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(c) Pester Lloyd / 17 - 2015     FEUILLETON    23.04.2015

 

Ein bisschen Frieden: Ungarn Geheimfavorit beim Eurovision Songcontest?

Der ungarische Beitrag für das kommerzielle TV-Singfest am 19. Mai in Wien kommt in diesem Jahr von Boggie. Es ist ein massenkompatibler Antikriegssong, der den entzündeten Nerv der Zeit trifft. Warum Israel intervenierte, Ungarn zensierte, wir dem Song aber trotzdem den Sieg wünschen. Eine Polemik mit Happy End.

Am 19. Mai steigt in Wien das alljährliche Wettsingen, das im Vorjahr von Conchita Wurst gewonnen wurde. Wir erinnern uns musikalisch vage an den Retro-Bond-Bombast mit Selbstbehauptungsmessage, vor allem aber bemitleidenswerte Ost-Machos, die allein der Anblick eines Bartes im Kleid derart verängstigte, dass sie ihre ungeputzten Hormonspiegel in homophobe Parolen, gekleidet in Warnungen vor dem Untergang des Abendlandes ätzen mussten.

17boggie (Andere)


Das ungarische Publikum und die Jury vergaben 12 Punkte nach Österreich, so als hätte es die "konservative Revolution" Orbáns nie gegeben. Wer die stiernackigen Glatzköpfe, die Hungaromachos als Krone unserer magyarischen Schöpfung und die latente Homophobie (wahlweise auch Frauen-, Zigeuner-, Judenfeindlichkeit) großer Teile Ungarns kennt, war ob dieses Ergebnisses, ja Statements bass erstaunt. Kurz, denn klar, am Ende rufen nur Alternative und Schwuchteln die Eurovisions-Hotline an, - echte Kerle schauen so etwas gar nicht.

Doch zurück zum diesjährigen Event, bei dem sich das tendentiell eher provinzielle Wien zur Weltstadt aufgockeln darf, eine Übung, die man an der mittleren Donau durchaus beherrscht, auch wenn der spießige Mief in Form von Einwänden wie "was das wieder kostet", nicht übertüncht werden kann.

Seichtheit als Erfolgsrezept

 

Der ungarische Beitrag für das Singfest am 19. Mai kommt in diesem Jahr von Boggie, Kürzel für Boglárka Csemer (Foto), eine 28jährige Sängerin und Komponistin, die vor allem im Jazz und Soul ihre Talente hat und bereits einige bemerkenswerte Werke vorlegte. "Wars for nothing", ihr Beitrag (siehe Video unten), wird keinerlei Skandale auslösen, schon eher liegen ihre Chancen in der universalen Antikriegsmessage, die schon immer, aber wieder mehr im Jahre 2015 den Nerv der Zeit trifft, weil der entzündet ist wie lange nicht.

Zwei weitere Grundbedingungen erfüllt der Song auch, er wird von einem hübschen Gesicht gesungen und ist musikalisch so seicht und nichtssagend, eine Mischung aus Allerweltsballade und verschämtem Gospel, dem man alles zusprechen kann außer Charakter. “Mein Lied ist eine hymnische Ballade mit einem Plädoyer für den Frieden." Toll, Boggie. Warum eine solche Sängerin sich auf solche Einfalt einlässt, ist wohl ein Geheimnis der Marketingstrategen, genauso wie die Antwort auf die Frage, warum es für ein solch liebes Nichts drei Komponisten brauchte.

Botschafter bat um Zensur

Das Krieg Scheiße ist und die darin Umkommenden und Leidenden bemitleidenswert, sollte humanistischer Konsens sein, aber auch hier gibt es Abstufungen. Vor allem wenn man konkrete Kriege benennt. Da genügt es dann schon, dass in einer Zeile die vielen getöteten Kinder des jüngsten Gaza-Krieges in einer Text-Einblendung visualisiert werden, um den israelischen Botschafter in Budapest auf den Plan zu rufen. “2014 – Gaza – two-thirds of the victims were civilians, including more than 500 children.” heißt es da. Das sei eine "unangemessene politische Aussage" über Israel, befand Ilan Mor und bat nicht etwa die Sängerin, sondern das Staatsfernsehen, das den Vorentscheid ausrichtete, die Sache zu ändern. Er forderte also Zensur. Damit rennt man beim MTVA heute natürlich offene Türen ein, sogar wenn die Forderung aus Israel kommt!

