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(c) Pester Lloyd / 04 - 2015   GESELLSCHAFT   18.01.2015

 

Ist Holocaustleugnung eine Meinung? Bürgerrechtler in Ungarn bieten Neonazis Hilfe gegen Zensur an

Ein ungarisches Gericht hat die Publikation eines Artikels des rassistischen und neonazistischen Portals kuruc.info verboten. Dabei sind solche Beiträge in Ungarn Alltag. Was sollte mit dem Urteil also erreicht werden? Die den Nazis eigentlich spinnefeinden Bürgerrechtler von TASZ sehen eine Präzedenz für weitere Zensur gegen Andersdenkende entstehen und eilen dem Hetzmedium zu Hilfe.

Der “Völkische Beobachter” wirkt gegen die Aufmachung von kuruc.info teilweise wie die Zeitschrift “Gartenlaube”. Ansonsten ist man voll auf Nazi-Linie und in der untersten Schublade: Weltjudentum samt liberaler Vasallen, Untermenschen wie Roma etc. und dagegen das reine Magyarentum. Eine extreme Nische? Keineswegs, das Portal hat Hunderttausende Leser... Abb: Eigenwerbung von kuruc.info

Bei dem Verbotsurteil ging es um einen kuruc-Beitrag von 2013, der offen Holocaustleugnung betreibt (ein Metier, in dem sich partiell sogar Fidesz-Amtsträger üben), jedoch nur einer von etlichen dieses und anderer einschlägiger Portale ist, die seit Jahren wegen Verunglimpfung, Aufruf zur Gewalt, Hetze gegen Minderheiten etc. strafrechtlich relevant sind. Das Urteil wird daher als Feigenblatt für die internationale Selbstdarstellung der Orbán-Regierung und ihrer "unabhängigen und funktionierenden" Justiz angesehen. Immerhin ist es das erste Mal seit der Wende, dass ein ganzer Artikel eines Mediums verboten wurde.

 

Die Hinterleute des Portals kuruc.info, das nach Besucherzahlen zu den 120 meistbesuchten Webseiten des Landes gehört (derzeit Alexa-Rang 111) sind bekannt, federführend ist ein ungarisch-amerikanischer Winzer, der in den USA die Server betreut und auch bei den Finanzen der Organsiation mitwirkt. kuruc.info ist das Sprachrohr der extremsten neonazistischen Gruppierungen des Landes, die Grenzen zu Jobbik sind fließend bis nicht existent. Es gab zwar Versuche, die US-Behörden zum Abschalten der Seite zu bewegen, diese fruchteten, aufgrund der dortigen Gestzgebung jedoch nicht. Gegen die Hintermänner in Ungarn, die ebenfalls teilweise namentlich bekannt sind, ging man nicht bzw. nur lustlos und ohne Ergebnis vor. Der in den USA ansässige Kopf, floh zwischenzeitlich, wahrscheinlich nach Kanada.

Interessanterweise springt die führende unabhängige Bürgerrechtsvereinigung TASZ, die sich gerade auf dem Gebiet der Rechtshilfe für benachteiligte Gruppen, vor allem die Roma, einen Namen gemacht hat, dem neonazistischen Medium jetzt bei und bot ihm kostenlosen Rechtsbeistand für eine Berufung gegen das Artikelverbot an.

Das zentrale Argument der Bürgerrechtler: die Blockade von Inhalten im Internet würde eine gefährliche Ausweitung der Regierungsmacht bedeuten, das aktuelle Urteil stelle daher eine Präzedenz dar, wie man zukünftig auch andere Inhalte, mit denen die Regierung nicht einverstanden ist, bekämpfen und verbieten kann.

TASZ ist also bereit, die Meinungsfreiheit über die Würde der Opfer des Holocaust zu stellen und das trotz bestehender Gesetze. Lediglich bei "extremen Fällen" wie pädpohilen Inhalten o.ä. sähe TASZ den Staat in der Pflicht einzuschreiten. In seiner Stellungnahme befindet TASZ die Gesetze über die Grenzen der Meinungsfreiheit die in Ungarn geschaffen - und immer einmal wieder verschärft, aber nur sehr selektiv angwendet werden -, zu "weitreichend" und in Teilen "verfassungswidrig" und findet, dass auch Holocaustleugnung nicht zensiert gehörte, weil das nichts brächte, sondern durch schulische und gesellschaftliche Aufklärung bearbeitet gehört.

Zum Thema:
Pfeilkreuze im Kopf. Totes Recht und lebendige Rechte: Paragraph 269 und Ungarn - Kommentar

Man dürfe "Ideologien, egal wie extrem sie seien, nicht mit Tabus gelegen", weil, so das bedenkrenswerte Argument, die Grenzziehung durch die jeweiligen Machthaber über das, was noch akzeptabel sein soll, immer weiter hinausgeschoben werden könnte. Immerhin brauchte es im Vorjahr bereits das Verfassungsgericht, um ein versuchtes generelles Verbot der Kritik an Amtsträgern aufzuhalten und Orbáns Ansage bei einer Ansprache am Nationalfeiertag des 23. Oktober, wonach man “zur Heimat nicht in Opposition stehen” könne und - sinngemäß - alle, die es dennoch täten, sich aus der Nation auschlössen, ist auch ein starker Hinweis darauf, wohin die Reise gehen wird, wenn die Machthaber einmal in wirkliche Bedrängnis geraten.

 

Der Staat sei in der Pflicht, durch ein entsprechendes Gedenk- und Geschichtsbild sowie eine adäquate Bildungspolitik und ein stabiles sozio-ökonomisches Umfeld als Vorbild und Rahmen aufzutreten, hieß es bei TASZ in Anspielung auf den amtlichen Geschichtsrevisionismus und die antisoziale Politik der Regierung Orbán.

Die Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Motivation des ergangenen Urteils wird jedoch nicht nur durch die selektive Singularität der Gesetzesanwendung untergraben, sondern auch durch eine andere “Rechtspraxis” in Frage gestellt. Der berühmte Zensurparagraph 13 des Mediengesetzes dient nämlich den Rechtsextremisten geradezu als Hebel ihre Botschaft unter die Leute zu bringen und der exekutierende Medienrat arbeitet insofern bereits als Geschäftsstelle für Jobbik und Co. Mehr dazu hier. Wie blödsinnig steht da ein einzelnes Urteil gegen einen einzelnen Artikel in der Landschaft herum?

Kuruc.info diente dem Staat bereits einmal als Stichwortgeber, nämlich zur Verschärfung und willkürlichen Ausweitung von Internet-Zensur. Diese “Lex kuruc” ist nach wie vor in Kraft.

Neben vielen anderen Fragen, bleibt beim TASZ-Engagement für kuruc.info jedoch die zentrale Frage offen: Ist den Bürgerrechtlern einmal in den Sinn gekommen, was die Kameraden, die sie gerade vor dem Staat beschützen wollen, mit ihnen anstellen werden, sollten diese einmal selbst die Macht übernehmen? Ist Nazismus eine Meinung oder doch nicht eher ein Verbrechen? Immerhin, TASZ stellt sich dem Problem und macht es diskutabel, auch wenn es sich damit eine Menge Reibereien einfängt.

red. / m.s.

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