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(c) Pester Lloyd / 32 - 2015     WIRTSCHAFT    07.08.2015

 

Sozialarbeiter in Ungarn im Streik: Asoziale Regierung, zynische Politiker

Dem ungarischen Sozialsektor steht im August ein massiver, landesweiter und unbefristeter Streik bevor. Betroffen davon werden auch Kinderkrippen und Kindergärten sein, die teilweise schließen müssen. Die Regierung sieht sich veranlasst, die unverschämten Forderungen der Sozialarbeiter nach Existenzsicherung mit gerichtlichen Verfügungen, Drohungen und Beleidigungen zu begegnen.

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Die Grundforderung der rund 120.000 Betroffenen: ein Einkommen, von dem man annähernd leben kann. Viele Sozialarbeiter, Alterspfleger, Streetworker, aber auch Krippenschwestern und Kindergärtnerinnen bekommen nämlich nicht mehr als das gesetzliche Mindesteinkommen, - etwas über 100.000 Forint brutto im Monat. Dessen Nettobetrag hat sich u.a. durch die "gerechteste Steuer aller Zeiten" (Orbán) seit 2010 von rund 300 auf 215 EUR reduziert, denn die Flat tax kennt keine Steuerfreibeträge, auch Sozialabgaben sind in voller Höhe zu entrichten. Übrig bleiben heute rund 67.500 Forint, nach aktuellem Kurs 218 EUR. Das sind also rund 10 EUR pro Arbeitstag, Überstunden eingerechnet ca. 1 EUR pro Stunde! Löhne, die man sonst nur aus der dritten Welt kennt.

Mit Warnstreiks, Petitionen, Demonstrationen hatten die Mitarbeiter des Sozialsektors seit Monaten, eigentlich schon seit Jahren auf ihre prekäre, unhaltbare Lage aufmerksam gemacht siehe
hier und hier  - die sie noch schlechter stellt als den Gesundheitssektor, aus dem die Mitarbeiter bekanntlich in hellen Scharen fliehen - trotz "Karrieremodell" und inflationär kommunizierten Gehaltserhöhungen, die diesen Namen unter dem Strich nicht verdienen. Die Regierung ignorierte sie, denn Lehrer, Soldaten, Fußballstadien und der neue Amtssitz des Premiers in der Budaer Burg hatten Priorität - in umgekehrter Reihenfolge.

Das Streikkomitee kündigte nun einen längeren Arbeitsausstand an, musste sich die Genehmigung dazu aber durch zwei Gerichtsinstanzen erkämpfen, weil das zuständige "Humanressourcen"-Ministerium den Streik beeinspruchte. Anstatt die Forderungen zu erfüllen oder wenigstens ernsthafte Verhandlungen einzugehen, wollen Orbáns Ständestaatler den Streik durch ihr Oberstes Gericht, die Kurie, am liebsten verbieten lassen - oder, wenn das (noch) nicht geht, bis zur Unkenntlichkeit beamtshandeln.

Das könnte schlicht dadurch geschehen, in dem die Kurie die nach dem Gesetz zu formulierenden "Mindesdienstleistungen" entsprechend ausweitet, die Angestellte des Öffentlichen Dienstes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bei Arbeitskämpfen sicherstellen müssen. Auf diese Weise hat man schon andere Querulanten diszipliniert, - die Drohung mit Schadensersatzklagen zeigten bisher noch stets ihre Wirkung.

Laut Imre Nyitrai, Vizestaatssekretär für Sozialabbau, würden die jetzt vom Budapester Gericht festgesetzten Regelungen nämlich Tagesheime für schulpflichtige Kinder (Ferienhort), Krippen für Kinder unter 3 Jahren und Obdachlosenheime nicht unter die Mindestdienste stellen. In der dieser Regierung üblichen Präpotenz warnt Nyitrai die Kurie schon einmal davor, seinen Forderungen nicht nachzukommen. Denn das würde "die Rechte der Kinder, die menschliche Würde und sogar Leben gefährden", womit der Verhandlungsführer der Regierung den Streikenden selbiges unterstellt.

Wer gesehen hat,
was sozial in Orbáns Ungarn in den letzten fünf Jahren geschehen ist - und zwar systematisch herbeigeführt  (siehe: Hunger als Lifestyle) wurde - dem eröffnet sich schnell, wer hier Rechte, Würde und Leben angreift. Nyitrais Zynismus, der also noch auf jene eindrischt, die sich um die Opfer der asozialen Politik seiner Regierung kümmern, wäre unfassbar, wenn er nicht alltäglich wäre. Es ist übrigens der gleiche Zynismus jener "Analysten", die Ungarn für seinen ökonomischen "turn around" feiern. Er ist widerlich und menschenverachtend.

Die Streikenden widersprechen, in allen genannten Einrichtungen seien Mindestservices sichergestellt, so wie das Gericht und Gesetz bestimmen, der Politiker lüge also. Was nicht abgedeckt sei, sind z.B. Extras wie Ausflüge in Altersheimen und Kinderkrippen, Neuaufnahmen, Verwaltungsarbeit etc., jedoch nichts Existentielles. Dass nicht alle Kinder versorgt werden können, sei nunmal essentieller Teil des Streiks, die betroffenen Eltern könnten ihren zusätzlichen Betreuungsaufwand ja beim Ministerium geltend machen.

 

Die Sprecherin des Streikkomitees, Viktória Szűcs, sagte, dass die Regierung Orbán den zunächst für den gesamten August vorgesehenen Streik sofort beenden kann - wenn sie den vorgelegten Vereinbarungsentwurf zum Mindesteinkommen im Sektor unterzeichnet. Der verlangt eine gehaltliche Gleichstellung mit dem Gesundheitssektor (eine wahrlich bescheidene Regelung, die ungefähr 15% Lohnerhöhung im Schnitt bedeutet), geregelte Pausenzeiten und die Rücknahme von Zugangshürden für Gewerkschften - Forderungen also, die in europäischen Zivilisationen seit Mitte des 20. Jahrhunderts erfüllt sind, in Ungarn, mit seinem (auch bei ausländischen Investoren sehr beliebten) Arbeitsrecht aus dem 19. Jahrhundert ticken die Uhren anders.

Die Antwort der Regierung: die Verhandlungen seien auf einem guten Wege, von einer Vereinbarung wisse man nichts und werde nun sicherstellen, dass der Sektor seinen Pflichten nachkommt. Man hoffe, dass - im Interesse aller arbeitenden Ungarn - der Streik noch abgesagt werde. Ach, und übrigens werde man das Streikrecht nochmals "anpassen".

red.
 


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