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(c) Pester Lloyd / 03 - 2015   POLITIK   12.01.2015

 

Masterplan Volksverdummung? Studie entlarvt Orbáns "Bildungsreform für Ungarn" als ideologisches Gaunerstück

Wie berichtet, plant die Orbán-Regierung, den Zugang zu Gymnasien zu Gunsten technischer und kaufmännischer Schulen massiv zu beschränken, einschließlich der Schließung bzw. Umwandlung von bis zu 500 Gymnasien und einschließlich der Versetzung bzw. Entlassung von Gymnasiallehrern. Eine Expertenstudie zerpflückt diesen Plan jetzt als fatal für Ungarns Zukunft.

Die Maßnahme soll vor allem der "Erhöhung der Anzahl von Fachkräften" dienen und wird mit dem "Entstehen einer neuen Weltordnung" (Orbán) begründet, bei dem Ungarn nur durch die Erhöhung seiner Wettbewerbsfähigkeit (also dem Angebot an billigen und zugeschnittenen Arbeitskräften) bestehen kann oder "dem Untergang geweiht" ist.

“Hier, heb die Fetzen gut auf, wenn du dich ganz doll bemühst, kannst du eines Tages sogar Näherin werden...”. Orbán bei der Einweihung einer Modell-Mittelschule.

Nun hat die Fakultät für Human Ressourcese an der Corvinus-Universität (Wirtschaft) in Kooperation mit einem für Bildungsfragen befassten Institut der Akademie der Wissenschaften, MTA, eine Studie veröffentlicht (hier als pdf, ung.), die das Vorhaben nicht nur als fatalen Fehler für die Zukunft der ungarischen "Arbeitsgesellschaft" im regionalen und globalen Kontext bloßstellt, sondern auch die von der Regierungspartei für diese Aktion benannten Prämissen als sachferne Propaganda entlarvt.

Zwar gab es auch Fidesz-intern schon sanfte Kritik an dem Vorhaben, beachtlich ist jedoch, dass sich die in vielen Bereichen - und durch viele Fördermittel - als gleichgeschaltet bzw. gekauft geltende MTA damit so weit aus dem Fenster zu lehnen wagt.

 

Die Studie rechnet vor, dass - entgegen der Regierungsbehauptung - die Zahl der als "qualifizierten Fachkräfte" eingestuften Absolventen eben nicht "in den letzten Jahren" gesunken sei, im Gegenteil, sie ist seit der Wende permanent gestiegen, sogar während der Zeiten der schweren Krise 2009 ff. Richtig ist, dass die Absolventen reiner Fach- und Handelsschulen weniger werden, aber jene Schulen, die neben einer Berufsausbildung auch die Erlangung der Hochschulreife (weiterführende berufsbildende Schulen) anbieten, deutlich mehr Absolventen verzeichneten. Doch genau diese sollen jetzt reduziert werden. Gesunken ist hingegen, so hat Orbán irgendwie doch recht, die Zahl der "verfügbaren" Fachkräfte, schlicht, da eine halbe Millionen von ihnen seit seinem Amtsantritt 2010 (davor auch schon, aber weniger) das Weite suchten.

Widerlegt wurde auch die Behauptung, dass "zu viele Studierende und Abiturienten unnötig" seien, ihre Studien seien quasi Zeitverschwendung, weil es für sie gar nicht genug Jobs gäbe. Anhand offizieller Zahlenwerke wird dargelegt, dass Menschen mit höheren Abschlüssen nicht nur leichter einen Job finden, sondern im Schnitt auch die besser bezahlten - wenn auch einschränkend hinzugefügt werden muss, dass es dennoch zu wenig und in Summe zu schlecht bezahlte Jobs sind. Die offiziellen Zahlen des KSH besagen: Arbeitslosenrate unter Hochschulabsolventen: 2,9%, Abiturienten ohne Hochschulabschluss 4,8%, ohne höhere Reife: 8%.

Doch Orbán als Spezialist für alles, macht den verkehrten Umkehrschluss, dass die Verschlechterung der Arbeitsplatzsituation, die vor allem auf die fehlgeleitete und selektive Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist, nun eine Verschlechterung des Ausbildungsstandes der Bevölkerung nach sich ziehen müsse. Das Volk soll quasi dem matieriellen Niedergang geistig folgen.

Orbán stellt in seiner Proletarisierungsoffensive gern auf das deutsche Modell der dualen Ausbildung als vorbildhaft für Ungarn ab. Damit meint er jedoch vor allem den berufspraktischen Aspekt, den er gerne als dominierendes Element in der Tertia sähe. Allein: der theoretische und damit auch der allgemein- bzw. höherbildende Teil der dualen Ausbildung umfasst in Deutschland im dualen Ausbildungssystem über 7.000 Stunden, in Ungarn sind es in den annhähernd vergleichbaren Einrichtungen gerade ca. 5.700. Infernal seien auch die Vergleiche zwischen Fachkräften in den führenden westeuropäischen Ländern (z.B. in Skandinavien) hinsichtlich Lese- und Problemlösungsverständnis sowie bei Fremdsprachen. Die Studie nimmt sich Dänemark heran und widerlegt Punkt für Punkt die Behauptungen der Fidesz-Bildungs”experten”.

