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(c) Pester Lloyd / 11 - 2015   WIRTSCHAFT    10.03.2015

 

Erosion des Rechtsstaates: Bürgerrechtler gehen gegen unbegrenzte U-Haft in Ungarn vor

Die Möglichkeit, Menschen - und seien es auch Verbrecher - ohne Prozess endlos wegschließen zu können, ist ein klassisches Merkmal einer Diktatur. In Ungarn ist sie geltendes Recht, wenn auch in der Praxis bisher nur angetestet. NGO´s gehen nun mit Hilfe eines von Fidesz ernannten Ombudsmannes dagegen vor. Dabei ist die Endlos-U-Haft nur einer von vielen Aspekten eines siechenden Rechtsstaates. Gerade heute sprach der EGMR wieder von “unmenschlichen Haftbedingungen”.

11knasttitel (Andere)

Die anlassbezogene Debatte über die Möglichkeit unbegrenzter Untersuchungshaft aus dem Jahre 2013 sollte nach den Mahnungen von Verfassungsexperten und einer entsprechenden Einschätzung aus Brüssel längst vom Tisch sein. Dennoch gelangte eine entsprechende Passage in die - wie alle Gesetze Ungarns - seit 2010 von Grund auf überarbeitete und 2014 in Kraft getretene neue Strafprozessordnung.

Die Abschaffung einer Obergrenze für die U-Haft und sei dies auch nur für "schwerste Verbrechen" vorgesehen, ist ein so ungeheurliches Vergehen gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien, dass sich nun sogar der von Fidesz eigentlich nur als Alibi-Mann eingesetzte parlamentarische Ombudsmann für Grundrechte,László Székely, genötigt sieht, in dieser Frage das Verfassungsgericht anzurufen. Dabei kam ihm die vorliegende Beschwerde des linksliberalen Eötvös Károly Instituts sowie des Ungarischen Helsinki Komitees gelegen, so dass er hier keine Eigeninitiative an den Tag legen musste.

11szekelySzékely hatte sich bereits einmal bei seinen Ernennern unbeliebt gemacht als er eine Beschwerde über die Schließung eines Drogenprogrammes in einem Budapester Bezirk bearbeitete. Eine ministeriell eingefädelte Intrige sollte ihn dabei um seinen Posten bringen, er
wurde von Fidesz-Funktionären als "von der Drogenmafia infiltriert" diffamiert, Kanzler Lázár sah seine Glaubwürdigkeit beschädigt, man legte ihm den Abgang nahe. Allerdings scheiterte die Sache kläglich am Dilletantismus der Intriganten und der Aufmerksamkeit einiger unbeugsamer Medien und am Ende musste ein Vizestaatssekretär im Innenministerium als Bauernopfer versetzt werden. Székely war jedoch gewarnt.

Allerdings erfüllte Székely in anderen Fällen auch seine ihm zugedachte Rolle. So
verhinderte er mit geradezu hanbeüchenen Begründungen eine Verfassungsprüfung zum diskrimierenden, neuen Briefwahlrecht, das Auslandsungarn verschiedener Kategorien kennt. Ihm kam dabei zupass, dass auch der Kreis jener, die sich überhaupt beim VfG beschweren dürfen, ausgedünnt worden war.

Die Opposition und auch Bürgerrechtler vermuteten von Anfang an, dass die Bestimmung, die unbegrenzte U-Haft ermöglicht, als ein Art Notstandsgesetz in Reserve gehalten wird, um im Bedarfsfall Delinquenten auch aus politischen Gründen wegzuschließen. Leute einfach verschwinden zu lassen, ist ein klassisches Merkmal einer Diktatur. Das klingt abwegiger als es ist, denn in gewisser Weise gab es dazu bereits zwei Präzedenzfälle.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erklärte bereits in zwei Fällen die Anwendung der U-Haft für unverhältnismäßig, also schlicht für zu lang und verhängte Entschädigungszahlungen gegen den ungarischen Staat. Beide Male, bei Árpád Hagyó und György Hunvald, ging es um in Haft sitzende Ex-Funktionäre der MSZP, die sich in Bestechungs- und Korruptionsverfahren befanden.
Der EGMR kritisierte nicht nur die der erwartbaren Strafe unangemessen lange U-Haft-Dauer, sondern auch weitere Haftbedingungen, wie Besuchsregelungen und Zugang zu Rechtsbeiständen.

 

Bei den Delikten handelte es sich dabei noch nicht einmal um die durch das Gesetz als "schwerste Verbrechen" gekennzeichneten. Ja selbst die Summen und die Dreistigkeit der Vorgehensweise der "Sozis", mögen noch vor fünf Jahren beeindruckt haben, liefen aber bei einer anderen Partei, nämlich der heute Regierenden jedoch unter Peanuts und üblichem Geschäftsgebaren.

