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(c) Pester Lloyd / 40 - 2016   POLITIK / WIRTSCHAFT  06.10.2016

Ernsthafte Warnung: Sperrt die EU bald sämtliche Zahlungen an Ungarn?

"Wegen schwerwiegender Defizite im institutionellen System" - eine höfliche Umschreibung für systematische, amtliche Plünderung - könnte die EU schon bald sämtliche Zahlungen an Ungarn einstellen. Mit diesem Damoklesschwert hantierte am Mittwoch das Newsportals www.portfolio.hu. Freilich blieben Ungarn viele offene Türen und Spielräume, um dieses für die Wirtschaft und Orbáns Machtstrukturen apokalyptische Szenario abzuwenden. Klar scheint aber auch, dass die EU hinsichtlich der politischen und rechnerischen Extrawürste Ungarns immer ungeduldiger wird.

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Der Artikel des unabhängigen und vor allem in EU-Belangen meist gut informierten Wirtschaftsmagazins behauptet, dass die Kommission diese "schwerwiegenden institutionellen Defizite" bei der Verteilung der EU-Gelder bereits formuliert habe und ein entsprechender Bericht dazu bald erscheine. Darauf basierend, so die nicht benannte interne Quelle, könnte die Kommission nicht nur theoretisch sofort alle Zahlungen stoppen, sondern müsste es bei Einordnung in die dritte, weil schlechteste Kategorie sogar, umgehend. Desweiteren soll auch die ungarische Regierung bereits im Bilde sein und man stehe in Verhandlungen, um das "Negativszenario" abzuwenden.

Kurzfristig könnte der Staatshaushalt einen solchen Zahlungsstopp abfedern, solange die Aussicht besteht, dass der größte Teil der in Frage stehenden Summen später gezahlt würde. Ein gänzlicher Wegfall der EU-Milliarden würde den Ruin von Ökonomie und Staat zur Folge haben. Rechnet man nämlich alle EU-Gelder und die daraus entstehenden Einnahmen und Wertschöpfungseffekte zusammen, tragen die Leistungen der Gemeinschaft, der die Budapester Regierung stets nur Böses unterstellt, zu rund einem Viertel der Wirtschaftsleistung des Landes bei, Ungarn, das seit 12 Jahren EU-Mitglied ist, ist der drittgrößte Nettoempfänger, also noch sehr bedürftig.

Seit Übergabe der Entscheidungskompetenz über EU-Projekte von einer interbehördlichen Kommmission beim Ministerium für Nationale Entwicklung an das Amt des Ministerpräsidenten, also praktisch ins Vorzimmer Orbáns, haben sich die Verstimmungen über die Abrechnungs- und Verteilungskünste der Ungarn in Brüssel stetig verschärft. Immer wieder wurden Zahlungen zu Förderprogrammen gestoppt, dann, nach Nachverhandlungen wieder freigegeben. Es ging um überhöhte Abrechnungen, intransparentes Monitoring, Verstöße gegen Ausschreibungs- und anderes Wettbewerbsrecht und zuletzt um die eigenmächtige Anhebung von Vorschusszahlungen von einer Quote von 10-30% auf bis zu 50%. Hier mehr dazu. Diese führte aktuell zum Stopp von Projekten im Wert von 650 Mio. EUR.

Bisher konnte sich Orbán auf die Kameraderie seiner Volkspartei-Kollegen verlassen, die, u.a. in Person von Regionalkommissar Hahn an den wichtigen Schalthebeln sitzen und nach einigen formalen Nachbesserungen den Zahlungsfluss verlässlich wieder freigaben, ohne dass sich grundsätzlich oder eben "institutionell" etwas geändert hätte. Ein geringer Strafabschlag, der noch zudem wieder für andere Projekte verfügbar blieb, war das höchste der Strafen, die Ungarn bisher erdulden musste. Folgt man den Argumenten des Artikels auf portfolio.hu könnte damit jetzt Schluss sein und Brüssel ernsthafte Änderungen im Verteilungs- und Monitoringsystem fordern. Das ist für Orbán vor allem deshalb misslich, weil seine Macht nur zur Hälfte auf manipulierten Massen beruht, die andere Hälfte wird von einem weitgeflochtenen Netz aus Günstlingen getragen, das gepflegt, ja geschmiert sein will.

Portfolio.hu fragt daher auch zu Recht, wo nun des Pudels Kern zu finden sei. Was unterscheidet diese EU-Warnung von den vielen zahn- und folgenlosen Reklamationen der Jahre zuvor? Wie zu vernehmen ist, werfen die Ermittler der Kommission Ungarn vor, die Verteilung und Abrechnung von EU-Projekten bewusst so zu gestalten, dass Missbrauch möglich ist.

Konkret geht es dabei darum, dass die Kommissionen, die über die entsprechenden Ausschreibungen entscheiden, direkt unter ministerieller bzw. ministerpräsidentieller Aufsicht und Weisung stehen und daher nicht in der Lage oder Willens sind, eine an ökonomischen Kriterien ausgerichtete Entscheidung zu treffen. Kurz: es steht meist vorher fest, wer den Auftrag bekommt.

