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(c) Pester Lloyd / 51 - 2014   POLITIK   15.12.2014

 

Ende der Fahnenstange: Die ungarischen "Sozialisten" sind an ihrem 25. Jahrestag abgemeldet

Die Magyar Szocialista Párt, MSZP, kämpft 25 Jahre nach ihrer Gründung nicht mehr um Wahlsiege, sie kämpft ums, nein sie hofft nur noch aufs nackte Überleben. Daran ändern auch die selbstkritischen und kämpferischen Worte ihrer Führer und die Steilvorlagen Orbáns nichts. Konzept- und kopflos verlor man den Zugang zu den eigenen Anhängern. Die protestierenden Bürger wollen die "Systempartei" ohnehin nicht. Braucht Ungarn überhaupt eine MSZP?

Pink ist die Hoffnung? Parteichef Tóbiás und Vorzeige-Bürgermeister Botka witzelten sich und den Delegierten am Samstag Mut zu... Foto: MSZP

Seit viereinhalb Jahren wabert durch die Reihen der Funktionäre das Wort "Erneuerung", ohne das sie bisher gesichtet worden wäre, trotz mehrfacher Wechsel an der Spitze. Nach sechs verlorenen Wahlen in Folge, mit einer aktuellen Unterstützerquote von um die 10% bei allen Wahlberechtigten, steht man kurz vor der Kategorie Splitterpartei. Im öffentlichen Diskurs spielt man immer weniger eine Rolle und die Demonstranten vor dem Parlament verbitten sich dezidiert die Anwesenheit von Symbolen der "Systempartei". Man ist abgemeldet.

MSZP hievte Orbán auf den Gipfel der Macht

 

So hatte man sich das 25-Jahr-Jubiläum nicht vorgestellt. Die Wandlung von der Einheitspartei zu einer sozialdemokratischen Partei im demokratischen Spiel der Kräfte endet vorerst in einer Sackgasse. Bis zur europaweiten Identitätskrise der Sozialdemokraten nach dem Schröder-Blair-Desaster haben es die ungarischen Genossen nicht einmal geschafft. Namen wie Gyula Horn, Péter Medgyessy, Ferenc Gyurcsány klingen heute nach Fluch, denn nach Geschichte. Ihr Tun in der Zeit grauer Privatisierungen, die Abgehobenheit ihres Führungspersonals, die beamtete Sturheit des auf Privilegien und Selbstverständlickeit ausruhenden Apparates während der Regierungszeiten marginalisierten die Partei in der Krise, da sie es nicht verstand, mit den Entwicklungen und den Nöten der Menschen Schritt zu halten. Mit ihrer Selbstaufgabe hievte sie Orbán auf einem Silbertablett auf den Gipfel der Macht.

Mühsame Befreiung aus alten Mustern

Bis heute verliert sich die MSZP in den alten Mustern des Parteienwettstreites, bei dem es aber längst andere Regeln, praktisch keinen Schiedsrichter mehr gibt und das auf ganz anderen Feldern gespielt wird. Die Partei steht sich, spätestens seit 2006 nurmehr selbst im Weg. Und so klingen die kämpferischen Töne beim Jubiläumskongress am Samstag in Budapest, die natürlich in erster Linie gegen Orbán und sein Regime gerichtet sind, doch immer auch wie ein nicht eingestandendes Wutgeheul auf das eigene Versagen.

Auch der neue Vorsitzende, József Tóbiás, der dritte seit dem unrühmlichen Abgang des Ex-Premiers und
Parteienspalters Ferenc Gyurcsány, spricht wieder von "den großen Veränderungen", die nötig sind, um eine "glaubwürdige Kraft" zu werden, die eine "Harmonie zwischen Freiheit und Wohlstand" schaffen will, wie sie die "Gründer" der Partei vor 25 Jahren anvisierten. Immerhin ist Tóbiás in der Lage vor versammelter Mannschaft einzugestehen, dass "die Partei in ihrer derzeitigen Verfassung nicht in der Lage ist, die stattfinden Veränderungen in allen Lebensbereichen zu verstehen". Das hänge "mehr mit den falschen Entscheidungen der Sozialisten als mit äußeren Umständen" zusammen.