Klar ist allen echten Experten, dass eine hohe Akademikerquote allein kein Garant für eine blühende Wirtschaft und hohe Beschäftigung ist, Spanien und Italien sind dafür Paradebeispiele. Allerdings wird umgekehrt erst recht kein Schuh daraus, schon gar nicht, wenn man begriffen hat, dass Europa auf absehbare Zeit keine Chance im Konkurrenzkampf mit Asien und anderen Regionen der Welt bei der schieren Produktion von Massenware haben wird, sondern nur im Bereich Hochtechnologie, Hochqualitativ-Produkten, Spezialisierung, Know How, Forschung Entwicklung, neue Technologien reüssieren können wird. Ungarn als Werkbank Westeuropas funktioniert auch nur, wenn die Arbeitskräfte fachlisch Schritt halten.

 

Die Autoren der Studie empfehlen den Politikern, - bei den ideologischen Vorlieben der Fideszniks recht geschickt-, Polen als Vorbild. Dort wurden moderne Lernmethoden eingeführt, die Schulzeit bis zur Hochschulreife um ein Jahr erhöt, die Lehrergehälter deutlich erhöht und die Akademikerquote auf über 40% gebracht, nicht zuletzt macht das Land - auch im Unterschied zu Ungarn - erhebliche Fortschritte bei den PISA-Tests und anderen Vergleichen.

Was Orbán jedoch vorhat, ist das ganze Gegenteil, eine weitere soziale Ausgrenzung ärmerer Schichten, denen er mit den Bildungschancen auch die Chancen auf Partipitation an der Gesellschaft verringert. Die Bildungspolitik ist dabei ein wichtiger Baustein, aber nicht der einzige: von der Sozial- und Steuerpolitik, über die Lenkung am zweiten Arbeitsmarkt bis hin zur Medienpolitik gilt: Ein dummes Volk ist ein genügsames Volk, ist ein gutes Volk, - das ist offenbar sein Masterplan.

HINTERGRUND

Die Attacke auf die Gymnasien ist nur ein weiterer Höhepunkt der ständestaatlichen, bildungsfeindlichen und elitären Schul- und Hochschulpolitik dieser Regierung, die bereits viele Facetten hat. Eine Auswahl:

Pflichtschulwesen:

- Verstaatlichung tausender ehedem kommunaler Schulen unter der chaotisch arbeitenden Behörde KLIK
- Aufhebung der gewerkschaftlichen Selbstbestimmung durch Schaffung einer zentral gleiteten "Berufsgilde" für pädagogisches Personal
- Presse-Maulkorb für Lehrer und Direktoren, somit Aufhebung des Grundrechtes auf Meinungsfreiheit
- Disziplinarische und ideologische Unterwerfung der Lehrer unter ein sog. "Karrieremodell", bei dem Gehaltserhöhungen an missbräuchlich einsetzbare Konditionen gekoppelt werden. Motto: Unterschreib oder geh!
- gesetzliche Legitimierung von schulischer Segregation von Roma unter dem Begriff "Sonderföderung"
- Staatsmonopol auf Erstellung, Herstellung und Belieferung von Schulbüchern und Lehrmaterialien
- Einführung eines "nationalen Curriculums" mit völkischer "Pflichtlektüre" von Autoren mit offen antisemitischem und antihumanistischem Gedankengut, geschichtsrevisionistischen Thesen und teils offen antisemitischen Paraphrasen, nationalistische Fahnenappelle, Wehrunterricht
- Zwangskindergarten ab 3 Jahren, sonst Entzug von Sozialleistungen
- Umwandlung der Kindergärten in Vorschulen, ebenfalls unter KLIK-Aufsicht
- geplante Halbierung der Gymnasialplätze

Hochschulwesen:

- Kürzung des Gesamtetats für die höhere Bildung seit 2010 um rund 40%
- Selektive Abschaffung staatlicher Förderung für sog. "nationalwirtschaftlich unnütze Studiengeänge"
- Einführung eines zentralistischen Kanzlersystems (Politkommissare), Entmachtung der Rektoren und Rektorenkonferenzen
- Kopplung von Stipendien bzw. Studienkrediten an eine ("freiwillige") Arbeits- und Bleibeverpflichtung der Studierenden
- Entmachtung unabhängiger Studierendenvertretungen zu Gunsten Fidesz- oder Jobbik-naher Kameradschaften
- Ankündigung der Schließung bzw. Zusammenlegung von Unis und Hochschulen
- Schaffung einer parteitreuen Kaderuni für Militär- und Verwaltungsberufe auf Kosten der Ressourcen der bstehenden Institutionen und der Freiheit der Lehre

Details zu den aufgeführten Maßnahmen finden Sie in ausführlichen Beiträgen über unser Ressort
BILDUNG & STUDIEREN / FORSCHUNG & WISSENSCHAFT

red. / m.s.

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