Wenn man zudem bedenkt, wie selektiv bei Korruption und Amtsmissbrauch im heutigen Ungarn vorgegangen wird, immerhin sorgte Generalstaatsanwalt Péter Polt dafür, dass die Zahl der eingestellten Verfahren in diesem Strafrechtssegment ein Rekordhoch erreichte, wird klar, dass die politische Justiz längst keine reine Theorie für eine ferne Zukunft mehr ist.

Politische, von Orbán eingesetzte Sonderregierungskommissare und die Verhinderung von Aufklärung von Regierungsvergehen durch Gleichschaltung der Kontrollinstanzen - oder eben letztlich die Barriere Staatsanwaltschaft, komplettieren diesen permanenten Rechtsstaatsabbau, der angesichts der medial immer präsenteren Skandale und der immer schwindelerregenderen Größenordnungen für jeden Bürger greifbar ist.

Auch andere Rechte von Beschuldigten sollten beschnitten werden, u.a. wollte man bei Korruptionsfällen, bei denen öffentliche Gelder involviert waren, den Verdächtigen für 2-3 Tage den Zugang zu Anwälten verweigern, doch hier war es das Oberste Gericht, das der Regierung eine Lektion erteilte.

Ein weiterer Fall des Law-and-order-Rausches, in den sich die Fidesz-Regierung, wohl auch unter dem Eindruck der erstarkenden Jobbik treiben ließ, ist die lebenslange Sicherungsverwahrung von Schwerstverbrechern, die auch nach Verbüßung ihrer Haftzeit als Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft eingestuft werden. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, im Gegenteil, doch in Ungarn fehlen bis heute klare Vorgaben, wer, wann, wie die Gegebenheiten prüft und welche Rechte dem Inhaftierten überhaupt zugestanden werden.

Der populistische Blutrausch gipfelte im letzten Wahlkampf in der Äußerung von Orbáns Kanzler Lázár, der vor laufenden Kameras “bedauerte”, dass Ungarn “die Todesstrafe” - aufgrund seiner internationalen Verpflichtungen “nicht wieder einführen dürfe”.

Gerade heute erhielten 6 Ungarn vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Entschädigungen von bis zu 24.000 EUR wegen “unmenschlicher Haftbedingungen” zugesprochen. Die Gefängnisse sind zu mindestens 60% (offiziell 37%, aber diese Zahlen sind hingebogen) überbelegt, Inhaftierte erhalten mitunter weniger als zwei Quadratmeter zugestanden, geduscht werden kann manchmal nur einmal wöchentlich etc. etc. Mehr als 400 solcher Fälle sind in Straßburg weiterhin anhängig. - Über die traurigen Zustände in den Flüchtlingscamps, die ebenfalls wie Gefängnisse geführt werden, berichteten wir bereits an anderer Stelle ausführlich.

Ombudsmann Székely betont bei seiner jetzigen Initiative die "Wichtigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien" und den "Blickwinkel der individuellen Grundrechte", die eine Begrenzung der U-Haft-Dauer unumgänglich machen. U-Haft darf, so Székely weiter, nicht als Ersatzhaft angewandt werden, sondern soll als Garantie für die rechtmäßige Abwicklung eines Kriminalprozesses dienen. Sie soll sicherstellen, dass eine Tatwiederholung, die Flucht oder die Beweisvernichtung verhindert werden und der Verdächtige für den Prozess verfügbar bleibt. Sobald die U-Haft aber die Rolle der Haft übernimmt, ist sie nicht mehr mit Verfassungsprinzipien vereinbar. Hier sollte ergänzt werden, dass Prozesse mit U-Häftlingen auch mit deren Freispruch, z.B. wegen erwiesener Unschuld enden können, was bei der Anwendung der U-Haft von Richtern immer mit zu bedenken ist, immerhin kann die ganze Existenz eines Menschen durch eine falsche oder unbedachte Entscheidung ruiniert werden.

 

Die Sache scheint also klar, das entsprechende Ergebnis der Prüfung durch das VfG müsste reine Formsache sein, ebenso die darauffolgende Gesetzesänderung. Zumindest in einem Rechtsstaat, der sich u.a. dadurch definiert, dass keine Regierung die Macht hat und behält, Grund- und Menschenrechte abzubauen oder zu umgehen und schon gar nicht die Hüter dieser Rechte in ihren Zuständigkeiten zu beschränken.

Wir mussten seit 2010 lernen, dass Alles, was den Regierenden politisch opportun oder nützlich erschien, auf die eine oder andere Weise durchgesetzt wurde. Sei es durch direkte Gesetzesarbeit bis hinein in die Verfassung, sei es durch institutionellen Umbau oder einfach eine am Gesetz vorbei wirkende Dekrets-Praxis.

red. / al.
 

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