsteuer" von ein paar Euro im Monat bringt es mittlerweile auf die Barrikaden. Steht Orbán dann mit dem Rücken zur Wand, wird ihm ein Katalog mit Mindestanforderungen den Weg zurück in die Gemeinschaft weisen. Er darf dann gerne auch wieder Wahlen gewinnen. Das wird der Deal. Die Blaupausen davon gehen an all jene Ländern, deren derzeitige oder kommende Machthaber Gefahr laufen, ebenfalls die Grundlagen der Gemeinschaft zu verlassen, um sich in ihren Ländern die Macht auf Kosten ihrer Völker zu sichern.
Wäre Orbán schlau und rational, zöge er weder gegen die USA zu Felde, noch käme er den Russen so selbstzerstörerisch nahe. Wäre die EU schlau, täte sie das Umgekehrte nicht! Das Maß macht den Europäer. Orbán fehlt es, denn er greift die EU frontal an. Er sägt am Ast, auf dem er schwitzt...
US-Bashing und Verschwörungstheorien
Die Regierungspartei und ihre medialen Lautsprecher picken sich aus der beeindruckend bunten Palette von Konfliktstoffen die Punkte heraus, in denen die USA selbst nicht gerade ehrenwert dastehen - was, zugegeben, nicht wirklich schwer ist - und schrauben an den üblichen Verschwörungstheorien. Wieder seien es die enttäuschten ungarischen Linken, die ihre Höllenhunde in aller Welt, vor allem die Finanzmärkte und die um ihre Extraprofite gebrachten Multis anriefen, um die legitime Macht Orbáns zu attackieren. Die USA spielen sich - typischerweise - wieder als Weltgendarm auf, ihnen und der EU fehlt schlicht der "Respekt" vor dem "eigenen Weg Ungarns".
Parlamentspräsident Kövér bemühte - unter lautstarkem Protest der Linken - wieder das schon von Orbán vor Jahren angewandte Gleichnis von Brüssel und Moskau, - das angesichts der Putinjaden in Budapest irgendwie absurd anmutet, aber seine Wirkung nicht verfehlt. Er schob nach, dass “wenn die EU glaubt, Ungarns Handeln diktieren zu müssen, es langsam an der Zeit sei, die Gemeinschaft zu verlassen.” Sein Fidesz-Vizepräsident Gulyás sekundiert, dass allein das Anzweifeln der Demokratie im heutigen Ungarn ein Schlag ins Gesicht der 56er Märtyrer sei. Das wirft wiederum die Frage auf, wohin der Schlag bei den 56ern zielt, wenn wir uns die Anbiederei des Fidesz an Moskau vor Augen führen? Wir hätten es von einem dieser Veteranen, Imre Mécs, am Nationalfeiertag vielleicht erfahren können, doch man hat dem alten Mann an seinem Feiertag ein Auftrittsverbot - aus Sicherheitsgründen - erteilt.
Es steht zu viel auf dem Spiel: Orbán verliert den Kontakt zum Rationalen
In Sachen US-Sanktionen, welchen Plan hat Orbán nun? Kurz gesagt: keinen. Das mag angesichts der systematischen Übernahme des Landes durch die Fidesz-Truppen, sechs gewonnenen Wahlen und einer säuberlich zerlegten Opposition erstaunlich klingen, ist aber in der Wahnlogik eines politischen Besessenen begründet und an der - paradox klingenden - hyperaktiven Apathie Orbáns ablesbar.
Zum Einen liegt auf der Hand, dass die systematischen und legislativ, judikativ wie exekutiv unterfütterten Beutezüge - politische wie ökonomische - so viele und so hochstehende Personen und derart umfängliche Werte betreffen, dass ein Aufdecken dieser Pyramide zum Einsturz selbiger führen müsste. Wie anders will man sonst erklären, dass Orbán und Lázár derart viel außenpolitischen Porzellan zu Bruch gehen lassen, nur um ein paar Steuersünder zu schützen? Natürlich steckt viel mehr dahinter, wenn schon die Chefin des Steueramtes vor Steuerfahndung geschützt werden muss: Nämlich der ganze Zweck der Übung.