Keine Kompromisse mit Orbáns “Totalitarismus”

Doch natürlich ist und bleibt Fidesz der Hauptfeind. Nicht mal mehr der Partei, sondern des ganzen Landes. Denn "Fidesz hat die ungarische Demokratie zerstört." Es sei aber auch das "demokratische System" selbst daran Schuld, das vor 25 Jahren geschaffen wurde, dass es so geschaffen wurde, dass es "zerstörbar ist". Heute stehe man vor den Toren eines "totalitären Staates", eines Systems, in dem sich die "Mehrheit der Ungarn nicht zu Hause fühlen" kann.

Die MSZP muss es klar machen, dass sie "keine Kompromisse mit Orbáns Regime eingehen wird", denn er habe durch seinen "Totalitarimus die Möglichkeiten für Kompromisse zerstört". Dennoch will sich Tóbiás Zeit nehmen, erst 2017 will man, in einer "transparenten Vorwahl", Programm und Spitzenkandidat für die 2018 anstehenden Wahlen bestimmen.

Wie verhindert man ein Präsidialsystem?

Sein Vize, István Hiller, unter Gyurcsány Kulturminister, warnt indirekt, dass das schon zu spät sein könnte, denn bereits 2017 steht die Wahl eines neuen Präsidenten an. Mit der Forderung, diesen diesmal direkt wählen zu lassen, lässt Hiller immer spruchreifer werdende Vermutungen durchklingen, Orbán könnte ein Präsidialsystem mit weitreichenden Vollmachten basteln und sich mit seiner eigenen Mehrheit dann zum Präsidenten küren lassen. Hiller will ein Referndum einleiten, mit dem Ziel, die Direktwahl des Präsidenten zu erzwingen und Orbán damit zu verhindern. Die Hürden dafür sind schon rein rechnerisch enorm hoch, wenn auch nicht so hoch wie die Möglichkeiten von Wahlkommission und Gerichten, ein solches Referendum auf Zuruf zu verhindern. Und selbst wenn es gelingt, wer verhindert dann die Wahl Orbáns?

Kritik an LMP, Warnung vor Jobbik

Parteichef Tobiás kritisierte die Zersplitterung der demokratischen Oppositionsparteien, nannte Gyurcsány dabei aber nicht einmal beim Namen. Besonders auf die LMP, die Grünen, schoss er sich ein, die "keinen Unterschied zwischen acht Jahren sozialistischer Regierung und der Fidesz-Ära" machen wollten. Ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft erschwere einen Macht- und Politikwechsel, der Preis, den das Land dafür zahlt, sei zu hoch. Er warnte jene, für die Fidesz nicht mehr wählbar ist, sich Jobbik zuzuwenden, diese biete "soziale Lösungen die auf Lügen fußen" und verbreite "inakzeptable Ideologien".

László Botka, der als einziger MSZP-Bürgermeister eine Großstadt halten konnte und sozusagen als Musterschüler unter den Durchgefallenen gilt, sagt bereits den "Kollaps der Regierungspartei" voraus, die binnen zwei Monaten 40% ihrer Wählerschaft einbüßte. Fidesz sei die Partei der Korruption, so Botka, der das mit Beispielen wie dem Tabakhandelsgesetz, dem Zuschneiden von Steuergesetzen für Günstlinge, der Landnahme durch das Bodengesetz, der Einverleibung der Spargenossenschaft usw. illustrierte.

Die MSZP müsse kapieren, dass "das, was früher gut war, heute nicht mehr immer funktioniert", man müsse sich in "Politik, Funktionsweise und Stil" grundlegend erneuern. Doch das sei kein hoffnungsloses Unterfangen. Die MSZP dürfe "keine Festung, sondern müsse ein Tor sein." (Das Wortspiel auf Tor / Thor funktioniert im Ungarischen - Glück für Botka - nicht.)

