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(c) Pester Lloyd / 47 - 2014   POLITIK   20.11.2014

 

Was war und was wird das? Reaktionen und Kommentar zu den Demos in Ungarn

Regierungsgegner und -befürworter fragen sich, wie die Protestbewegung der Zehntausenden in Budapest und Dutzenden Städten Ungarns und Europas vom Montag einzuordnen ist und wie es weitergeht? Das Spektrum reicht von: Strohfeuer der Enttäuschten über gekaufte Provokateure bis hin zu einer zwar noch planlosen, aber doch echten Bürgerbewegung. Was immer es wird, es war zumindest ein Statement von Bürgern zur Selbstbestimmung. Und allein das ist heute schon revolutionär.

Budapest, 17. November 2014. News-Ticker Nachlesen vom Montag, 17.11.
Foto: www.444.hu

Während die Bewegung, die sich vor allem über Facebook gefunden und durch die Internetsteuerproteste gestärkt hatte, selbst noch Richtung und Ziel sucht und ihr die Angst anzumerken ist, mit der Errichtung jedweder Struktur zum Teil dessen zu werden, was man kritisiert, arbeitet die Propagandamaschine der Regierung auf diffamatorischen Hochtouren.

Für Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán ist die Demo ein Beleg für den Stand der Demokratie in Ungarn, wo "jeder frei ist, seine Meinung auszdrücken", "im Rahmen der Gesetze" versteht sich. Dieses Statement ausgerechnet im Staatsfernsehkanal M1 abzuelgen, der von vorn bis hinten mit linientreuen Genossen besetzt wurde und ein Musterbeispiel von Demagogie und Volkverarschung darstellt, - auch das vervollständigt das Bild.

Freilich sind die Demonstranten für Fidesz nicht einfach nur Bürger. Sondern Menschen, die "es wohl drei Mal in diesem Jahr versäumt haben, ihre Meinung auszudrücken". Nämlich bei den Parlaments-, Europa- und Kommunalwahlen, so Rogán treffend und zynisch zugleich. Denn da "hat das Volk uns jedes Mal unterstützt". Eine Wahl als Meinungsäußerung einzustufen, ist die eigentliche Frechheit in dem Statement.

Natürlich durfte der Hinweis nicht fehlen, dass
"anders als 2006", als "die Menschen unter Gyurcsány von der Polizei zusammengeschlagen" wurden, ihr Demonstrationsrecht heute garantiert werde. Und das "obwohl" die "Ausschreitungen an der Fideszparteizentrale" (bei der ersten Anti-Internetdemo) "außerhalb des demokratischen Rahmens" waren. Das war das Abfackeln der Fernsehzentrale von 2006 und Dutzende verletzte Polizisten wohl nicht?

Diese Äußerungen waren aber noch geradezu freundlich. Orbán ließ über seine einschlägigen Lautsprecher klarere Ansagen machen. Das ganze Gerede um Korruption im Zusammenhang mit den US-Einreiseverboten (hier der aktuelle Stand, darin etliche Links), u.a. gegen die Chefin des Finanzamtes - den Auslöser der Demo - sei unbeweisbar, reines Papperlapapp und werde "immer chaotischer". Die Quelle des Ganzen sei Ex-Premier Gyurcsány, der dem US-Gesandten Goodfriend "das Drehbuch schreibt". Beweis: Gyurcsány fehlte zuvor bei mehreren Parlamentssitzungen.

Budapest, 28. Oktober, 2014. Massendemo gegen die Internetsteuer. Urknall einer neuer Bürgerbewegung oder doch nur ein Strohfeuer? Foto: MTI

Die Regierungspresse stimmt ein: das sind alles nur Auswüchse von auswärtiger Einmischung, provoziert von einer frustrierten Oppsition. Goodfriend, schreibt die "Magyar Nemzet" sei ein "wandelndes Pulverfass", lies: typischer Vertreter der rücksichtlosen, umstürzlerischen US-Regierung. Der Kommentator meint, dass die USA noch keine "Chance für einen Sturz der Orbán-Regierung" sehe, daher übe sie sich nun in "Destabilisierung", um "politische Korrekturen" im US-Interesse durchzusetzen. Die "amerikanische Verschwörung" sei augenscheinlich, jedoch stellten die Massen, denen die Zeitung immerhin eigenen Antrieb zugesteht, eine Gefahr - für die Regierung und die etablierten Oppositionsparteien. Dass die Bewegung sich nicht "ausbreite" und "weitere soziale Gruppen" erreichen kann, kann nur ein "kluges Handeln der Regierung" verhindern.

 

In den linken und den unabhängigen Medien ist die Verwirrung ähnlich groß wie bei den Menschen auf dem Platz. Die Veranstalter müssen sich einige Kritik anhören, dass sie lieber "ins Fernsehstudio gerannt sind", als sich den Massen auf dem Kossuth Platz zu widmen, meint eine Kommentatorin der liberalen Mitte. Das MSZP-Blatt "Népszabadság" meint, dass die "allgemeine Wut" eine neue Qualität darstellt, die man nicht einfach ignorieren könne, die von der LMP kopierte Verallgemeinerung von Orbán mit Gyurcsány, halten einige für eine sträfliche Verharmlosung der Orbán-Regierung. Allerdings sei es einer unkanalisierten Masse, ohne Programm und Organisation weder möglich, eine Regierung auf demokratischem Wege von der Macht zu bringen, noch sei eine Eskalation auszuschließen, die wiederum entsprechende Antworten der Sicherheitskräfte und der Regierung auslöse, heißt es in einem Augenzeugenbericht in der alternativen "Magyar Narancs".

red.

