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(c) Pester Lloyd / 10 - 2015    GESELLSCHAFT      05.03.2015

 

Ein Mindestmaß an Würde: Bezirksbürgermeister setzt Mindesteinkommen für Familien durch

90.- EUR im Monat genügen nicht für ein würdevolles Leben. Nirgendwo auf der Welt. Doch selbst diesen minimalen Sozialhilfesatz will die ungarische Regierung seit März nicht mehr Jedem zugestehen, der einkommens- und vermögenslos ist, Zigtausende fallen so ins materielle Nichts. Ein Bezirksbürgermeister von der liberalen Kleinpartei "Dialog für Ungarn" setzte ein Zeichen und seinen Parteinamen in die Tat um - und "zwang" sogar Fidesz-Politiker zum sozialen Mittun.
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Auch “nur” ein Zeichen: Bezirksbürgermeister Karácsony ließ gleich am ersten Arbeitstag wieder die EU-Flagge vor dem Bezirksrathaus hissen. Da weht sie nun mit der ungarischen, der des Bezirkes und hält sogar die Flagge der “Székler” aus, der Siebenbürger Ungarn-Separatisten, die von Fidesz/Jobbik so gern geschwungen wird wie große Töne. Dass der Neue sie nicht abhängen ließ, hat wohl auch etwas mit “Dialog für Ungarn” zu tun.

Wie hier detailliert berichtet, hat die ungarische Regierung die staatlichen Sozialhilfeleistungen mit Wirkung zum 1. März drastisch gekürzt, um steuerliche Begünstigungen für die "Mittelschicht" anheben zu können. Vor allem Familien ohne Arbeitseinkommen und somit Kinder leiden darunter am meisten. Die Bestimmungen sind so gehalten, dass fast alle Leistungen halbiert werden, einige Gruppen aber gänzlich von jeder staatlichen Unterstützung ausgenommen werden, sozusagen durchs Raster fallen, Dass es sich dabei strukturell häufig um Romafamilien handelt, ist kein Zufall, aber ein anderes, trauriges Thema. Sich um die zu kümmern, die das neue Gesetz rechts liegen lässt, obliegt gesetzlich ab sofort den Kommunen, die jedoch finanziell vom Wohlwollen der Zentralregierung abhängen und von Bürgermeistern, die noch weniger Willen als Geld haben.

Dem jüngsten Orbánschen Tiefschlag gegen die sozial Schwächsten versucht nun der neue Bezirksbürgermeister von Zugló, Budapests XIV. Bezirk mit einem lokalen Gesetz über ein familiäres Mindesteinkommen entgegen zu wirken, das, wenn auch bescheiden und zum Leben zu wenig, immerhin den Anspruch postuliert, dass tatsächlich "niemand zurückgelassen wird", wie es Fidessz immer behauptete.

Bürgermeister Gergely Karácsony von der kleinen Partei "Dialog für Ungarn" (eine linksliberale Abspaltung von den Grünen, LMP), der - recht spektakulär - den Fidesz-Bezirk im letzten Oktober von einem arroganten Neu-Apparatischik der Orbán-Partei (
Ferenc “Mr. 20%” Papcsák sowie dessen Nachfolgekandidaten Zoltán Rozgonyi) eroberte, gelang es dabei, durch geschicktes Verhandeln und mit der Waffe des potentiellen Volkszorns im Rücken sogar, die Fidesz-Mehrheit in der Bezirksversammlung (eine Spezialität des ung. Wahlrechts, da Bürgermeister direkt, aber nur mit relativer Mehrheit gewählt werden) für ein "Ja" für sein Vorhaben zu gewinnen. Er gibt damit dem Namen seiner Partei einen Sinn - welche Partei von "Sozial..." über "Volks..." bis "Christlich..." darf das heute noch von sich behaupten ohne zu lügen?

Die Vorgabe in Zugló sagt aus, dass zumindest ein Familienmitglied im Haushalt mindestens 26.000 Forint im Monat (rund 90.- EUR) Einkommen haben soll. Gelingt das nicht aus eigener Kraft, springt der Bezirk ein. Die Summe mag kläglich erscheinen und entspricht auch nur dem früheren minimalsten Sozialhilfesatz, allerdings erreicht der längst nicht mehr alle, denn um diese Summe vom Staat zu erhalten, muss der Antragsteller seit März nachweisen, eine gewisse Zeit beschäftigt gewesen zu sein und sei es in einem Kommunalen Beschäftigungsprogramm, womit die Sozialhilfe / Mindestsicherung in Ungarn heute eher den Charakter eines Arbeitslosengeldes trägt, für das man sich erst einen Anspruch erarbeiten muss. Doch vor allem alleinerziehende Mütter ohne familiären Background, aber auch aus anderen Gründen sozial ins Abseits geratene Personen können diesen Nachweis nicht immer erbringen, auch mangels Jobangeboten.