Allzu lange ist Herr Mor noch nicht in Ungarn und er hat sich stets als offensiver Humanist und kluger Mittler erwiesen, zumindest insoweit er persönlich Akzente setzt. Und das tut er auch hinsichtlich der innerungarischen Konflikte mit einer Verve, von der sich viele Botschafterkollegen eine dicke Scheibe abschneiden könnten. Doch ist der Botschafter eben in erster Linie auch der Angestellte des Herrn Ministers Liebermann, der sich mehrfach als Rassist, Hetzredner und Menschenfeind geoutet hatte und sich nicht selten nur durch seinen Pass von den Rassisten, Hetzrednern und Menschenfeinden der Gegenseite unterscheidet. Das schmerzt. Vielleicht auch den Botschafter selbst...

 



"Ein bisschen Frieden..." hat noch niemandem geschadet

Die Intervention des Herrn Botschafters, wohl eher eine Dienstanweisung aus Jerusalem, entspricht ihrem Charakter nach ganz und gar ungarischen Gepflogenheiten. Gratulation zu dieser schnellen Integration, Exzellenz! Denn solche beleidigten Einwürfe, Forderungen und Kleingeistigkeiten kennen wir von unseren Orbánisten täglich.

Ich weiß nicht, ob es beruhigend ist, zu erfahren, dass diese diplomatische Selbstgerechtigkeit, eigentlich reinster Zynismus, nicht die alleinige Domäne Ungarns ist, aber wenn in Gaza Hunderte - oder seien es auch “nur” drei gewesen - Kinder, völlig gleichgültig welcher “Nation”, gewaltsam zu Tode gebracht werden, dann soll der Herr Botschafter das künstlerisch ausgedrückte Missfallen darüber gefälligst erdulden und nicht von einem Schlager erwarten, dass er die Komplexität nahöstlichen Wahnsinns erschöpfend ausleuchtet. Das schaffen ja nicht einmal die Politiker. "Ein bisschen Frieden..." hat dabei noch niemandem geschadet, auch wenn solche Lieder keinen Frieden bringen. Der Botschafter wollte sich mit der Sängerin persönlich aussprechen. Wir hoffen, beiden hat es etwas gebracht.

Keiner Nation auf den Schlips treten...

Die Sängerin reagierte auf Facebook nicht ungeschickt und stellte die Opfer ins Zentrum. Die Zeile fliegt trotzdem raus, dafür will man auf die Kraft der Bilder setzen, aber ausschließen, dass sich auch nur irgendeine "Nation" auf den Schlips getreten fühlt. Ein echter Luxus, wenn man an die Kinder denkt. Dabei sind es doch gerade jene, die so auf dem Begriff "Nation" aufbauen, die heute die Kriege... aber lassen wir das.

Die Kinder sind tot, die Schuld dafür tragen nicht die israelischen Soldaten allein, die die Abzüge betätigten und die Situation ist dergestalt, dass auch dieser Krieg keine Lösung brachte, also doch ein "War for Nothing" war, wenn man einmal von der Festigung der Feindbilder, der Angstmacherei absieht, die auf beiden Seiten als "Sieg" gefeiert wird, obwohl der nur den nächsten Krieg und damit die nächste Niederlage der Menschheit vorbereitet. Und das schreiben wir gerade aus dem vollsten Bewußtsein der jüdischen Traditionen und Opfer des Pester Lloyd.

Jeder hört nur, was er hören will...

 

"Ich glaube Musik hat mehr Kraft als manche Menschen denken und mein Song ist ein Friedenssong und ich hoffe, dass Europa meine Botschaft hört.”, sagt Boogie. Das sollte Boggie ganz schnell vergessen. Jeder hört nur, was er hören will, in Europa und auch außerhalb, das Schluchzen trauender Mütter gehört nicht dazu. Ein Friedenssong beim Song Contest bestätigt uns nur kurz darin, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Und während wir das fühlen, ersaufen im Mittelmeer wieder Menschen, eben auch Kinder oder stirbt ein Obdachloser, der auf den Stufen eines Budapester Krankenhauses liegen gelassen wurde...

Schlager gegen finsterste Operette

Nun das Happy End: Buchmacher, "Experten" und Kolumnisten schreiben den Song zum Geheimfavoriten und wir wünschen uns schon deshalb einen Sieg des ungarischen Beitrages, um uns im nächsten Jahr, wenn die Contestkarawane mit ihren ganzen liberalen, homosexuellen, bunten-schrägen, lebensbejahenden, sorglosen Geistern nach Budapest kommt, köstlich über die Verrenkungen unserer nationalkonservativen Eliten und des Staatsfernsehens amüsieren zu dürfen, wie sie den unausweichlichen Angriff auf das Wesen des Ungarntums in ein erfolgreiches Event von nationaler Wichtigkeit umdeuten werden. Und das werden sie! Schlager gegen finsterste Operette, lautet dann das Motto...

m.s.
 

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