Selbstachtung   - KOMMENTAR

Die Mehrheit der Redner, die sich am Montag auf dem Podium vor dem Parlament vor Zehntausenden explizit an allen maßgeblichen Politikern und Parteien abbarbeiteten und Orbán als den Höhepunkt einer 25jährigen Fehlentwicklung seit der Wende, ihn aber auch in einem Atemzug mit Bajnai und Gyurcsány nannten, ließen ihr Publikum am Ende allein. Dieses hatte sich vor allem auf das "Orbán, verschwinde!" geeinigt und stand nun wie bestellt und nicht abgeholt und ziemlich wütend vor dem "Haus der Gesetzgebung".

Staatsmacht und Bürger schauen sich ratlos an. Eine Eskalation blieb noch aus oder marschieren Beide demnächst zusammen?

Ein Sturm kam für die überwiegend jungen Menschen, die geblieben waren, nicht in Frage, schreien musste reichen, um den Frust abzubauen. Stundenlang. "Wir können gar nicht so viel Steuern zahlen, wie Ihr klaut." bringt es der Ex-Finanzzbeamte Horváth, sein Verfolgter des Regimes, auf den Punkt. Es ist ein Frust, der nicht nur Machtlosigkeit gegen eine allmächtig agierende und völlug korrumpierte Regierung, sondern auch Frust über die eigene Unorganisiertheit, die jahrelange Passivität, die Abwesenheit einer Opposition ausdrückte, die man doch wiederum nicht vermisste und das Nichtwissen über das "Wohin jetzt?" artikulierte.

Die Polizei blieb cool und ungewöhnlich professionell, sie meldete hinterher lapidar vier ohnmächtige Frauen, jedoch "keinerlei Verhaftungen oder Ausschreitungen". Das kann sich schlagartig ändern, sollte die Macht Orbáns wirklich, also materiell in Frage gestellt werden. Man sollte hier keinerlei Illusionen haben. Orbán und die Seinen haben zu viel zu verlieren, zu viel auf dem Kerbholz, um irgendwann in Frieden zu gehen.

Auch die "Montagsdemos" in der DDR begannen klein. Mit Kerzen, Gebeten, Gesängen. Die Angst war damals größer, das Risiko auch. Der Frust aber schon gleich. Allerdings wusste die Bewegung 1989 nicht nur wogegen sie demonstrierte, sondern auch wofür. Reisefreiheit, Grundrechte, Entfaltung, freie Wahlen. Die Masse am Montag war sich nur in Einem einig: Orbán muss weg und so geht es nicht weiter.

Und noch etwas fiel auf. Europa und die EU-Flagge bedeuten den "Empörten" in Ungarn Hoffnung, sind Symbol und Garant für Freiheiten und Demokratie. Das ist im Rest Europas nicht gerade der angesagteste Trend. Die nationalen Regierungen der EU arbeiten hart daran, auch diese Hoffnung zu zerstören.

Korruption, Machtmissbrauch, Entrechtung. Das sind die Hauptüberschriften, unter denen sich so viele Menschen zusammenfanden wie lange nicht mehr. Und wofür es keine Partei oder registrierte Bewegung brauchte. Mit dem Niederringen der Internetsteuer hat man, je nach Sichtweise Blut geleckt oder Morgenluft gewittert, Orbán und die Seinen hat man erstmals in die Defensive drängen können. Die Mobilisierung war dabei so stark, dass selbst die sonst wie eine Revolutionsgarde auftrumpfende "Regierungsbürgerbewegung" CÖF sich nicht getraute, einen ihrer organisierten "Friedensmärsche" anzublasen, weil man fürchten musste, dass "das Volk" nicht in die bereitgestellten Busse steigt.

 

Es ist müßig, jetzt die Revolution auszurufen oder die Proteste als Eintagsfliege kleinzureden. Beides trifft nicht zu und die Entwicklung der Bewegung hängt von vielen Dynamiken und Faktoren ab. Am Montag aber lieferten Zehntausende ein grundsätzliches Statement ab, das im heutigen wie im gestrigen Ungarn revolutionärer kaum sein könnte: Sie erklärten, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen, unsicher noch und unbestimmt, aber doch so deutlich, dass den Herrschenden wie der "institutionalisierten" Opposition im produktiven und mahnenden Sinne Angst und Bange werden sollte.

Die Demo und ihr Motto: "Wir schweigen nicht!" war ein erstes Zeichen gegen die Apathie der Dulder, Mitläufer und die zerstörerische Energie der Gewinnler. Es war ein Ausdruck von Bürgern auf der Suche nach Selbstachtung und einer lebensfähigen Normalität, die heute vielen so fern und außerordentlich erscheint.

m.s.

Info: Am Samstag demonstrieren die Lehrer. Gegen das Chaos an den verstaatlichten Schulen, für faire Arbeitsbedingungen gegen ideologisch Indoktrination, gegen den Abbau von Bildungschancen und dagegen, dass Schulkinder hungern müssen... (Sa, 22.11., 14 Uhr, Platz vor der Akademie der Wissenschaften - Széchenyi tér)

 

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