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(c) Pester Lloyd / 12 - 2016   POLITIK     22.03.2016

Stumpfs Schwert: Verfassungsrichter und Ex-Fidesz-Minister geht auf Orbán los

Dass ein aktiver Verfassungsrichter die Politik des aktuellen Regierungschefs kritisiert, ist nicht nur ungewöhnlich, sondern wäre, handelte es sich um eine funktionierende Verfassungsordnung - auch unangemessen. Richter István Stumpf hat Orbán haltlosen Machthunger und indirekt eine Zerstörung der Demokratie und ihrer Institutionen vorgeworfen. Der Ex-Minister unter Orbán und frühere Mentor des Premiers hält den Fidesz-Oberen ungezügelte Gier und Demagogie vor.

Stumpf (Andere)


 

Das ungarische Verfassungsgericht wurde seit 2010 politisch nachbesetzt, mehrfach zurechtgestutzt, ja geradezu kastriert und in seinen Kompetenzen vom Kontroll- und Wächterorgan zum Verwalter einer Ein-Parteien-Verfassung degradiert, in denen selbst fundamentale Grund- und Menschenrechte im Rang von Kann-Bestimmungen vegetieren. Es begann mit dem Verbot, über Gesetze zu befinden, die einen Einfluss aufs Budget haben und ging weiter mit der Verankerung von Tagespolitik in der Verfassung oder in verfassungsgleiche Kardinalsgesetze.

Was auf den Widerspruch der Verfassungsrichter traf, wurde in Verfassungsrang erhoben, was die Richter in die Lage brachte, nun schützen zu müssen, was sie vorher bekämpften. Um die Sache abzurunden, wurde später noch der Kreis derjenigen, die Zugang zum Gericht erhalten, verkleinert, dem Gericht selbst auch noch der Rückgriff auf Präzedenzen und Alturteile untersagt und die Zahl der Richter erhöhet, damit man durch Nachbesetzungen schneller eine parteinahe Mehrheit schaffen konnte. Absurder kann man eine demokratische Konstrollinstanz ersten Ranges kaum demolieren, ohne sie abzuschaffen. Der von Ex-Präsident Sólyom - auch ein Konservativer - eingeführte Begriff
Verfassungsputsch, ermöglicht durch eine kreativ errungene 2/3 -Mehrheit aus nicht einmal 30% des wahlberechtigten Volkes, ist hier der richtige.

Kurz, das Verfassungsgericht wurde - ganz in der Tradition von Diktaturen - von der Staatspartei zum politischen Werkzeug umfunktioniert. Dass es Richter gibt, die sich mit der ihr zugedachten Rolle nicht abfinden mochten, sollte in ihrer Natur liegen, allein fehlt es den meisten Mitgliedern des Verfassungsgerichtes heute schlicht an Charakter, dem Rest am Willen, sind sie ja ohnehin in der Mehrheit Teil des Orbán-Lagers, resultiert ihre Karriere aus ihrer Treue zum und der Gnade des Großen Vorsitzenden. Ihr Schweigen bei schwersten Verstößen gegen konstitutionelle Grundlagen, wollen sie als Berufsethos verstanden wissen, die Marginalisierung ihrer zentralen Rolle als Wächter der Grundwerte der Gesellschaft verschwindet hinter juristischer Phrasendrescherei zum Wohle des allmächtigen Parteiapparates.

Dass es sich bei dem jetzt aufgetauchten Kritiker auch noch um jenen Richter István Stumpf handelt, der nicht nur von Orbán selbst in diese Position gehievt wurde, sondern jenem während seiner ersten Regierungsperiode bis 2002 als Kanzleramtsminister diente und schon während der Studenzeit als Mentor Orbáns galt, ist von besonderer Pikanterie. Was hat Stumpf zu sagen? In einem vorab veröffentlichten Buchkapitel kritisiert er die "hunderten Gesetze", die im Zuge der neuen Ligislatur und der neuen Verfassung durch Fidesz´ "Supermehrheit" durchgebracht wurden als geeignet, die "Zweifel am Rechtsstaat" bei vielen Bürgern zu stärken. Gesetze wurden nicht einem gesellschaftlichen Ziel, sondern den Zielen der Errichtung eines neuen politischen Systems untergeordnet, sie dienten "reinen Machtinteressen", urteilt Stumpf, dessen spätes Erwachen ebenso unerklärlich ist wie das Wundern über den eingeschlagenen Weg seines einstigen Schützlings.

Stumpf will sich noch nicht festlegen, welcher Weg Ungarn Dank der neuen Garde vorbestimmt sein könnte, allerdings erkennt er als bedenklich, dass die Fidesz-Führung "Politik als Schlachtfeld" definiert, bei dem man "gnadenlos seine Mehrheit" einsetzen muss, einschließlich des "Austauschs einer freiheitlichen Verfassung durch ein Grundgesetz, dass sich auf den Schutz der Interessen einer nationalen Gemeinschaft konzentriert." (Hier geht es u.a. um den definierten Ausschluss von Minderheiten als nationenbildenden Teil Ungarns, diese sind zum staatsbildenden Teil als Menschen zweiter Klasse festgeschrieben.) Zwar habe die "Konzentration der Macht den Manövrierraum der Regierung erhöht", gleichzeitig aber "das Vertrauen in eine verfassungsgemäße Demokratie ausgehöhlt". Der Opposition sei es im Gegenzug nicht gelungen, des Volkes Unmut in Wählerstimmen umzumünzen.

Anerkennend stellt Stumpf fest, dass Orbán "beim Management der Flüchtlingskrise es auf die Bühne der Weltpolitik geschafft" habe. Nun, sicher, auch der Geisterfahrer steht ja in gewisser Weise im Scheinwerferlicht. Auf der anderen Seite habe Orbáns Politik dafür gesorgt, dass "gut ausgebildete Fachleute und viele junge Menschen das Land verlassen" haben. Bürgerliche Tugend bei den "Konservativen" sei zu "reinem Karrierismus und ungezügeltem Streben nach persönlichem Wohlstand" verkommen, während "rationale Argumente oft von Populismus bis hin zur Demagogie überschattet" werden.

 

Ob der Politiker-Richter, übrigens nicht nur mit Fidesz-Karriere, sondern früher auch Mitglied der "kommunistischen" Kádár-Partei, István Stumpf, mit diesen Sätzen etwas Konkretes bezweckt oder nur sein Gewissen rein schreiben will? So naiv, zu glauben, Orbán werde sich die Mahnungen zu Herzen nehmen, ist der 59jährige sicher nicht. Als Verfassungsrichter ist er nicht ablösbar, nicht einmal von Orbán (noch nicht!). Und vergessen wir nicht, dass er auch die meisten der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes mitgetragen hat - einigen widersprach er auch.

Wir hegen den Verdacht, dass sich Stumpf - selbst ein unverbesserlicher Karrierist - bereits für die Wahlen 2018 positionieren könnte, als Alternative des "konservativen Lagers", das unter Orbán verstummt ist, da er den Konservativismus durch Autoritarismus ersetzt hat. Das sind Verwandte zwar, aber eben nicht aus einem Ei. Stumpfs Kritik mag heute nur als kleine Episode anzusehen sein. Vielleicht wird man sich an sie als einen Zündfunken erinnern, wenn die ungarische Seifenoper dereinst zu ihrem unvermeidlichen, tragischen Ende schreitet.

red.



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