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(c) Pester Lloyd / 36 - 2015   POLITIK    05.09.2015

 

Vorläufiges Ende des "Geiseldramas" von Ungarn: Aber wie geht es weiter?

Ein kleines 1989. 10.000 Flüchtlinge konnte die humane Spontanaktion der deutschen und österreichischen Kanzler aus Klauen und Kalkül Orbáns retten und ihm eine schmachvolle Niederlage bereiten. Sein System erschüttern konnte sie nicht. Und nun? Ein Shuttle-Service zwischen Budapest und Wien kann ja nicht die Lösung sein... Betrachtet man das kommenden Grenz- und Fremdenregime sowie Orbáns Intentionen, bleibt nur ein Schluss. Die EU muss endlich einschreiten und zwar mit ihren stärksten Waffen: Geld und Artikel 7.

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Hoffnung EU: Entgegen dem Wikipedia-Eintrag fanden die Flüchtlinge Europa nicht in Ungarn. Ihr Marsch aus Budapest löste bei Merkel und Faymann ein neues, kleines 1989 aus. Danke dafür. Zu spät, zu wenig, aber immerhin ein 10.000faches Etwas...

Applaus, Freudentränen, warmer Tee

Samstagvormittag sind bereits rund 5.000 Flüchtlinge aus Ungarn in Österreich angekommen. Es gab in Nickelsdorf Willkommensschilder, Applaus, Jubel, Freudentränen: ein kleines 1989. Sie wurden, improvisiert, aber menschenwürdig von Polizei, Hilfsorganisationen in Nickelsdorf in Empfang genommen, warme Decken, Regenschutz, Nahrung, Hilfsgüter standen ausreichend bereit. Vom Grenzort gehgen derzeit Sonderbusse und alle zwei Stunden ein Sonderzug Richtung Wien bzw. Salzburg, von dort weiter nach Deuschland, das für die meisten das Ziel ihrer Oddysse ist. Auch das ist ein Grund, warum Österreich mitspielt. Die SPÖ koaliert im Burgenland schon mit der FPÖ, die steht im Bund bei 30% Plus und treibt das gleiche Spiel wie Jobbik mit Fidesz. Alles weitere zur Flüchtlingsaufnahme in Österreich entnehmen Sie bitte u.a. dem
www.derstandard.at  oder den ZIB-Nachrichten des ORF.

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Auch dieses Foto machte in Ungarn die Runde: Sieh hin Orbán so, wie hier in Nickelsdorf / Österreich, begrüßt man Flüchtlinge. Stattdessen gehen von Ungarn Bilder großmäuliger Nationalisten-Politiker, prügelnder Polizisten, belagerter Flüchtlinge und Hooligans um die Welt, die mit ungarischen Wappen auf ihren Shirts auf Flüchtlingskinder lostreten. Hier alles im Ticker.

Eine letzte Geste des Kleinmuts

Die ungarischen Behörden verabschiedeten die ungebetenen Gäste, die es wagten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und Orbán somit bloß zu stellen, mit einer letzten trotzigen Geste der Kleinmütigkeit. Anstatt die Busse am Bahnhof in Nickelsdorf halten zu lassen, worum die österreichische Polizei ihre ungarischen Kollegen mehrfach dringend bat, mussten die am Ende ihrer Kräfte Seienden Hunderte Meter durch den Regen und zu Fuß über die Grenze. Diese Geste entspricht dem Charakter Orbáns.

Regierungslager sieht sich als Opfer

Das Regierunglager und deren mediale Sprachrohre sprechen von einer Notlösung in einer Notlage. Die nicht handhabaren "immer aggressiver" auftretetenden Flüchtlingsmassen habe man nun den Verantwortlichen für die Welle überstellt, dem Westen nämlich, der "falsche Hoffnungen" geschürt und "missverständlich kommuniziert habe." Ungarn habe nur versucht sich an Schengen zu halten, etc. etc., aber der Westen - wieder wurde man verraten, wieder ließ uns der Westen im Stich. Ungarn, das ewige Oper.

Opposition: Ungarn steht jetzt weltweit als unmenschlich da

 

Die oppositionelle Seite, aber vor allem auch die mit der Thematik engagierten NGO´s sagen: Die Regierung habe die Flüchtlinge gezielt schikaniert und das Chaos bewusst geschürt, zum Einen, um bei der eigenen Bevölkerung eine größtmögliche Ablehnung alles "Fremden" zu bestärken, zum Anderen, um sich "unattraktiv" für künftige Flüchtlinge zu machen. Dabei habe Orbán erreicht, dass Ungarn jetzt weltweit als die unmenschliche Gesellschaft wahrgenommen wird, die es - Dank seiner Politik - auch schon vor der Flüchtlingswelle war - da eben gegen Benachteiligte der eigenen Bevölkerung. Orbán habe das Land jetzt quasi aus der Gemeinschaft der Europäer ausgeschlossen, es ist nur noch formal Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Orbán hielt die Flüchtlinge als Geiseln seiner politischen Ziele und Europa zum Narren, das ihn dafür noch finanziell austattet und überleben lässt.

Wie geht es nun weiter? Am Ostbahnhof warten noch einige Hundert Flüchtlinge, weitere werden wieder ankommen. Tausende werden weiter in den Lagern drangsaliert, Hunderte meandern durch das Land. Wird es nun einen dauerhaften Shuttle-Service von Budapest nach Westen geben? Was macht man mit den "Millionen", die noch unterwegs sind? Alle paar Tage eine Ventilöffnung? Samstagmittag setzten sich wieder mehrere Hundert Menschen zu Fuß vom Ostbahnhof aus in Bewegung. Ungarns Behörden meinten: es gäbe nun keine Bus-Transporte mehr zur Grenze...

