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(c) Pester Lloyd / 48 - 2014   POLITIK   23.11.2014

 

Vitaler Politzombie: Ex-Premier Gyurcsány will in Ungarn Neuwahlen bis 2016 erzwingen

Ex-Premier Ferenc Gyurcsány warf sich auf dem 4. Parteitag seiner Demokratikus Koalíció, DK, die er 2011 nach langen Intrigen von der MSZP abschälte, wieder in die Pose des Volksverstehers und -befreiers. Oppositionelle Parteien und "die Straße" müssten bis 2016 Neuwahlen erzwingen, gab er als neues Ziel nach drei Wahlniederlagen aus. Man habe "keine andere Wahl". Doch "das Volk" auf der Straße will alles, nur nicht Gyurcsány oder jemanden sonst von der etablierten demokratischen Opposition.

Ferenc Gyurcsány am Samstag zwischen seinen Anhängern der DK. Fotos: MTI

Für eine "Verhinderung einer weiteren kompletten Amtszeit für Orbán" müssten die "Asphaltbewegungen" und Oppositionsparteien sich verbünden, zumindest kooperieren, sagte Gyurcsány, der trotz seiner eigenen Spaltarbeit immer wieder eine Einigung der zersplitterten Linken forderte, natürlich nur so, dass ihm eine entsprechende Rolle dabei zufällt. Spätestens 2016 solle es Neuwahlen geben.

 

Gyurcsány forderte in seiner Rede, die Protestbewegungen zu einer "Volksbewegung" zu machen, freilich "ohne jede Gewalt". Am Ende der Fahnenstange müsse das Ende der "Orbán-Welt" und seiner "Tyrannei" sowie eine "neue Republik" mit einer "neuen Verfassung" stehen. Diese neue Republik solle ganz klar westlich ausgerichtet sein, nicht in dem Sinne, neue Gräben zwischen Ost und West entstehen zu lassen, jedoch mit einem klaren Bekenntnis zu EU und Westbindung (NATO).

Gyurcsány will die "direkte demokratische Beteiligung" stärken, Referenden, Bürgerinitiativen sollen mehr verbindlichen Einfluss bekommen und als Garanten für eine Machtausübung der Menschen dienen. Warum er diese Basis-Demokratisierung unter eigener Ägide nicht vorantrieb, dazu gab es keine Erklärung. Auch die Gewaltenteilung, ein garantierter Rechtsstaat, eine unabhängige Justiz, Medien- und Religionsfreiheit müssten neu etabliert werden. Ebenfalls gehöre im "Rahmen einer neuen Verfassung" eine "regierungsunabhängige Behörde gegen Korruption und Amtsmissbrauch" etabliert.

"Die Macht der Oligarchen muss gebrochen werden, sie müssen zur Verantwortung gezogen werden." sagte der in der Ära der grauen Privatisationen zum "Self-made"-Milliardär aufgestiegene Gyurcsány, der Viktor Orbán als "die Nr. 1 von Ungarns Oligarchen" bezeichnete. Dieses Oligarchensystem habe zu "schrecklicher Not und Armut" im Lande geführt, daher müssen wir auch "über einen neuen Sozial- und Wirtschaftsvertrag zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gewerkschaften" sprechen. "Diese Regierung verweigert im Angesicht einer nie dagewesenen Armut reguläre soziale Unterstützung", sagte er in Anspielung auf die zusammengestrichene Sozialhilfe im aktuellen Budgetentwurf. Das bedeutet für viele eine "Tragödie" und sei "inakzeptabel".

Gyurcsány verneigte sich, natürlich nicht ohne Hintergedanken, gegenüber der "Volksbewegung", der "jungen Menschen", die in den letzten Wochen ihre "Wut und Empörung" mit so viel "Leidenschaft" ausgedrückt haben und auch klar machten, dass sie zwar westlich eingestellt seien, aber nicht alle auch in den Westen gehen wollen. Die herrschenden Zustände abzulehnen, sei der erste Schritt die "orientalische Despotie" Orbáns hinfortzufegen.

Er ist überzeugt, dass die Protestierer die Stimme, eines "modernen, europäischen Ungarns" sind und nicht auch die "parlamentarische Demokratie hinwegfegen wollen." Dass Redner auf den Demos auch Gyurcsány und seine linksliberalen Kollegen für die Misere des Landes mitverantwortlich machten und so ziemlich alles wollen, außer ein Zusammengehen mit seiner DK oder einer der anderen "Systemparteien", darauf ging Gyurcsány vor seinen ihn gläubig anhimmelnden Zuschauern im Budapester Messezentrum Hungexpo nicht ein.