Die Regelung sieht weiterhin vor, dass, wenn ein Mitglied einer bezugsberechtigten Familie einen Job findet, die Hälfte der Summe sechs weitere Monate gezahlt wird. Weitere 10.000 Forint (33 EUR) pro Monat zahlt der Bezirk Familien, die Probleme bei der Zahlung der Miete oder der Nebenkosten haben, weitere Zuschüsse gibt es für Schulanfänger und Neugeborene. Auch hier springt der Bezirk mit Eigenmitteln für Streichposten der Zentralregierung ein.

Bürgermeister Karácsony lobt den "konstruktiven Dialog" zwischen der Fidesz-Mehrheitsfraktion, ihm und der Opposition, ergänzt aber, dass die Maßnahmen "nichts Großes" sind, sondern man lediglich etwas tut, um - im Rahmen der Möglichkeiten - etwas zu helfen.

Rund 300 Familien im Bezirk, so schätzt er, kommen für diese Minimalhilfe in Betracht, weitere 3000 für die Miet- bzw. Nebenkostenbeihilfe, jährlich wird die Maßnahme rund 500 Mio. Forint, also gerade ca. 1,7 Mio. EUR kosten und aus Eigenmitteln des Bezirkes finanziert werden. Was bisher, also unter dem Fidesz-Vorgänger mit diesen Mitteln geschah, kann man u.a. in Form einer
Luxus-Toilette im Bürgermeisteramt mit feinstem Marmor bewundern... Karácsony ist auch auf diesem weiten Feld - der Ausschreibungen öffentlicher Mittel, der Budgetricksereien und Absprachen, der Immobiliengeschäfte und Beraterverträge gerade gründlich am Aufräumen, polizeiliche Ermittlungen und regelmäßige Konsultationen in Bürgerofren inklusive - vielleicht sind die Fidesz-Abgeordneten auch deshalb so handzahm?

Karácsony kontert mit seiner Maßnahme bewußt Orbáns ständestaatliche Attitüde, in dem er ihm vorwirft, dass das "Ausrufen einer Arbeitgesellschaft" bei gleichzeitigem Entzug von "sozialer Unterstützung" realitätsfern, "fundamental falsch" ist. "Menschen müssen auch essen, wenn es nicht genügend Arbeit für alle gibt". Eine "Gesellschaft im 21. Jahrhundert" sollte auf "Wissen, Freiheit und Würde" aufbauen, zitiert ihn index.hu. Wobei es das Eine nie ohne das Andere geben darf. Immerhin hätten die Bezirksabgeordneten des Fidesz verstanden, dass es nicht genügt, das Tor zu zu knallen und den Leuten zu sagen, "Geht arbeiten!", denn diese Leute, werden dieses Tor sonst irgendwann durchbrechen.

 

Gleichzeitig mit dem Mindesteinkommen hob Karácsony die pauschalen No-Go-Areas, also "Platzverbote" für Obdachlose auf. Er führte aus, dass es dabei mit der Fidesz-Mehrheit "einen riesen Streit" um grundsätzliche Erwägungen gegeben habe, aber selbst "wenn mir jemand eine Knarre an den Kopf gehalten hätte", hätte er nicht anders entscheiden können, denn diese sinnlosen Bestimmungen "beschädigen die menschliche Würde in einer Weise, dass man da keinen Kompromiss finden kann."

Beides, also ein Mindesteinkommen für Familien sowie die fruchtbringende Zusammenarbeit des Fidesz mit einer linken Partei, ist ein Novum in Ungarn. Das Projekt macht bereits als "Zuglóer Modell" die mediale Runde. Sei es auch nur zu Stande gekommen, weil die Orbán-Partei einen noch weiteren Popularitätsabsturz fürchtet, so ist doch festzuhalten, dass das Wahlvolk, wird es von uneigennützigen Repräsentanten vertreten, durchaus die Macht hat, seine Interesse - wenn auch nur partiell und in bescheidenem Maße - gegen die eigentliche Leitideologie umzusetzen. Das ist die Umkehr des Spießes Populismus.

red. / cs.sz.

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