Notstandsgesetze ab 15. September

Die ungarische Administration setzt ihre Hoffnungen auf die am Freitag beschlossenen Notstandsgesetze, die "die Gnadenfrist am 15. September enden" lassen soll (Lázár), dann werde "eine neue Zeitrechnung" (Orbán) im Umgang mit den "illegalen Einwanderern" anbrechen. Ziel ist letztlich: keinen mehr rein lassen, die Abschreckung so gestalten, dass sich bis in den letzten Winkel Afrikas, ins letzte Tal in Arabien herumspricht, dass Ungarn zu meiden sei.

Dazu sind, wie
die 13 Punkte zeigen, so ziemlich alle Mittel Recht, auch wenn oder gerade weil, demokratische Verfahren und rechtsstaatliche Prinzipien sowie so ziemlich alle Menschen-, Bürger- und Grundrechte mit Füßen getreten werden. An den "Fremden" probiert man aus, was vielleicht einmal gegen die eigenen Menschen nötig werden könnte.
Zäune halten niemanden lange auf

Die Geschichte lehrte, dass man Flüchtlinge nicht dauerhaft aufhalten kann, wenn die Fluchtursachen bestehen bleiben. Das lernte das Römische Reich, es lernten die Chinesen, Israel lernt zwar nicht, merkt es aber und sein monströser Zaun funktioniert auch nur, weil man zusätzlich alle paar Jahre den Gegner in Grund und Asche bombt und den Frieden mit andauerndem Alarmzustand bezahlen muss.  Die Zäune in Ceuta, Bulgarien / Türkei und zwischen Mexiko und den USA sind keine Zäune, sondern schlichte Umleitungen.

Wenn die Balkanroute nicht mehr über Serbien nach Ungarn geht, werden die Menschen über Kroatien, Rumänien, Slowenien, Ukraine kommen, aber sie werden kommen. Orbán muss sich und sein Land komplett einmauern und einen Polizeistaat daraus machen, wenn er seine Versprechen umsetzen will. Selbst dann wird er scheitern. Rund 600.000 ungarische "Wirtschaftsflüchtlinge" hat Orbán selbst schon verursacht - und es werden immer noch mehr. Flüchtlinge übrigens, deren Aufnahme man nie in Frage stellte - weil es Europa gibt.

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In irgendeiner VIP-Lounge in Brüssel liest Orbán die erste Ausgabe seines neuen Zentralorgans “Magyar Idök” (Ungarische Times, die umgemodelte, von finstren Günstlingen aufgekaufte Nap Gazdaság). Darin lässt er seinen Fraktionschef sagen, Europa müsse sich entscheiden, ob es seine Enkel in einem Kalifat leben lassen will.

Was muss jetzt geschehen?

Zunächst muss die EU endlich handlungsfähig werden, d.h.: Ungarn - wie allen in der Frage der Versorgung der Menschen gescheiterten oder sich verweigernden Mitgliedsstaaten - muss die Hoheit über die Betreuung der Flüchtlinge abgenommen werden. Eine Art EUHCR (nach dem Vorbild der UN-Flüchtlingshilfe) ist einzurichten. Dazu eignet sich am besten das Artikel 7 Verfahren, denn die Behandlung der Flüchtlinge in Griechenland oder Ungarn stellt einen direkten Verstoß gegen die Grundrechteartikel 1 und 2 der Lissabon-Verträge dar. Daraus ergäbe sich ein Stimmrechtsentzug bis zur Wiederherstellung der Grundrechte. Gleichzeitig sind Mittel zu sperren, die Länder notfalls finanziell zu diszipliniern, sich an die wichtigsten Maßgaben ihrer Mitgliedschaft zu halten.

Das setzt u.a. voraus, dass die EVP ihre Nibelungentreue zu Orbán endlich aufgibt und ihn aus ihren demokratischen Reihen verweist. Es geht nicht mehr anders, man kann die demokratische Maskerade nicht länger aufrecht erhalten ohne sich selbst von den Grundwerten der EU und der Demokratie zu verabschieden.

 

Sodann solle Europa keine fixen Flüchtlingszahlen mehr nennen: was nutzen Daten über 50.000, 120.000 oder 160.000 Flüchtlinge, die verteilt werden sollen? Diese Zahlen sind schon überholt, wenn sie ausgesprochen werden. Es muss einen Verteilerschlüssel geben, der Geld und "Ureinwohner" einbezieht. Und gleichzeitig dazu muss es eine konzertierte, großzügig ausgestattete Aktion in den Hauptaufnahmeländern, also Türkei, Libanon etc. geben - damit dort Bedingungen geschaffen werden, die ein Ausharren in der Nähe der Herkunftsländer möglich (Häuser, Schulen) und sogar attraktiv (Berufsausbildungen, Arbeitsplätze) machen. Anders wird man den Treck nicht aufhalten, solange seine Grundursachen: Krieg, Terror, verfehlte Strategien der Großmächte, nicht eingedämmt sind.

Doch - und so kommen wir zurück nach Ungarn - bei allen Ängsten, dem Ärger über eine handlungslahme EU - der bei Lichte eine Forderung nach mehr Kompetenzen für die EU bedeuten müsste, was die "Asylkritiker" aber auch nicht wollen - bei allen Unannehmlichkeiten und Belastungsgrenzen. Ein Leitmotiv muss immer gelten: der Mensch ist wie ein Mensch zu behandeln. Nicht wie gemeines Vieh und nicht wie politische Geiseln, wie das Ungarns Regierung getan hat und wieder tun wird, wenn man sie gewähren lässt. Das Geiseldrama ist vorerst beendet, der Geiselnehmer läuft immer noch frei herum...

red. / cs.sz., m.s., a.l.


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