Zum Anderen agiert Orbán nicht mehr rational. Ihm ist bewußt, dass seine nächste politische Niederlage sein Untergang sein wird. Allein die Vorstellung an eine Niederlage ist für ihn traumatisch. Die Vorletzte aus dem Jahre 2002 war ja auch die Initialzündung für Orbáns Wandlung vom streitbaren Demokraten zum Puszta-Putin. Es greifen bei Misserfolgen nun nach- und ineinander die selbstzerstörerischen Mechanismen der Verdrängung, Überkompensation, Wut und Brutalität, bei gleichzeitig steigendem Kontrollverlust.
Dass, um es kurz und brutal zu sagen, Orbán ein Psycho sein könnte, davor haben wir mehrfach gewarnt, - es wird seine Gründe haben, warum uns vor allem Politiker der verschiedensten Lager in dieser Annahme zunächst nicht folgen wollten. Orbán, das ist jetzt auch für die Zweifler immer klarer erkennbar, ist von seiner Sturheit, seinem inneren Zwang gefangen, er korrigiert nicht mehr, er reagiert nur noch, doch ohne dabei die Richtung zu ändern. Noch stößt er sich nur die Nase, am Ende steht unvermeidlich ein Amoklauf.
Absurdes Handeln - hektisches Korrigieren
Zwei eindrückliche Beispiele für die Hybris und den beginnenden Kontrollverlust des oberen Führungszirkels sind die Internetsteuer, deren Wirkung man im Olymp offenbar völlig unterschätzt hat. Orbáns Idee, kurz bevor die ersten Zigtausenden dagegen auf die Straße gehen wollten: man könne ja den gesetzlichen Mindestlohn um die Höhe der Internetsteuer anheben. Klar, als würde sonst im Leben nichts teurer.
Noch absurder: Lázárs, Orbáns Metternich, neuestes Tänzchen mit Norwegen. Ohne rot zu werden, übergab er dem Botschafter der Skandinavier den von ihm beauftragten KEHI-Bericht, der so ziemlich alles enthält, außer die behaupteten Beweise für die unrechtmäßige Verwendung der Norway Grants durch ungarische NGO´s. Dem Botschafter richtete er aus, er möge bitte den zuständigen Minister nach Budapest schicken, damit er ihn "von den Gesetzesverstößen überzeugen könne." So wie die Sache bis jetzt gelaufen ist, könnten die NGO´s sogar Millionen hinterzogen haben, sie stünden rechtlich und moralisch noch immer über ihren Verfolgern.
Ist Orbán nicht mehr nützlich, ist er weg. Erste interne Zweifel an der Unfehlbarkeit des Herrn.
Wie aus verschiedenen Quellen zu hören ist, beginnt im Fidesz selbst ein Prozess der allmählichen Sezession, der Zweifel. Es sind nicht die dort überwinterten Reste von konservativen Demokraten, die jetzt vorsichtig die Unfehlbarkeit des Herrn anzweifeln, es sind selbst Hardliner, allerdings solche, die Orbán aus verschiedenen Gründen an den Rand gestellt hat. Und es ist die Angst, die sie treibt, so wie Orbán selbst. Sie, die (häufig noch in Moskau oder an der Budapester Marx-Uni studiert) 1989 den antisowjetischen Befreiungskampf erfunden hatten, fühlen sich als Lakaien im Dienste des Kremls nicht sonderlich wohl, auch spüren sie, dass ohne die EU in Ungarn die Lichter ausgehen werden.
Paten und Patienten wünschen sich mehr Opportunismus, hört man. Die Aggressivität, mit der Orbán - nach innen wie außen - zu Werke geht, stört die kreative Ruhe, die ihnen bisher half, ihre Pfründe zu sichern und sich auf lange Sicht einzurichten. Orbán mag zwar der coolste Boss sein, den sie je hatten, aber er ist wohl bald nicht mehr der nützlichste...
red. / m.s. / cs.sz.
Das Wichtigste zum Thema:
Auf dem Gipfel der Macht: Orbán bereitet letzte Schritte zur Entdemokratisierung Ungarns nach russischem Vorbild vor
Außer Spesen...: Außenminister in den USA wie Pizzabote empfangen
Massiver Shitstorm: Ungarn begehren gegen Internetsteuer auf
"Kontrollamt" meldet pflichtgemäß "kriminelle Akte" bei NGO´s in Ungarn
"Klare Warnung": Fortgang der Affäre um US-Einreiseverbote
Der Warnschuss: US-Sanktionen gegen Ungarn (darin weiterführende Links)
Brüssel, hilf! - Orbán gegen die Zivilgesellschaft
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