Das "System Orbán basiert auf institutionalisierter Korruption" (im Gegensatz zu "informeller", wie unter ihm?), die Regierungspartei habe die Macht übernommen und dafür gesorgt, dass diese Art Korruption nicht mehr verfolgt wird, analysierte Gyurcsány treffend. Das ist auch der wesentliche Unterschied zu seiner Ära, die immerhin noch die Möglichkeit der Reparatur und der Verfolgung der Verfehlungen offenließ.

Da das Parlament "fast tot" ist, bleibe den Demokraten nur die Straße, um Widerstand zu artikulieren. Orbán sei mit seiner Russland-Politik außerdem ein Sicherheitsrisiko für Ungarn und ganz Europa. Gyurcsány gab hier zurück, was die Regierungspartei ihm stets unterstellt, nämlich der Stichwortgeber für "fremde Mächte" zu sein, die Orbán "stürzen" wollen. Zuletzt hat man ihm direkt vorgeworfen das "Drehbuch" für den US-Gesandten Goodfriend im Zusammenhang mit den
US-Einreiseverboten zu schreiben.

Die DK war bei den letzten Wahlen immer näher an die MSZP herangerückt und überholte auch das linksliberale Bündnis E2014-PM, das mittlerweile auch getrennte Wege geht. Allerdings konnte das klassiche linksliberale Lager seinen Stimmenanteil insgesamt seit sechs Wahlen nicht wirklich erhöhen, nur intern gab es Verschiebungen. Die Mobilisierung der Enttäuschten, immerhin jeder zweite Wahlbürger gelang nicht. Dass Gyurcsány das Zeug dazu hat, im bestehenden linken Lager wieder zum Oppositionsführer aufzusteigen, bezweifelt angesichts der strukturellen Schwäche der MSZP indes kaum jemand.

Allein schreckt die Figur Gyurcsány sehr viele Wähler ab, auch solche, die mit Orbán ganz und gar nicht (mehr) einverstanden sind. Der Ex-Premier gilt nicht umsonst als "bester Wahlhelfer Orbáns", denn er ist - durch "Eigenleistung" und die konsequente Propagandamühle des Fidesz (immerhin hielt nicht ein einziger
Vorwurf gegen Gyurcsány gerichtlich stand oder schaffte es überhaupt bis vor ein Gericht) - das Symbol für Alles, was Ungarn - trotz Orbán - nicht wiederhaben will. Im Zweifel wählen diese Menschen dann lieber extrem Rechts oder - in der Mehrheit - überhaupt nicht.

Weder inner- noch überparteilich in der Opposition belegte Gyurcsány in den vergangenen vier Jahren ein demokratisches Verständnis oder wirkliche Kooperationsbereitschaft mit der demokratischen Opposition. Einfluss und seine Perspektive als Politiker ging ihm immer über Inhalt. Daher mögen seine obigen Analysen zwar zutreffend und auch die Zukunftspläne schlüssig sein, doch klingen sie aus Gyurcsánys Mund noch hohler als sonst aus Politikermündern.

 

Viele haben das Gefühl, Gyurcsány würde so ziemlich alles erzählen, wenn es ihm persönlich-politisch Vorteile bringt. Seine Slapstickeinlagen als Volkstribun, als er - natürlich medial begleitet - in einen Miskolcer Plattenbau bei einer Arbeiterfamilie einzog, um das Leben der "normalen Menschen" kennenzulernen oder sein 12-Stunden-Hungerstreik, machten ihn für nicht Wenige zu einer Witzfigur.

Gyurcsánys Performance als Ministerpräsident leistete einen, wenn nicht den entscheidenden Anteil an der Zweidrittelmehrheit Orbáns, sein Gebaren in der Opposition sorgte zudem für eine Festigung dessen "Allmacht". Doch auch der mittlerweile vollzogene Aufstieg der neonazistischen Jobbik zur zweitstärksten politischen Kraft in Ungarn, hängt mit der mangelnden Selbsterkenntnis Gyurcsánys als "Flagschiff" der Opposition zusammen, dass er nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist.
Die "Straße" hat das längst erkannt.

red. / m.s.

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