Nicht zurück vor 2010

Den Demonstranten auf der Straße brachte man Verständnis dafür entgegen, dass man "derzeit keine Politiker auf den Bühnen der Proteste sehen will". Man hoffe aber, dass die Bürgerbewegung auch "realisiert, dass wir Sozialisten nicht zu der Politik von vor 2010 zurückkehren wollen." Doch diese Ansage machte man schon vor vier Jahren, das Personal blieb das gleiche, man steigerte sich in eine "sozialistische" Wunschwelt, die mit dem, was draußen geschah nichts mehr zu tun hatte. Das Programm wurde seit 2010 immer dünner und heißt heute praktisch nur noch "kein Orbán".

Auch der Jubiläumskongress war nicht viel mehr als eine Parallelwelt, denn das echte Leben tobt draußen auf der Straße, wo sich die Menschen ihren Frust immer lauter von der Seele rufen, aber kein Echo finden. Auch die MSZP hat sie im Stich gelassen.

Wie gewichtslos die MSZP in Ungarn geworden ist, erkennt man an den müden Reaktionen der politischen Rivalen, die sich nicht einmal mehr die Mühe machen müssen, mit den "Sozis" irgendeine politische Debatte auszufechten.

Jobbik, heute die bedrohliche Nr. 2 in Ungarn, konstatiert zum 25. der MSZP lediglich, dass sie "ein Ding aus der Vergangenheit" sei, zerfallen in Stückchen". Sie waren "genauso ein Teil von Raub und Korruption wie Fidesz".

Die Regierungspartei wiederum sprach im Copy+Paste-Style davon, dass "die Ungarn in drei Wahlen klar gemacht haben, dass sie die Gyurcsány-Parteien" nicht zurück haben wollten. Denn diese, so ergänzt die Fidesz-Parteizenrtrale ihren "Glückwunsch" ohne rot zu werden, brachten ihnen nur verfehlte Wirtschaftspolitik, Sparpakete, ein Land, das von Wohlfahrt, statt Arbeit lebte und Politiker, die Ungarn im Ausland verraten hätten.

Katharsis oder Katastrophe?

 

Quo vadis, MSZP? Wer tatsächlich noch glaubt, dass die Zukunft der europäischen Politik Sozialdemokraten von solchem Schlage braucht, der wird sich gedulden müssen, die Existenzfrage der MSZP ist längst nicht beantwortet. Denn diejenigen, die heute gegen den gefährlichen Totalitarismus Orbáns aufbegehren, sehen vieles - zumindest in der Rückschau, klarer als früher, desillusionierter.

Wer heute auf die Straße geht, geißelt das Versagen des gesamten Systems seit 1989, hat erkannt, dass weder "der Markt", noch "die Demokratie" ihre Probleme per se lösen, wenn sie nur als wunderheilende Monstranzen von egomanen Politikern herumgeschoben werden, die ansonsten schamlos im Gestühl der Demokratie ihre schmutzigen Geschäfte verrichten.

Ein Vorwurf, der nicht nur die ungarischen Parteien trifft, sondern auch die europäischen Parteien und Regierungen, welche die EU so hingebürstet haben, dass sie mit ihren Prioritäten auf Kapital- und Marktfreiheit das Wesen und die Grundlagen der wirklichen Freiheit, die auf Ausgleich, Gerechtigkeit und perspektivischer Sicherheit beruhen, vernachlässigte. So sträflich, dass sie sich als Gemeinschaft von Demokratien heute selbst gefährdet.

Ein Markt ohne vernünftige Regeln, Transparenz und Kontrolle, kurz, eine Demokratie ohne Demokraten, eine Republik ohne ihre freien Bürger, die sich um diese res publica auch kümmern und sie damit verteidigen, funktioniert nicht, nirgendwo.

Das begannen die Menschen unter der MSZP erst zu spüren und wählten Orbán. Dessen brutale Performance, der Abriss der Republik bis auf ihre Fundamente, führt ihnen nun vor Augen, was die Abgabe von Selbstbestimmung bedeutet. Ob diese - von der MSZP mit ausgelöste - Ära zu einer Katharsis oder in die Katastrophe führt, ist genauso offen, wie die Antwort auf die Frage, ob die MSZP zukünftig überhaupt noch eine Rolle spielen wird oder soll. Man kann nur einen zynischen Trost darin finden, dass letztlich keine Partei vor solchem Schicksal gefeit ist.

red. / m.s.

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