Weiterhin bleibt Firmen des freien Marktes oft nichts weiter übrig als sich bei Ausschreibungen von EU-Projekten Syndikaten anzuschließen, die von regierungsnahen Institutionen, Staatsfirmen oder parteifreundlichen Unternehmen angeführt werden. All diese Verfahrensweisen oder "Gewohnheiten" verstoßen zumindest gegen das Sorgsamkeitsprinzip im Umgang mit öffentlichen Mitteln und können von der EU dauerhaft nicht geduldet werden.

Die staatlichen Verteilstrukturen von EU-Geldern nutzen für die Zuführung der Projekte in die "richtigen Kanäle" exzessiv das Mittel der Kategorisierung als "nationale Prioritäten" oder "im Interesse der nationalen Sicherheit", sowohl, um ungeliebte Mitbewerber auszuschließen als auch, um im Nachhinein eine transparente Dokumentation zu verhindern. Auf diese Weise hat man für den Finanzierungszeitraum bis 2020 bereits auf zwei Drittel der möglichen Gelder die Hand gelegt. Sämtliche Ausschreibungen wurden von der Regierung vorverlegt, um so schnell wir möglich die Gelder für die Wirtschaft zu aktivieren - oder eben späterem Ärger mit der Gemeinschaft vorzubeugen.

Einen Zugriff auf die Nutznießer, vulgo Täter des Missbrauchs an EU-Mittlen hat die EU absurderweise nicht. Der Antibetrugsbehörde OLAF bleibt nur, solchen Missbrauch zu registrieren, zu dokumentieren und (an der Öffentlichkeit vorbei!) den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu übergeben. Im Falle Ungarns einem Generalstaatsanwalt, der früher Orbán als Kabinettschef gedient hat und heute seinen Dienst als eine der juristischen Palastwachen des Großen Vorsitzenden und dessen struktureller Kleptokratie versieht.

Die EU kann also nicht mehr tun als Geldflüsse anzuhalten und auf Strukturen zu drängen, die den Betrug wenigstens eindämmen. Das wahrscheinlichste Szenario: die EU-Kommission wird Ungarn eine Art Roadmap, eine To-Do-Liste mit Zeitplan vorlegen und mit jedem erreichten Ziel einen Teil der zu blockierenden Zahlungen freigeben, so wie man einem störrischen Gaul immer wieder ein Zuckerstückchen gibt.

Im Moment aber stellen sich die ungarischen Verhandler eher an wie störrische Esel. Sie forderten bereits ein Zurückhalten des Berichtes, bemängeln kleinlich Formulierungen und weigern sich anzuerkennen, dass sie im Unrecht sind. Mehr noch, man versucht, das Problem krampfhaft auf die politische Bühne zu ziehen, als Strafmaßnahme für Orbáns Flüchtlingspolitik. Die mag zwar eine Motivation sein, warum auch nicht, das korrupte System Ungarns spricht aber letztlich für sich selbst.

Heute kündigte Regierung an, im vierten Quartal doppelt so viele EU-Mittel abrufen zu wollen wie in den ersten drei Quartalen des Jahres zusammen. Torschlusspanik! Und das Amt des Ministerpräsidenten, also der Schlund des Vulkans, legte nach, sämtliche Anschuldigungen seien schlicht: Fiktion

Die Attitüde passt natürlich ins Schema der Orbán-Nomenklatura, die ja tatsächlich überzeugt sind, dass das Land ihnen gehört und jeden, der das nicht so sieht als "Feinde Ungarn" einstuft. Wieder hofft man, dass man genug ideologische Gesinnungsbrüder innerhalb der EU-Strukturen findet, um ein weiteres Mal ungeschoren davon zu kommen. Das dürfte sich bald als Trugschluss erweisen.

Eine kleine Auswahl an Beispielen für den Missbrauch von EU-Geldern in Ungarn, die strukturelle Institutionalisierung dieses Missbrauchs und die andauernden Auseinandersetzungen mit der Kommission:

Real exsitierende Kleptokratie: Ungarn legalisiert Korruption und Amtsmissbrauch

Legalisierung des Illegalen: geschäftsmäßige, amtliche Plünderung von Fördergeldern

Sind so viele Hände...: Verschleppung und Fehlleitung von EU-Geldern für Ungarn

Vorschuss ins Leere: EU-Kommission blockiert 650 Millionen Euro für Ungarn

EU plant Straf-Flatrate gegen Ungarn, mehrere Föderprogramme suspendiert

Körner für den Geld-Hahn - Missbrauch von EU-Geldern: Ungarn speist Brüssel wieder mit ein paar Zahlen ab

Fetter Scheck für den "Siebenjährigen Krieg": EU und Ungarn unterzeichneten Vertrag über 24,5 Mrd. EUR Fördergelder

Milliarden in Orbáns Vorzimmer: Zwischen Politik und Verteilungskampf: Ungarn und die EU-Gelder

EU-Förderungen in Ungarn an Firmen ohne Umsatz

Eine Woche "Raubzug": Orbáns Ungarn zwischen "Freiheitskampf" und systematischer Plünderung des Landes

12 Euro für ein Vorhängeschloss: Opposition vermutet Amtsmissbrauch und Korruption bei Errichtung von Grenzzäunen in Ungarn

Alte Bekannte: Orbán-Günstlinge und eine Alibi-Firma teilen sich Millionen-PR-Kuchen

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